Unsichtbare Gitterstäbe

Tabus sanktionieren Verhaltensweisen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle — daher werden sie von Machtgruppen gezielt zur Volkserziehung kreiert.

Haben Sie schon einmal das Wort „Indianer“ benutzt? „Flüchtling“? „Zigeunerschnitzel“? Haben Sie eine Rede mit „Meine Damen und Herren“ begonnen und damit trans- und intersexuelle Personen beleidigt? Haben Sie laut die Meinung geäußert, nicht alles, was von AfD-Politikern gesagt werde, sei schlecht? Oder: das Bombardement des Gazastreifens durch die israelische Armee mit mittlerweile 50.000 Opfern sei Völkermord? Oje, wenn Sie so drauf sind, müssen Sie noch schwer an sich arbeiten. Auf keinen Fall dürfen Sie so bleiben, wie Sie sind. Und wenn Sie schon unbedingt so denken müssen — achten Sie darauf, dass es Ihr Geheimnis bleibt. Alles, was hier aufgezählt wurde, sind nämlich Tabus. Und die Übertretung wird von selbst ernannten Wächterräten der Korrektheit streng geahndet. So wie Verwandteninzest bei diversen indigenen Stämmen: durch Ausstoßung aus der Gemeinschaft. Der Wiener Psychiater Raphael Bonelli hat ein neues Buch über Tabus und deren Funktion in politischen Auseinandersetzungen geschrieben. Letztlich geht es, wie so oft, um die Kontrolle des Denkens, Sprechens und Handelns durch chronisch „hochsensible“ Machthaber. Bonelli beruft sich dabei auch auf die psychoanalytische Vorarbeit eines noch bekannteren österreichischen Kollegen.

„Tabu bedeutet im Allgemeinen verboten.“ So schrieb es der britisches Weltumsegler James Cook 1777 in sein Tagebuch. Mit seinem Schiff „Resolution“ hatte der Kapitän auf den Tonga-Inseln, östlich Australiens, geforscht und war in Berührung mit Einheimischen gekommen, die — aus europäischer Sicht — seltsame Bräuche pflegten. Der Wiener Psychiater Raphael Bonelli, bekannt geworden auch durch kritische Videos zu aktuellen politischen Ereignissen, verwendet die Episode als Ausgangspunkt für sein neues Buch „Tabu. Was wir nicht denken dürfen und warum.“

Der Anlass für Bonellis Gedankenarbeit war nicht wissenschaftliches Interesse an polynesischer Ethnologie. Eher verweist sein völkerkundlicher Exkurs auf das Deutschland und Österreich des frühen 21. Jahrhunderts und auf einige befremdliche Verhaltensweisen unserer Zeitgenossen. Raphael Bonelli ist aufgefallen, dass von der Norm abweichende sexuelle Verhaltensweisen mittlerweile sehr freizügig dargestellt und ausgelebt werden. Aber „Blackfacing, Vaterlandsliebe, Deadnaming, Misgendern, ‚Leugnen‘ des Klimawandels, Zigeunerschnitzel, Bodyshaming, der Unterschied zwischen Mann und Frau, Mohr im Hemd, religiöse Einstellungen oder das ‚N-Wort‘ sind in der Zwischenzeit dermaßen schambehaftet, dass Letzteres selbst in einem Buch über Tabus nicht ausbuchstabiert werden kann“.

Ekel und Ehrfurcht

Zweifellos: Bonelli hat hier aus konservativer Perspektive notiert, was Sprachpolizisten, sorry: -polizistInnen, heutzutage alles tabuisieren, seiner Meinung nach aber nicht tabuisieren sollten.

Sind „Wokeness“-Apostel aus dem linken Milieu also die polynesischen Ureinwohner unserer Zeit — sich vor Schatten fürchtend und aus scheinbar nichtigem Anlass in Geschrei ausbrechend?

