Verlorene Träume

Die 68er-Bewegung scheiterte, weil Teile von ihr Gewalt anwandten, um den notwendigen Prozess der Umgestaltung abzukürzen. Die Bedingungen einer Eskalation sind jedoch heute wieder gegeben. Teil 1 von 3.

Nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs gab es im globalen Norden eine Phase, in der junge Menschen glaubten, Moral könne die Welt verändern. Nicht als Gebot von außen, sondern als Haltung von innen. Eine Generation, erschüttert vom millionenfachen Mord der Faschisten und den Verlogenheiten der Nachkriegsordnung, erhob sich in den 1960er-Jahren gegen das, was sie als Fortsetzung der Unmenschlichkeit in anderer Gestalt erkannte: die kalte Verwaltung des Lebens, die Selbstzufriedenheit der Besitzenden, die Herrschaft der Bequemlichkeit, das Leid der Unterdrückten, den Krieg in Vietnam. Das Geschehene ist Vergangenheit. Das zu reflektieren, was eine ganze Generation politisierte und in Teilen radikalisierte, ist trotzdem mehr als eine Erinnerung. Es ist die Antizipation einer Gefahr, die dem aktuellen Amoklauf des Kapitals entspringen könnte. Zu befürchten ist die Wiederholung einer Geschichte, in deren Verlauf die Träume von einem freien, gerechten und sicheren Leben wie eine Seifenblase zerplatzten (1).

Das Ideal

Die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen Lateinamerikas und auf dem afrikanischen Kontinent inspirierten in den 1960er-Jahren die Jugend in den westlichen Industrienationen. In der Bundesrepublik nährten die Formel „Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus“ — ein semantisches Placebo für die nie wirklich aufgearbeiteten Verantwortlichkeiten für die Verbrechen in der NS-Zeit — und die Bilder des Vietnamkrieges den Wunsch nach einer radikalen Veränderung.

Es ging nicht um Reformen, sondern um eine grundlegende Neuordnung der Gesellschaft, in der für das Gestern kein Platz vorgesehen war. Die Jugend revoltierte gegen die Besitz- und Herrschaftsverhältnisse und die Strukturen, die sie absichern. Das Ziel war die Befreiung der Menschen — von Staat, Kapital, Patriarchat und Lüge. Es war ein Ideal. Was blieb von dieser Revolte übrig?

Der lange Marsch durch die Institutionen, eine von Rudi Dutschke (2) formulierte Strategie, die die Außerparlamentarische Opposition (APO) langfristig in die Machtposition bringen sollte, ließ alle revolutionären Ansätze zu Staub zerfallen. Aus dem Aufstand wurde die Karriere, aus der Empörung eine instrumentalisierte Haltung, aus der großen Idee ein kleines Marktsegment.

Wo einst die Unbedingten entschlossen handelten, strebten die Angepassten in der Verpackung der Reform nach Aussöhnung mit den Verhältnissen. Die Unterdrückten mit einer verbesserten Herrschaft zu beglücken, wurde zur Räson.

Die Energie der Emanzipation sickerte in die Fassaden einer liberalen Wohlstandsgesellschaft ein, die moralische Selbstinszenierung mit realer Veränderung verwechselt. Und doch lebt etwas fort — ein unauslöschlicher Gedanke: dass Freiheit ohne Gerechtigkeit Betrug ist, und Gerechtigkeit ohne Selbstüberwindung Lüge.

Der Ausgangspunkt

Die heterogene Jugendbewegung der 1960er-Jahre — im politisch-historischen Diskurs durch die Bezeichnung „68er“ zur uniformen Einheit veredelt — hatte nicht die Absicht, die Welt zu verwalten. Sie wollte sie in ein Paradies der Vielfalt verwandeln. Ihre unterschiedlichen Denkweisen und Weltanschauungen, ob nun anarchistisch geprägt oder kommunistisch, maoistisch oder von den Lehren des Christentums beeinflusst, vereinigten sich in einem ethischen Imperativ: die Weigerung, eine Ordnung als Naturzustand zu akzeptieren, die einzig und allein auf Gewalt aufgebaut ist.

„Herrschaftsfreiheit“ — ein damals wie heute fast mystisch aufgeladener Begriff — war weniger politische Forderung als moralische Vision. Der Mensch sollte aufhören, sich selbst zum Werkzeug einer herrschenden Klasse zu machen, die nur existieren kann, solange sie Menschen beherrscht.

Denn erst durch den Aberglauben an die Unverzichtbarkeit von Herrschaft konnten sich im Laufe der Menschheitsgeschichte sozialparasitäre Regime etablieren, die sich je nach Beobachtungspunkt beispielsweise als feudalistisch, faschistisch oder demokratisch beschreiben lassen. An dem Umstand, dass eine Minderheit über die Mehrheit herrscht und sich von deren Leistungsfähigkeit ernährt, ändert das nichts.

