Unheilvolle Familienbande
Die kleinste Zelle der Gesellschaft kann sich als Gefängniszelle erweisen.
Familie kann Sicherheit geben, Geborgenheit, Liebe. Oder auch nicht. In ihrem Ursprung ist sie unfrei für alle diejenigen, die sich einem allmächtigen Hausherren unterzuordnen hatten. Heute gibt es alleinerziehende Mütter, Patchwork- und Regenbogenfamilien. Freier sind wir dadurch nicht geworden. Generationen durch Kriege, Gewalt und Unterdrückung traumatisierter Menschen bilden eine Art Spinnennetz, aus dessen Fäden sich nur der zu lösen vermag, der sich ihrer bewusst wird.
Vater, Mutter, Kind — auch wenn manches Kind heute mit zwei Müttern oder zwei Vätern aufwächst: Die Familie ist die Grundstruktur unserer Gesellschaft. Sie stammt von dem lateinischen Wort famulus ab: Gesinde, Sklavenschaft. Ursprünglich bezeichnete Familie den Herrschaftsbereich eines privilegierten Mannes. Die zugehörige soziale Zentralposition des Pater familias waren Herrschaftsbeziehungen, die Machtverhältnisse beziehungsweise unterschiedliche Aspekte von Machtverhältnissen anzeigten (1).
Sozialgeschichtlich ist Familie als eine real zusammenlebende Gruppe definiert, die nicht durch genealogische Beziehungen, sondern funktionale Zusammenhänge zu fassen ist. Zu keiner Zeit hatte familia die Bedeutung der heute geläufigen und aus zwei Generationen bestehenden Kernfamilie. Und selten hatte sie etwas mit Liebe zu tun. Es handelte sich vielmehr um zweckgebundene Hausgemeinschaften, die Menschen, Vieh und Güter miteinschlossen.
Erst ab Ende des 17. Jahrhunderts wurde der Begriff aus dem Französischen kommend allmählich in die deutsche Alltagssprache übernommen. Anfangs war er noch gleichbedeutend mit dem älteren Begriff Haus und bezeichnete erst später die engere Einheit der sogenannten Kernfamilie oder die weitere soziale Einheit im Sinne von Verwandtschaft. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstand mit dem Wachstum der Städte und der Entwicklung des Bürgertums in Europa eine stark normative Vorstellung der Familie, deren Echo bis heute nachhallt.
Auslaufmodell
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Konzept eines verheirateten Elternpaares mit leiblichen, unmündigen Kindern, einer lebenslangen, monogamen, heterosexuellen Ehe und einer traditionellen Rollenverteilung, wonach der Vater der Haupternährer war und höchste Autorität besaß. Mit der sogenannten sexuellen Revolution und der fortschreitenden Emanzipation der Frau veränderten sich die Familienstrukturen.
Das heutige Verständnis von Familie basiert auf der Vorstellung von Paarbildung, die wiederum auf der sexuellen Komponente von Beziehung beruht.
Vor der Ehe gehört es in unseren Breiten praktisch zum guten Ton, so viele Sexualpartner wie möglich zu haben, doch nach der Eheschließung darf es nur noch einen geben. Nach dem „Austoben“ als Single heißt das dann „Fremdgehen“ in der Ehe.
Gründungsmitglieder einer Familie sind zwei Menschen, die sich durch eine mehr oder weniger freiwillige Bereitschaftserklärung zu einer gemeinsamen Lebensführung verpflichten.
Doch auch dieses Modell erweist sich als zunehmend überholt. Die Zahl der Eheschließungen geht zurück, die Dauer der partnerschaftlichen und familiären Bindungen verkürzt sich, Singlehaushalte nehmen zu, die Haushaltsgröße schrumpft, Scheidungen werden mehr und Lebensumstände, Giftstoffe, Geschlechtsumwandlungen, materielle Not und eine allgemeine Hoffnungslosigkeit und Resignation führen zu einer massiven Senkung der Fruchtbarkeit und der Geburtenrate.
Viele Familien sind gerade in den vergangenen Jahren an Meinungsverschiedenheiten auseinandergebrochen. Eltern verstoßen ihre Kinder, Kinder brechen den Kontakt zu den Eltern ab. Die Menschen werden sich zunehmend darüber bewusst, wie sie in ihrer Kindheit traumatisiert worden sind, ohne dafür einen Krieg erlebt haben zu müssen, und elterlicher Narzissmus ist zu einem Brandthema geworden, von dem sich immer mehr Menschen betroffen fühlen.