Raphael Bonelli definiert das Tabu jedenfalls griffig: „Im Kern deutet Tabu auf etwas Unaussprechliches hin — etwas, das aus instinktiven, vorrationalen Haltungen des Ekels oder auch der Ehrfurcht hervorgeht.“ Eine „seltsame Ambivalenz“ zeichne das Tabu aus:

„Zum einen meint es das Heilige, Reine und Erhabene, zum anderen das genaue Gegenteil, nämlich das zu Meidende, Unreine und Falsche. Beiden Wahrnehmungen gemeinsam ist, dass sie Abstand zum tabuisierten Objekt verlangen.“

Praktische Beispiele: Wir betreten in Kirchen nicht einfach den Altarraum (Ehrfurcht), wir halten aber auch Distanz zu Kadavern und Fäkalien (Ekel). Auf die politische Sphäre angewandt: Wir verhöhnen niemals ein Mitglied der Bundesregierung (Ehrfurcht), aber wir grüßen auch grundsätzlich nicht, wenn wir ein AfD-Mitglied im Aufzug treffen (Ekel).

Der Psychoterror der Entrüsteten

Zweifellos ist der mit dem Wort „Tabu“ verbundene Ansatz im Zusammenhang moderner Korrektheitsregeln fruchtbar, handelt es sich doch um ein System der gesellschaftlichen Sanktionierung von angeblichem Fehlverhalten, das „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vorkommt“, wie es Ex-Familienministerin Lisa Paus einprägsam formuliert hatte.

Es ist eigentlich nicht verboten, aber „irgendwie“ wissen anständige Menschen doch instinktiv, dass es nicht erlaubt ist. Und es kann auch sanktioniert werden. Durch den Psychoterror der Entrüsteten zum Beispiel, durch ein zermürbendes Dauerfeuer missbilligenden Feedbacks, letztlich sogar durch den sozialen Tod, den Ausschluss aus der Gemeinschaft.

So gesehen waren Tabus kaum jemals und kaum irgendwo relevanter als gerade in den „entwickelten“ Gesellschaften unseres Jahrhunderts.

Bevor wir uns den Gräueln zeitgenössischer Wokeness zuwenden, lohnt es sich aber, den Ursprüngen des Begriffs „Tabu“ noch etwas tiefer auf den Grund zu gehen. Raphael Bonelli sitzt bei diesem Thema auf den Schultern eines Riesen: des ebenfalls aus Österreich stammenden Vaters der Psychoanalyse Sigmund Freud. In seiner Essaysammlung „Totem und Tabu“ beleuchtete Freud 1913 „einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“. Beide Begriffe klingen, bezogen auf die Erschaffer moderner Tabus, nicht gerade schmeichelhaft.

Der Klassiker Inzest mit Verwandten

Sigmund Freud beschreibt — wie es für ihn typisch ist — besonders ausführlich sexuelle Tabus bei „Naturvölkern“; so eine Reihe von Regeln zur Vermeidung des Geschwisterinzests auf den Leper‘s Islands, Melanesien.

„Begegnen sich Bruder und Schwester zufällig im Freien, so muss sie weglaufen oder sich seitwärts verstecken. Wenn der Knabe gewisse Fußspuren im Sande als die seiner Schwester erkennt, so wird er ihnen nicht folgen, ebenso wenig, wie sie den seinigen. Ja, er wird nicht einmal ihren Namen aussprechen.“

In Papua-Neuguinea war die Strafe für den Inzest von Bruder und Schwester der Tod durch Erhängen.

„Tabu“ ist auch eine andere, enge Verwandte des Mannes.

„Auf den Salomon-Inseln darf der Mann von seiner Heirat an seine Schwiegermutter weder sehen noch mit ihr sprechen. Wenn er ihr begegnet, tut er nicht, als ob er sie kennen würde, sondern läuft, so schnell er kann, davon, um sich zu verstecken.“

Mit großer Wahrscheinlichkeit diente dieses Tabu nicht der Vermeidung quälender Gespräche mit schwierigen älteren Damen, sondern der Inzestvermeidung.

Unbegründet und dennoch machtvoll

Aggressive Ablehnung und Vermeidung einer Person ist bei Sigmund Freud stets ein in sein Gegenteil gewendetes Begehren. Bis heute beeinflusst das Inzesttabu das Verhalten von Verwandten untereinander, wenn auch meist auf eher indirekte Weise. Bruder und Schwester sind füreinander, wenn die Geschlechtsreife einsetzt, im wahrsten Sinn des Wortes „naheliegende“ Objekte des Begehrens. Sie liegen vielleicht wirklich nahe beieinander, und Liebe auf emotionaler Ebene ist gesellschaftlich nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. In der Folge findet man zwischen Geschwistern oft ein überkompensierendes Verhalten, gegenseitige Neckerei, Streit, harmlose, eher scherzhaft gemeinte körperliche Angriffe — oft auch ein auffälliges Ausweichverhalten.