Der Widerspruch

Um ihren Untergang zu verhindern, verfeinerte die herrschende Klasse die Instrumente und Strukturen, aus denen sich ihre Macht speist. Die Installation von ausführenden Agenten, gemeinhin Bürokraten genannt, war ein wesentlicher Schachzug. Er machte die Herrschaft unsichtbar. Was im Absolutismus unter dem Begriff Hofstaat zusammengefasst wurde, findet im modernen Staat sein Pendant in Gestalt der Funktionseliten, die nicht nur Amt und Würde ihr Eigen nennen.

Beamte, Richter, Staatsanwälte, Offiziere, Polizisten, Berufspolitiker und so weiter stellen trotz fachlicher Abgrenzungen, trotz der unterschiedlichen Aufgaben und der Distanz zur Verwaltung eine soziale Gruppierung dar. Ihre Gemeinsamkeit ist ihr Status. Sie verdanken ihm dem organisatorischen Konstrukt, dem sie Leben einhauchen und ihm gleichzeitig dienen. Der Staat im Staat wird sichtbar. Er überdauert alle Regime und wird dadurch zum Komplizen jeder Herrschaft, die in der Gegenwart auf Kapitalmacht beruht und die Gesellschaften mit den Fangarmen Konsum, Finanzwirtschaft und Medien umklammert.

Löst sich die Konstruktion auf oder wird strukturell ausgehöhlt, weil sie ihre Aufgabe erfüllt hat und der Expansion des Kapitals im Weg steht, so wie es aktuell nicht nur in Argentinien zu beobachten ist, werden Teile der Gruppierung überflüssig. Der Selbsterhaltungstrieb setzt ein. Nicht umsonst beschwört die Subkultur, die sich von der beherrschten Bevölkerung hermetisch abzuriegeln scheint, die Mär von der Sicherheit, die angeblich der Staat bietet; das heißt, die allein durch ihr Agieren gegeben sei und sich nach außen durch militärische Aufrüstung und im Inneren durch Kontrolle und die Gewalt bewaffneter Bürokraten (siehe: David Graeber, 3) vollendet.

Das Diktat der Vorschrift soll zum Frieden führen. Die Grundpfeiler des menschlichen Zusammenlebens werden gegen Paragrafen, Verordnungen und Anweisungen ausgewechselt. Schleichend verschwinden Sitte, Moral und Selbstzucht als Kompass der Orientierung.

Doch während die Subkultur von den Beherrschten unter ständiger Androhung von Repression Friedlichkeit und die Einhaltung von Regeln einfordert, füllt sie mit Hilfe der Rüstungsindustrie und durch die Befeuerung der sinnlosen Gewaltorgie Krieg die Kassen der Konzerne und Kapitaleigner.

Eine brutalere Widersprüchlichkeit, die einer Vergewaltigung des kritischen Denkens gleichkommt, ist kaum möglich. Das ist aber beileibe nicht die einzige Dissonanz, die damals wie heute auf den Prüfstand gehört.

Das hatten die jungen Menschen in den 1960er-Jahren erkannt. Arbeit, Eigentum, Geschlechterrollen, Sexualität, Bildung – von ihnen wurde alles infrage gestellt, was Macht strukturierte. Die Ablehnung des Vietnamkriegs lieferte den Treibstoff für ihre Utopie der Befreiung. In dieser Radikalität lag Größe, aber auch eine Gefahr. Je langatmiger der Prozess der Veränderung, desto höher wurde der Anspruch an die Frustrationstoleranz. Der Widerstand gegen Herrschaft, Kapitalismus und Imperialismus gebar seine eigene Verführung: die Versuchung, die Transformation zu verkürzen und das Gute durch Gewalt zu erzwingen.

Die Logik

Die Phase vor der Entstehung der Rote Armee Fraktion (RAF) und des Konzepts der Stadtguerilla wurde durch Maßstäbe geprägt, die Sympathie und Zuversicht vermittelten: die Verweigerung von Überfluss, die Zärtlichkeit von Vertrauen, Verbindlichkeit und Liebe — es war das Bemühen, Revolution als individuellen Akt der Läuterung zu verstehen, deren Essenz in gelebte Praxis überführt wird. Vielleicht war diese Haltung der eigentliche Kern: der Gedanke, dass eine befreite Gesellschaft nur aus befreiten Menschen erwachsen kann.

Der gewaltlose Veränderungsprozess, der zum Ausbruch des Geistes aus seiner freiwilligen Knechtschaft führt, wurde durch zwei gewaltsame Ereignisse infrage gestellt. Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg (4), dem ein Polizist — der für sein Verbrechen nie zur Rechenschaft gezogen wurde — am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in West-Berlin in den Kopf schoss, und das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 ließen Gewaltlosigkeit als wirkungsloses Mittel erscheinen. Die Korrektheit einer revolutionären These von Mao Tse-tung schien sich zu bestätigen: Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.

Aus der Ethik der Verantwortung und der Verweigerung von Gefolgschaft als stärkstes Werkzeug des gewaltfreien Widerstands erwuchs die Logik des bewaffneten Kampfes. Im Umfeld der europäischen Studentenbewegung formierten sich militante Gruppierungen.

In der Bundesrepublik war die RAF die extremste Verdichtung dieses Widerspruchs — der Versuch, moralische Reinheit durch die Propaganda der bewaffneten Tat zu beweisen.