Unsichtbare Gewalt

Im Rubikon-Exklusivinterview erläutert die Psychotherapeutin Lucia Völlinger, dass narzisstischer Missbrauch in Partnerschaften wie Familien ein totgeschwiegenes Massenphänomen darstellt, das schwerste seelische Wunden zu zeitigen vermag.

Ein erheblicher Teil der Gesellschaft trägt unsichtbare Narben mit sich herum. Unsichtbar, da es die Seele ist, in der die Narben zu finden sind. Deren Ursache hat zwar einen klaren Namen, wird jedoch selten bei diesem genannt: narzisstischer Missbrauch. Narzisstische Persönlichkeiten unterschiedlichster Art finden sich in allen gesellschaftlichen Milieus und Positionen. Aufgrund schwerster Traumatisierungen in der eigenen Kindheit zapfen sie die Energie von Menschen in ihrem sozialen Umfeld ab. Die dabei zur Anwendung kommenden Manipulationsmechanismen vergiften sämtliche soziale Beziehungen, sei es die partnerschaftliche, die zwischen Eltern und Kind oder die im beruflichen Umfeld. Die Therapeutin Lucia Völlinger ist mit diesem tabuisierten Phänomen durch jahrelange Berufserfahrung bestens vertraut und zieht im Gespräch mit Jens Lehrich eine verheerende Bilanz bezüglich der gesellschaftlichen Sensibilität für dieses Problem — also der täglichen Produktion und Reproduktion von Täter-, Opfer- und Gewalterfahrungen.

In der klassischen Psychotherapie wird der Bereich „Narzissmus“ oftmals weder wirklich verstanden noch sinnvoll bearbeitet, wie Lucia Völlinger zu berichten weiß:

„Psychologen und Psychiater sind (...) mit der Symptomatik (meist) völlig überfordert, weil es so vielfältig und schwer einzuordnen ist. Und letzen Endes funktionieren die Dynamiken im narzisstischen Umfeld immer genau umgekehrt, nichts entspricht ‚dem Lehrbuch‘. Oft wird den Betroffenen nicht geglaubt. Viele erzählen mir, dass in den Therapien der Satz kam: ‚Jetzt bleiben Sie mal bei sich, was ist denn Ihr Anteil daran?‘. Das verstärkt dann nur noch mehr die Schuldgefühle und die Selbstzweifel der Betroffenen und ist völlig kontraproduktiv.“

Dabei sind allein die Schäden, die narzisstische Gewalt in Erwachsenen-Beziehungen anzurichten vermag, immens:

„Solche Traumabeziehungen lassen nichts mehr von uns über: Das eigene Leben (Freundschaften, berufliche Entwicklung, die Gestaltung des Lebensweges etc.) und das Glück bleiben auf der Strecke. Zudem können Betroffene unter ganz unterschiedlichen seelischen und körperlichen Folgen leiden, denn sie sind dauerhaft Stress ausgesetzt. (...) Eine ganz typische Folge von narzisstischem Missbrauch ist eine Depression. Es können aber auch körperliche Erkrankungen wie Entzündungserkrankungen entstehen. Einige leiden auch am Fatigue-Syndrom. Sie sind also dauerhaft bis zur Arbeitsunfähigkeit müde und abgeschlagen. Es gibt auch Situationen, in denen Betroffene in den Selbstmord getrieben werden.“

Dennoch gelten Leidtragende, die aufgrund einer toxischen Beziehung zu ihren Eltern eben deren Missbrauch an sich selbst später etwa in Partnerschaften reinszenieren und sich somit in einem Teufelskreis aus Ohnmacht, Hilflosigkeit und emotionaler Gewalt zu verlieren drohen, oftmals schlicht als „austherapiert“ — denn Hilfe, die vor allem auf eine Anpassung an ein krankmachendes Umfeld orientiert, ist blind für das, was wirklich geschieht.

Völlinger legt im Interview dar, welche Typen sogenannter Narzissten es gibt, wie die — oft wohl unbewusst angewandten — Manipulationsmechanismen funktionieren, wie sich der Narzissmus über Generationen weitervererbt und woran es im gegenwärtigen Gesundheitssystem mangelt, um diesem Phänomen begegnen zu können. Das wäre dringend erforderlich, denn es stellt die Wurzel zahlreicher Gesellschaftsprobleme dar.

Aus eigener Erfahrung weiß die Ermutigungstrainerin zu berichten, dass Opfer von Narzissten dazu imstande sind, ihre teils jahrelange Unterdrückung radikal aufzuarbeiten. Dann kommen sie in ihre eigene Kraft und erlangen wieder Zugang zu jenen Persönlichkeitsanteilen, die sie durch die narzisstische Gewalt aufzugeben und abzuspalten gezwungen waren.


YouTube: Jens Lehrich im Gespräch mit Lucia Völlinger


Odysee: Jens Lehrich im Gespräch mit Lucia Völlinger


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