So gibt Sigmund Freud einerseits an:

„Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben.“

Andererseits nennt er explizit eine Reihe von plausiblen Gründen für ihre Existenz wie „Sicherung der Schwachen“, „Schutz menschlicher Wesen gegen die Macht oder den Zorn der Götter“, „Behütung ungeborener und kleiner Kinder gegen die mannigfachen Gefahren“.

„Wie ein elektrisch geladener Zaun“

Interessant ist Freuds Versuch einer „physikalischen“ Umschreibung von Tabus:

„Personen oder Dinge, die tabu sind, können mit elektrisch geladenen Gegenständen verglichen werden; sie sind der Sitz einer furchtbaren Kraft, welche sich durch Berührung mitteilt …“

Man denkt dabei unwillkürlich an die dem Virus zugeschriebene Gefahr durch Ansteckung. Und auch das Verhalten von dem Tabu unterworfenen Volksstämmen gleicht modernen, domestizierten Gesellschaften — etwa in den Coronajahren.

„Es handelt sich also um eine Reihe von Einschränkungen, denen sich diese primitiven Völker unterwerfen; dies und jenes ist verboten, sie wissen nicht warum, es fällt ihnen auch nicht ein, danach zu fragen, sondern sie unterwerfen sich ihnen wie selbstverständlich und sind überzeugt, dass eine Übertretung sich von selbst auf die härteste Weise strafen wird.“

Es entstehen unsichtbare „No-go-Areas“, durchsichtige Zäune und Mauern. Ich denke dabei an eine Aussage meines Fahrlehrers vor etwa 40 Jahren: Durchgezogene Striche auf der Fahrbahn sollten ebenso respektiert werden, als stünde da eine Mauer. Der Respekt vor der unsichtbaren Schranke mag in vielen Fällen tatsächlich vor Unfällen schützen, in anderen hilft sie nur, das Missfallen der Verkehrsüberwachung zu vermeiden. Raphael Bonelli vergleicht die Wirkungsweise von Tabus mit der Konditionierung durch Stromstöße, wie sie etwa in George Orwells Roman „1984“ drastisch beschrieben wird. Der Konditionierte wird die Benutzung eines verbotenen Wortes „in Zukunft unterlassen, weil er Ungemach vermeiden will“.

Ansteckende Nichtswürdigkeit

Interessant ist eine weitere von Sigmund Freud angeführte Qualität von Tabus: Sie sind ansteckend. Wer Tabus übertritt, wird für andere dadurch selbst tabu.

„Das Sonderbarste daran ist wohl, dass, wer es zustande gebracht hat, ein solches Verbot zu übertreten, selbst den Charakter des Verbotenen gewonnen, gleichsam die ganze gefährliche Ladung auf sich genommen hat.“

Man kann dabei an moderne Formen des Kontaktschuldvorwurfs denken. Jemandem wird zur Last gelegt, Putin verstanden zu haben, bei Ken Jebsen in einer Talkshow gewesen zu sein, ein Interview mit Björn Höcke gelesen oder sich von Xavier Naidoo nicht eindringlich genug distanziert zu haben. Die elektrische Ladung der Nichtswürdigkeit kann so überspringen.

Diese Dynamik finden wir bei Naturvölkern auch in ihrer spirituellen Variante. Tabus entspringen nicht zuletzt „der Furcht vor der Wirkung dämonischer Mächte“. Es gehört zur Methode des eher areligiös veranlagten Sigmund Freud, das Reden von Dämonen, Göttern und Geistern nicht wirklich ernst zu nehmen, sondern die Ursachen eines Phänomens eher innen, in der Psyche des Einzelnen aufzuspüren. Beim Tabu liegt für ihn zudem die Analogie einer Zwangserkrankung nahe. Jemand tritt morgens beim Aufstehen immer zuerst mit dem rechten Fuß auf, weil er glaubt, es bringe Unglück, dies mit dem linken zu tun. Die „auffälligste Übereinstimmung der Zwangsverbote (bei den Nervösen) mit dem Tabu besteht nun darin, dass diese Verbote ebenso unmotiviert und in ihrer Herkunft rätselhaft sind“.