Hohe Erwartungen
Im christlichen Weltverständnis gilt Familie weiterhin als Urzelle des gesellschaftlichen Lebens. Die Pflicht des Kindes ist es, den Eltern zu gehorchen, sie zu achten und zu ehren und zu versuchen, ihnen Freude zu bereiten. Ein Gebot an die Eltern, ihre Kinder zu achten, gibt es nicht. So plagen sich viele bis heute mit dem schlechten Gewissen, ihre Eltern nicht zufriedengestellt zu haben, und versuchen teilweise bis ins hohe Alter, das Verpasste wieder gutzumachen.
Als Kind können wir ohne eine Mutter, die uns nährt, und einen Vater, der uns schützt, nicht überleben. Entsprechend tun wir alles, um ihnen zu gefallen und nicht aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Die sozialen Wesen, die wir sind, brauchen es, anerkannt, respektiert und geliebt zu werden. Das erhoffen wir uns vor allem von den eigenen Eltern. Wenn es nicht die Mutter ist, die uns bedingungslos liebt, und der Vater, der stolz auf uns ist, wer dann?
Umso schmerzhafter und verheerender ist es, wenn dieses Ideal nicht realisiert wird. Wenn die Kernfamilie das Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe nicht erfüllt, bleibt vielen nur, sich wertlos und unglücklich zu fühlen und den Mangel mehr schlecht als recht auszugleichen. Wenn Mutter und Vater wegfallen, ist das Kind ganz allein, auch wenn es bereits erwachsen ist. So führt das Konstrukt der Kleinfamilie immer wieder zu überforderten Eltern und liebeshungrigen Kindern, die niemals satt werden.
Strukturen des Leidens
Das Ideal der Familie ist einer der Hauptglaubenssätze des Patriarchats. In der vorpatriarchalen Zeit gab es die Institutionen Familie und Ehe nicht. Bevor sich die Familie als kleinste soziale Zelle durchsetzte, lebten die Menschen in mütterlichen Fürsorgegruppen zusammen. Matrifokale Gesellschaften, in denen, wie in den Tierreichen, das Mütterliche im Zentrum stand, waren nicht auf Dominanz, Kriege und Eroberungen ausgerichtet.
Erst mit dem Patriarchat, das sich vor etwa 6.000 Jahren durchsetzte, entstanden Herrschaftssysteme und Unterdrückung. Famulus, die Sklavenschaft, ist auf Unfreiheit und die Ausübung von Gewalt aufgebaut.
Der Ursprung der Familie ist Macht. Nicht Liebe. Frauen und Kinder galten nicht mehr als das Vieh und hatten keine Rechte. Auch wenn sich das geändert hat: Dem Konstrukt Familie haftet etwas Schweres, Unheilvolles an, etwas, was es nicht verhindert hat, dass wir uns seit Jahrtausenden gegenseitig bekriegen.
Mag es auch Familien geben, deren Mitglieder sich in Respekt und Liebe begegnen und in denen wie in vorpatriarchaler Zeit die Fürsorge im Mittelpunkt steht: In den kleinsten Zellen der Gesellschaft wird nicht unsere Fähigkeit entwickelt, in Frieden miteinander zu leben. Nicht nur die Clans bekämpfen sich gegenseitig. Innerhalb der Familie gibt es mehr oder weniger versteckte Machtstrukturen, die es den einen erlauben, sich über die anderen zu erheben.
Eltern halten sich für moralisch unfehlbar oder glauben, ihre Kinder gehörten ihnen; Kinder suchen ein Leben lang vergeblich nach Liebe und Anerkennung; Geschwister bekämpfen sich gegenseitig. In der Familie kommen unsere edelsten und unsere niedrigsten Eigenschaften zum Vorschein. Nirgends werden wir so tief verletzt und nachhaltig geprägt wie hier. Oft gibt es dort, wo Liebe sein sollte und wo wir uns nichts sehnlicher wünschen, als vorbehaltlos angenommen zu sein, Härte, Kälte, Eifersucht, Neid, Lüge und Hass.