Wenn wir es uns nicht wünschen würden, wäre es nicht verboten

Eine ganz wesentliche und für den Ansatz Sigmund Freuds typische Erkenntnis ist natürlich jene, die sich schon bei den Ritualen zur Vermeidung des Geschwisterinzests aufdrängt. Was wir tabuisieren, wünschen wir uns insgeheim. Verboten wird nur, wozu Menschen von sich aus neigen, was sie aber gemäß der „höheren“ Erkenntnis der Gesetzgeber und Tabuschöpfer niemals ausagieren dürfen. „Der Erfolg des Verbotes war nur, den Trieb — die Berührungslust — zu verdrängen und ihn ins Unbewusste zu verbannen.“ Einleuchtend ist Sigmund Freuds Erklärung, Völker, in denen Tabus herrschten, hätten zu diesen Verboten eine durchweg ambivalente Einstellung:

„Sie möchten im Unbewussten nichts lieber als sie übertreten, aber sie fürchten sich auch davor; sie fürchten sich gerade darum, weil sie es möchten, und die Furcht ist stärker als die Lust.“

Bei der Betrachtung historischer Verbote und Tabus finden wir zugleich eine Liste dessen, wozu Menschen fähig waren und sind, worauf sie Lust hatten und haben. Das Buch Levithikus aus der Bibel gebietet zum Beispiel: „Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten nähern, um ihre Scham zu entblößen. Ich bin der Herr.“ Im Detail sollen sich Gläubige fernhalten von ihrem Vater, ihrer Mutter, ihren Geschwistern, den Enkelinnen und Enkeln sowie Schwiegereltern, Tanten und Onkeln, Schwiegerkindern und anderen. Menstruierenden Frauen sollte man sich nicht nähern. Verboten ist definitiv auch die Homosexualität: „Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel.“ Und gleich als nächstes folgt das Verbot sexueller Kontakte zu Tieren. Gott war in alten Zeiten nicht unbedingt „lieb“ und drohte mit drastischen Konsequenzen: „Alle nämlich, die irgendeine dieser Gräueltaten begehen, werden aus der Mitte ihres Volkes ausgemerzt.“

Übertretung darf sich nicht lohnen

Ob wir das „zu hart“ finden, hängt wohl von der Schwere der jeweiligen Verfehlung ab. Sexuelle Handlungen an Kindern müssen tabuisiert sein, bei Homosexualität neigen wir eher dazu, das Tabu zu verdammen anstatt die Tat. In unserem Kontext geht es überwiegend um „künstliche“ Tabus, also um solche, deren Sinn nicht unbedingt einleuchtet. Die Motive der Mehrheitsgesellschaft, eine rigide Haltung gegenüber Übertretungen einzunehmen, ist laut Sigmund Freud die „Angst vor dem ansteckenden Beispiel, vor der Versuchung der Nachahmung, also vor der Infektionsfähigkeit des Tabu. (…) Wenn einer es zustande gebracht hat, das verdrängte Begehren zu befriedigen, so muss sich in allen Gesellschaftsgenossen das gleiche Begehren regen; um diese Versuchung niederzuhalten, muss der eigentlich Beneidete um die Frucht seines Wagnisses gebracht werden …“

Weiter neigen Tabus dazu, ihren Gültigkeitsbereich immer weiter auszudehnen. Die dem Tabu Unterworfenen suchen nach Möglichkeiten der Umgehung, woraufhin die Tabuwächter versuchen, solche möglichen Lücken in der Mauer zu schließen. Nach Freud:

„Jeden neuen Vorstoß der verdrängten Libido beantwortet das Verbot mit einer neuen Verschärfung.“

Wenn wir statt sexueller Verbote hier solche betrachten, die mit Meinungsäußerungen zusammenhängen, können wir die Ausweitungstendenz des Tabus anhand vieler moderner Beispiele beobachten.

Eiertanz um das „N-Wort“

So wurde nach dem abschätzigen Begriff „Nigger“ in jüngerer Zeit auch die Bezeichnung „Neger“ als unsagbar gebrandmarkt, welche Sigmund Freud und übrigens auch Martin Luther King („negro“) zu ihrer Zeit noch freimütig ausgesprochen hatten. Wo sich Menschen durch eine Bezeichnung verletzt fühlen könnten, schreckt auch Raphael Bonelli vor dieser zurück. Nach und nach dehnte sich das Tabu dann auch auf „Farbige“ aus, welche nur noch in englischer Sprache als solche benannt werden könnten („of colour“). Bezeichnungen wie „schwarzmalen“, „Schwarzafrika“ und ähnliche wurden obsolet, selbst der Begriff „Schwarzer“ kann heute fast nur noch mit dem Zusatz „Mensch“ angeführt werden: „Schwarze Menschen“ — als sei jemals in Zweifel gestanden, dass es sich um Angehörige der menschlichen Spezies handle und als müsste dies zur Selbstvergewisserung immer aufs Neue beschworen werden.

Nach der Bezeichnung „Behinderter“ wurde dann selbst der „behinderte Mensch“ tabu, stattdessen muss es heißen: „Mensch mit Behinderung“ — wobei es verwundert, dass sich der „Mensch mit Schwärze“ bisher noch nicht durchsetzen konnte. Auffallend bei „Neger“ ist, dass der Begriff nicht einmal mehr in zitierender Form — also quasi in Anführungszeichen — ausgeschrieben wird. Es war ja bisher durchaus üblich gewesen, hässliche und diskriminierende Bezeichnungen zu benennen — etwa den fürchterlichen Begriff „rassenbiologisch minderwertig“, den die Nazis kreierten —, was nicht damit gleichzusetzen ist, dass man diese gut findet oder selbst kritiklos verwendet.

In neu-korrekten Zeiten führt das Wort „Neger“ nun allerdings ein Schattendasein und wird nicht-rassistischen Menschen gerade durch die verkrampfte Verdeckung mittels der Konstruktion „N-Wort“ andauernd aufgedrängt. Selten, vermute ich, hat sich das betreffende Wort so häufig unwillkürlich in den Köpfen vieler Menschen geformt wie gerade in der Ära seiner beflissenen Tabuisierung.

Tabukritik mit konservativer Färbung

Raphael Bonelli hat sich das Verdienst erworben, in seinem Buch viele Beispiele für moderne Tabus aufzuführen, was wertvoll ist, weil die politische Agenda zu Lebzeiten Sigmund Freuds ja noch eine ganz andere war. Dabei nimmt Bonelli eine konservative Perspektive ein, geißelt etwa das von ihm so empfundene Tabu, eine Migrationsdynamik zu kritisieren, die dazu führt, dass der demografische Wandel die kulturelle Identität Europas unweigerlich verändern dürfte.

„Das traditionelle Europa ist also im Untergang begriffen. Doch dieser Umstand darf in Debatten über Migration nicht laut gesagt werden.“

Weiter sei es tabuisiert, auszusprechen, dass Abtreibung menschliches Leben zerstöre. Bonelli erwähnt ein krudes Beispiel: Anwohner in der Nachbarschaft einer Abtreibungsklinik hätten von der Regierung einen Brief bekommen, in dem ihnen nahegelegt wurde, „Aktivitäten innerhalb ihrer eigenen vier Wände zu unterlassen, die von außen hörbar seien — zum Beispiel ein Gebet — und so eine abtreibungswillige Passantin zum Nachdenken bringen könnten“. Wenn das so stimmt, ist es ein drastischer Eingriff in die Meinungs- und Religionsfreiheit — unabhängig davon, ob man das Recht auf Abtreibung begrüßt oder ablehnt.

Religion selbst, so Bonelli, sei mittlerweile tabuisiert.

„Das Religiöse stört. So erklären manche zeitgeistinspirierte Medien praktizierende Christen prinzipiell für vogelfrei, während sie peinlich genau auf das politisch korrekte Einhalten der Ansprüche anderer Minoritäten achten, die keinesfalls ‚diskriminiert‘ werden dürfen.“

Eine solche Argumentation mag von der Weltanschauung Raphael Bonellis spürbar eingefärbt sein. Man könnte sich einen linken Sachbuchautoren vorstellen, der das Themas „Tabu“ anhand ganz anderer Beispiele erklärt: Es gebe zum Beispiel ein Tabu, über die Weltrevolution und die guten Seiten der DDR zu reden.

Gelenkte Massenentrüstung

Bonelli bringt vor allem das verbreitete Unbehagen gegenüber modischen Erscheinungsformen des Neo-Spießertums zum Ausdruck, der faktischen Einschränkung des Meinungsspektrums durch gelenkte Massenentrüstung. „Heute überlege ich mir jedes Wort zweimal“ klagte die Biologin Marie-Luise Vollbrecht, die einen Shitstorm für die Behauptung geerntet hatte, es gebe „in der Biologie nur zwei Geschlechter“.