Versteckte Gewalt
Die meisten Eltern sind nicht auf ihre Aufgabe vorbereitet, ihre Nachkommen beim Sich-Entfalten zu begleiten. Die anfängliche Frucht der Liebe wird oft schon dann abgewiesen, wenn sie ein Eigenleben entwickelt und nicht dem entspricht, was man sich vorgestellt hat. Mit der Enttäuschung beginnen die Misshandlungen, die sich nicht in blutigen Striemen und blauen Flecken äußern müssen, sondern auch in Form von Abweisung, Demütigung, Übergriffigkeit, Ungerechtigkeit, Verlassen, Verrat oder Lieblosigkeit.
Eine Mutter, die ihrem Kind nicht zugesteht, eigene Empfindungen und Wahrnehmungen zu haben, die ihm das Wort im Munde verdreht, die nichts gelten lässt, was sie nicht für gut befindet, die es mit Schweigen straft und ihm alle Schuld zuschiebt, ist gewalttätig.
Ein Vater, der sich nicht für sein Kind interessiert, der die meiste Zeit abwesend ist, der es mit Verachtung straft und ihm keine Entwicklungsmöglichkeiten bietet, übt Gewalt auf den heranwachsenden Menschen aus.
Wohl den meisten ist das nicht bewusst. Eltern lieben doch ihre Kinder. Die Familie ist doch ein Hort der Geborgenheit. Doch nein, so ist es nicht. So war es von Anfang an nicht angelegt. Und so ist es nicht geworden. Eltern vergehen sich an ihren Kindern. Sie gehen über ihre Bedürfnisse hinweg, lügen sie an und lassen sie allein. Wenn Kindesmissbrauch, Pädokriminalität und Zirkel ritueller Gewalt sich heute derart durchgesetzt haben, dann stehen Eltern dahinter, die ihre Kinder verraten und verkaufen.
Kein Ort des Friedens
Welche Mutter bildet sich nicht ein, bestimmte Rechte und Ansprüche auch auf die längst erwachsene Tochter zu haben? Welcher Vater ist ohne Erwartungen gegenüber seinem Sohn? Welche Eltern lassen ihre Kinder sich frei entfalten, nicht gebunden an eigene Wünsche, an das, was sie selbst nicht im Leben vollbracht haben? Wer hat es gelernt, sich vor seinem Kind nicht zu verstellen und wirklich ehrlich zu sein? Wer hat nicht gelogen, um eigene Schwächen zu verbergen? Wer hat nicht versucht, zu erniedrigen, um sich selbst größer zu fühlen?
Welcher Vater hat dafür gesorgt, dass seine Kinder ein Rückgrat bekommen, aufrichtig für sich selbst stehen und sich nicht jeder Mode, jeder von oben verordneter Maßnahme, jeder Hysterie anschließen? Welcher Vater hat die Familie um einen Tisch zusammengebracht, wenn es Probleme gab? Welche Eltern haben ihre Kinder dabei begleitet, sie selbst zu sein? Welche Eltern haben es gelernt, gewaltfrei zu kommunizieren, Ich-Botschaften zu senden, anstatt anzuschuldigen, und Konflikte auf respektvolle Weise zu lösen, bei der alle zu Wort kommen und geachtet werden?
Hätten wir heute eine Gesellschaft von Normopathen und Traumatisierten, wenn wir aus heilen Familien kämen?
Wie viele Eltern kommen nicht mit ihren Kindern zurecht? Wie viele Kinder werden zu Eltern, die wiederum ihre Kinder traumatisieren, weil sie es nicht gelernt haben, zu sich selbst zu stehen und nicht von anderen zu erwarten, ihnen zu geben, was sie nicht haben? Wo wird über diese Probleme gesprochen? An welcher Schule lernen wir es, gesunde Gemeinschaftsformen zu bilden, die die Basis bilden für eine große, friedliche Gemeinschaft?
Menschheitsfamilie
Kranke Familien bilden kranke Gesellschaften. Wir haben ein Konglomerat unreifer, überforderter, traumatisierter Eltern, die ihrerseits unreife, überforderte, traumatisierte Kinder und zukünftige Eltern hervorbringen und bereit sind, Vater Staat die Rolle des Erziehenden, Schützenden, Fürsorgenden zu überlassen. Anstatt uns damit auseinanderzusetzen, was Mütterlichkeit bedeutet, werden Mütter abgeschafft. Anstatt uns Gedanken darüber zu machen, was es bedeutet, weiblich oder männlich zu sein, lassen wir diese Fragen im Gender-Mainstream untergehen und verlagern das Kinderkriegen in die Labore der Transhumanisten.