Dies berührt auch die Frage nach einer politischen Dimension des Tabus, die von Raphael Bonelli mit Beispielen aus der jüngsten Vergangenheit belegt wird, die aber auch bei Sigmund Freud andeutungsweise schon Thema ist. So holt Freud neben der Sexualität noch eine andere Gemütsregung ans Tageslicht, die gern verdrängt und somit tabuisiert wird: Aggression. Diese gebe es, so Freud, schon im privaten Kreis gegenüber engen Angehörigen, etwa den Eltern, Liebespartnern oder Kindern. Zu erkennen sei sie vor allem durch ein Phänomen, das Freud als „Überzärtlichkeit“ bezeichnet, also eine Form von Überkompensation.

„Sie tritt überall dort auf, wo außer der vorherrschenden Zärtlichkeit eine gegensätzliche, aber unbewusste Strömung von Feindseligkeit besteht.“

„Überzärtlichkeit“, um Hass zu kompensieren

Dasselbe Prinzip könne auch bei der „Behandlung der privilegierten Personen“ beobachtet werden, also im historischen Kontext gegenüber Königen und Stammesführern. Es dränge sich der Eindruck auf, „dass der Verehrung, ja Vergötterung derselben im Unbewussten eine intensive feindselige Strömung entgegensteht“. Die Mitglieder eines Stammes in Sierra Leone hätten die Gewohnheit, „ihren gewählten König am Abend vor seiner Krönung durchzuprügeln“. Dies täten sie mit solcher Gründlichkeit, „dass der unglückliche Herrscher gelegentlich seine Erhebung auf den Thron um nicht lange Zeit überlebt“.

Der Verdacht der Überkompensation, somit heimlicher Feindseligkeit, drängt sich überall dort auf, wo mächtige Würdenträger von ihren Untergebenen betont ehrerbietig, liebedienerisch und quasi wie ein rohes Ei behandelt werden.

Über die Bewohner der Tonga-Inseln im 18. Jahrhundert schreibt Raphael Bonelli:

„Ranghohe Personen wie Häuptling oder Priester konnten tabu sein und durften daher nicht berührt werden. Selbst den Schatten eines Häuptlings zu überschreiten, konnte mit einem Tabu belegt sein und Unglück bringen.“

Ein Echo dieser Mentalität findet sich heute noch in der Weigerung vieler Medien, Politiker in angemessener Weise für ihr Fehlverhalten zu kritisieren. „Überzärtlichkeit“ kann geradezu als bevorzugtes Stilmittel der Mainstream-Presse gegenüber ihren Herren und Meistern angesehen werden. Erst unlängst ersparte die neue Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche ihrem gescheiterten Vorgänger Robert Habeck nicht nur jede Kritik, sie bescheinigte ihm sogar eine „fast übermenschliche Leistung“. Die Prophezeiung von Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ — „Ich lehre euch den Übermenschen“ — scheint sich somit erfüllt zu haben.

Das stärkste Tabu der Deutschen

Naheliegenderweise stellt es für Politiker wohl eine Versuchung dar, Tabus künstlich zu kreieren und so einen Status der „Unberührbarkeit“ für die eigene Person und Weltanschauung herzustellen. „Heilige Scheu“ (Freud) sollte die Haltung der Stammesmitglieder gegenüber ihren Häuptlingen prägen. Die Furcht vor der Übertretung muss immer größer sein als die Lust auf diese, was einen großen Repressionsaufwand erfordert, weil schlechte Politik polemische Kritik ja geradezu herausfordert.

Unfähige Politiker fühlen sich nur in einer von Ängsten und Tabus eingeschüchterten Gesellschaft einigermaßen sicher und der Aufgabe enthoben, bessere Politik zu machen.

Darum muss auch nicht nur der Bruch des Tabus, sondern auch dessen Aufdeckung tabuisiert werden. Entrüstungsstürme brachen über den US-Vizepräsidenten J.D. Vance wegen seiner Kritik an der schwindenden Meinungsfreiheit in Europa herein. Ebenso niedergeschrien wird generell jede Infragestellung der „Nazikeule“, die gegen fast jeden Israel-Kritiker geschwungen wird. Raphael Bonelli analysiert auch einen unfairen rhetorischen Kniff namens „Reduktio ad Hitlerum“. Wird einem Vegetarier etwa vorgehalten, dass auch der „Führer“ kein Fleisch aß, ist dies der Versuch, einen Debattengegner durch einen sachlich völlig irrelevanten Hitler-Vergleich zum Schweigen zu bringen. Diese Technik wird gern auch in Auseinandersetzungen über Migration oder die Berechtigung des Gaza-Bombardements angewandt. Ein moderner Machiavelli könnte seinem Fürsten raten:

„Willst du unbehelligt morden, tabuisiere Kritik; willst du nicht einmal mehr von Vorwürfen wegen deiner Morde belästigt werden, tabuisiere auch noch die Kritik an der Tabuisierung von Kritik!“

Genau das geschieht heute.

Die Machtlust der Tabuwächter

Die Aggressivität, mit der Gegner einer als alternativlos geltenden politischen Auffassung angegangen werden, ist umso größer, je weniger Substanz besagte Auffassung hat. Der psychologische Fachbegriff dafür lautet: Abwehr. Sie dient dem Schutz längst widerlegter, jedoch für die Stabilisierung des Selbstbilds der Tabu-Wächter unentbehrlicher Narrative. In der Coronakrise waren solche Narrativ etwa: „Die Impfung ist sicher und schützt wirksam vor Coronainfektion.“ Oder „Es ist die Schuld der Ungeimpften, dass die Krankheit bisher nicht besiegt werden konnte.“

Es ist Raphael Bonelli hoch anzurechnen, dass er sich an den Kern des Phänomens heranwagt: „Tugend- und Tabuwächter verstecken ihre Lust nach Macht hinter einer Fassade der Gerechtigkeit.“ In Anlehnung an das Ur-Tabu der Religionsgeschichte, das Verbot gegenüber Adam und Eva, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wirft Bonelli den weltlichen Machthabern von heute sogar vor, mittels exzessiver Kreation immer neuer Tabus „Gott zu spielen“.

Was bei Naturvölkern das Privileg von Gottheiten und Schutzgeistern war — eine durch kollektive Ehrfurcht motivierte Unangreifbarkeit —, wird auf zeitgenössische Politiker übertragen, obwohl diese menschliche Wesen sind wie wir: mit Augen, einer Nase, einem Mund und allerlei offenkundigen Schwächen.

Quasi-religiöser Schutzzauber

So kommt es zu einer „Vergöttlichung von politischen Konzepten oder Menschen“. Dieser Prozess vollzieht sich interessanterweise parallel zum fortschreitenden Bedeutungsverlust der Religion, zum Verlust des Glaubens an Gott, an Götter oder eine geistige Welt. Das Tabu ist der quasi-religiöse Schutzzauber einer radikal säkularisierten Welt. Wokeness dient als Ersatzreligion, und manchmal kommt es, so Bonelli, geradezu zu einer „Heiligsprechung“ bestimmter Minderheiten. Stets muss übervorsichtig um diese herumgetänzelt werden — aus Furcht vor möglichem Beleidigtsein, welches oft nicht einmal von den Minderheiten selbst empfunden wird, sondern von deren stellvertretend beleidigten Beschützern.

„Wem nützt das Tabu?“ fragt Raphael Bonelli hellsichtig. Über diesen Punkt kann man weiters nachdenken. In einem sehenswerten Interview mit Alexander Kissler bezeichnet sich Bonelli selbst als einen „Freud des 21. Jahrhunderts“. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass er sich mit dem Altmeister auf eine Stufe stellt. Aber in einer Zeit, in der die viktorianische Prüderie in modernem Gewand wiederzukehren scheint, musste jemand versuchen, die freudianischen Geistesblitze upzudaten.

Gibt es sinnvolle Tabus?