Gleichzeitig bietet uns das Ende der traditionellen patriarchalen Kleinfamilie die Gelegenheit, die Familienzellen aufzulösen und Gemeinschaft neu zu erfinden. Biologisch gehören wir zur Gattung Homo und zur Familie der Menschenaffen. Demnach gibt es nur eine Familie, zu der wir alle gehören. Der Historiker und Friedensforscher Daniele Ganser spricht von einer Menschheitsfamilie und übernimmt damit einen Begriff, der von Mahatma Gandhi, Rudolf Steiner, Benedict XVI oder auch Kofi Annan geprägt wurde (2).
Um Krieg gegeneinander zu führen, werten wir uns ab und schließen uns gegenseitig aus der Familie aus. Frauen wurden als „Hexen“ bezeichnet, Vietnamesen als „Termiten“ oder Japaner als „Affen“ und „gelbe Zwergsklaven“, bevor man sie massenhaft tötete. Auch in Gaza, so reden es sich die Mörder ein, sterben keine Menschen ... Doch es sind Menschen. Menschen, die zur selben Familie gehören. Es sind unsere Brüder und Schwestern, die gequält und massakriert werden.
Um das zu verhindern, müssen wir von vielen kleinen zu einer großen Familie werden. So groß, dass es auf keiner Seite mehr einen Feind gibt, so groß, dass niemand mehr ausgeschlossen, abgewertet und getötet werden kann.
Es gibt kein Außen. Es ist ein Trugschluss zu denken, irgendjemand gehörte nicht dazu. Wir gehören alle dazu. Wir alle kommen aus derselben Einheit. Wenn wir das begreifen, ist alles in Ordnung.
Erst das Abwerten, das Unterdrücken, Dominieren und Ausschließen haben alles krank und kaputt gemacht.
Liebe als Ursprung
Wer sich auf diesen Gedanken einlässt, bekommt einen roten Faden in die Hand, an dem er sich orientieren kann. Er wird nicht bei acht Milliarden Menschen ansetzen, sondern bei sich selbst. Wo werte ich ab? Wo schließe ich aus? Wo taste ich die Würde eines anderen Menschen an? Er beginnt damit, auf die Suche zu gehen, wer er wirklich ist, und in sich selbst für Frieden zu sorgen. Das ist die höchste Aufgabe, die ein Mensch erfüllen kann.
Er erinnert sich an seinen heilen, heiligen Ursprung und daran, dass er aus der Liebe kommt. Er erkennt, dass er sein Gegenüber zu seinem Feind gemacht hat, um in ihm das zu bekämpfen, was er ins sich selbst nicht sehen kann oder will. Er wehrt sich nicht mehr zu sehen, wie krank die Gesellschaft und vielleicht seine eigene Familie ist. Nicht um ihnen den Todesstoß zu versetzen, sondern um sie dank der Erkenntnis heilen zu lassen.
Hierfür muss er nichts Besonderes tun. Er muss es nur zulassen und dem Lebensstrom keine Widerstände entgegenstellen. In dieser Haltung tritt er hinaus in die Welt. Er lässt Mutter und Vater hinter sich. Ihre Aufgabe ist es nicht, uns im Wege zu stehen, sondern uns den Rücken zu stärken in den Entscheidungen, die wir eigenmächtig und selbst-bewusst treffen.
Wir gehören nicht unseren Eltern. Wir alle kommen aus derselben Quelle. Wir alle haben die gleiche Mutter, den gleichen Vater. Wir alle sind gewollt, so gewollt, wie wir sind, richtig so, wie wir sind. Wir alle sind Kinder der Liebe. Wir haben es nur vergessen, seit die Familie die große Mutter verdrängt hat und nur ein großer Vater übrigbleib. Nun dürfen beide wieder zusammenfinden. Es geschieht, wenn wir unser Herz dafür öffnen. Dann kann die Quelle wieder fließen, und wir werden gesund.