Zur Abgrenzung von Freud nimmt Bonelli für sich in Anspruch, eingesehen zu haben, dass es auch sinnvolle Tabus gebe. Nicht alles, was als Tabu gilt, muss ein geheimer Wunsch des Tabuisierenden sein. Wenn wir es nicht gut finden, dass auf dem berühmten „Sylt-Video“ einige Enthemmte „Ausländer raus“ brüllten, muss das nicht bedeuten, dass wir uns heimlich danach sehnen, dasselbe zu tun. Ein weiterer Unterschied zwischen Bonelli und Freud: Der „Nachfolger“ ist religiöser als der „Vorgänger“. Der Atheist Freud leugnet, dass es tatsächlich Heiliges gibt, Bonelli glaubt als Katholik daran. Daher nimmt Freud an, Heiligkeit wie Sünde seien aus dem menschlichen Geist auf Götter projizierte Narrative. Für Bonelli gibt es wirklichen Anstand; er geißelt nur die zeitgeistige Pervertierung hin zu einer Ersatzreligion der „neuen Anständigen“.

Für Raphael Bonelli sind Wokeness und Tabu-Kult Eskalationsstufen der moralischen Wende der 68er-Generation, die er kritisch sieht:

„Und nun, rund vierzig Jahre später, leben wir in einer Gesellschaft, die viel mehr Tabus aufzuweisen hat als jene der 68er. Dieselben Menschen, die Massenorgien veranstaltet haben, sind nun jene, die das Wort ‚Eskimo‘ als rassistisch deklarieren und ‚Winnetou‘ verbieten wollen.“

Früher also lustvoller Tabubruch, heute die Kreation von immer neuen Tabus. Neo-Spießertum. Alles Konservative wird bei der leisesten Lebensäußerung erbittert abgekanzelt, wie es in den 60ern vielleicht bei Trägern von langen Haaren und in den 70ern bei Punkfrisuren der Fall war.

Der lustvolle Akt des Ertappens

Es findet eine geradezu glaubenseifrige Fahndung nach abzukanzelnden Begriffen wie „Indianer“ oder „Flüchtling“ im öffentlichen Raum statt.

Zugrunde liegen könnte eine verstohlene Lust derer, die sich für rechtgläubig halten, am Akt des Ertappens, Ermahnens, Beschämens und Abkanzelns Anderer. Allgemein: des Sich-überlegen-Fühlens nach dem Motto: „Wer andere erniedrigt, erhöht sich dadurch selbst.“

Wenn man diese Dynamik erkannt hat, wird erklärlich, dass konservatives und antikonservatives Spießertum einander im Grunde gleichen wie ein Ei dem anderen.

Lustvolle Überlegenheitsgefühle können nämlich auf zweierlei Weisen verstärkt werden: Erstens, indem immer mehr Menschen Regeln übertreten. Dies ist bei unseren heutigen, übervorsichtigen Zeitgenossen kaum der Fall, so dass die nach dem Genuss ihrer Überlegenheit Verlangenden vielleicht frustriert sind über mangelnde Ermahnungsanlässe. Daher kommt nun Strategie Nummer zwei ins Spiel: Es werden immer mehr schikanöse Regeln erschaffen und so gestaltet, dass eine möglichst hohe Übertretungswahrscheinlichkeit besteht. Beispiel: das Wort „Indianer“. So wird bewusst Unklarheit über das jeweils Erlaubte und Verbotene erzeugt, werden ständige Unsicherheit und Bestrafungsangst bei der Bevölkerung geschürt. Wenn sich jeder Deutsche „jedes Wort zweimal überlegt,“ verleiht dies den Tabu-Schöpfern ein Gefühl von unbegrenzter Macht.

Ausbruch aus dem Tabu-Gefängnis

Ziel wäre ein Volk der Schweigenden oder nur stockend und völlig eingeschüchtert Sprechenden. Solche Menschen würden bei jedem Schritt furchtsam um sich blicken: „Habe ich alles richtig gemacht, Herr Lehrer?“ Entscheidend bei allem, was man sagt, wäre dann nicht mehr, was man aus eigener Überzeugung sagen will, sondern die Sorge, dass „Antifaschisten“ und Minderheitenbeauftragte schimpfen könnten. Die von Tabus Eingepferchten würden sich wie Rilkes „Panther“ im Zustand beständiger Anspannung im engen Kreis drehen. „Es ist, als ob es tausend Stäbe gäbe.“

Die Lösung, die Raphael Bonelli hierzu anbietet, nennt er mit einem altgriechischen Begriff „Parrhesia“. Er meint damit „das freimütige Reden oder Mut, über alles sprechen zu können“. Jene Liebe zur Wahrheit, die nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht beinhaltet, diese auszusprechen.