Vertrauen ins Leben

„Nutzen wir die Krise als Chance und emanzipieren uns!“, fordert der Autor und Philosoph Bertrand Stern im Rubikon-Exklusivinterview.

Die Coronakrise zwingt uns, unsere Lebensweise als Gesellschaft, aber auch als Individuen zu hinterfragen. Das Hamsterrad des ewigen Wachstums wurde auf einmal gestoppt. Die erste Reaktion darauf ist Angst um unsere Gesundheit und unser finanzielles Auskommen. Der freischaffende Philosoph und Autor Bertrand Stern erklärt im Interview mit Jens Lehrich, dass diese Situation eine große Chance für uns alle sei. Es ist möglich, dass wir in eine totalitäre Weltdiktatur schlittern, es ist aber genauso möglich, dass wir aus dem ewigen Rennen aussteigen und ein Leben erschaffen, das diesen Namen auch verdient.

Das Coronavirus macht den Menschen bewusst, dass sie sterblich sind. Das führt bei vielen zu einer Panik, da sie die Dinge, die ihnen wichtig sind, bisher immer aufgeschoben haben. „Mache ich ... nächste Woche, nächstes Jahr, wenn ich in Rente bin …“

Wir leben in einer materialistischen Welt. Fügen uns resigniert wie Objekte in die Maschinerie ein: Arbeiten, Konsumieren, Abschalten vorm Bildschirm. Corona scheucht uns plötzlich erschrocken auf. Wie? Wir haben nicht ewig Zeit? Vielleicht gibt es kein später für alles das, was ich eigentlich machen möchte? Bertrand Stern sagt im Gespräch mit Jens Lehrich:

„Wir sind in einem Rennen, bei dem wir immer mehr und mehr verlieren. (…) Das ist doch einfach blödsinnig. Das heißt, je mehr wir dazu in der Lage sind, aus diesem von außen aufgedrängten Rennen auszubrechen, desto größer ist dann unsere Möglichkeit, als selbstbestimmte Wesen, gesund zu leben. (…) Hier würde ein großes Potenzial von Gesundheit entstehen. Aber dafür müssen wir erkennen, dass das Leben in seiner jetzigen Auslegung kein Leben ist, sondern nur eine Existenz aus zweiter Hand.“

Mein trauriger Eindruck ist, dass die meisten Menschen lieber weiter verdrängen, wie sehr sie an ihrem Leben vorbeiexistieren. Mir scheint oft, als seien viele im Inneren bereits tot. „Lass mich in Ruhe mit deinem Quatsch“, sagen ihre Blicke, wenn ich Fragen nach einem lebenswerten, anderen Leben stelle. „Du denkst zu viel nach, Elisa.“

Ich kann eben nicht anders. Ich fühle, dass es auch anders ginge. Nur, wie komme ich an meine Mitmenschen heran?

Bertrand Stern erzählt von seinem jungen Sohn. Wenn dieses kleine Kind die aktuellen Abstandsregeln einfach ignoriert und freudig auf andere zugeht, passiert etwas: Das verbiesterte Gesicht, auf das er zusteuert, erhellt plötzlich ein Lächeln. Dieses Phänomen schenkt Hoffnung, dass in den Menschen noch eine Resonanz für das Schöne und das Lebendige vorhanden ist.

Wir stehen an einem Wendepunkt. In welche Richtung die Wende gehen wird, kann niemand vorhersehen. Nur jeder Einzelne kann für sich entscheiden, ob er die Verantwortung für sein Leben in die Hände von Politikern und Wirtschaft gibt oder ob er sich fragt, wie er leben möchte, bevor er stirbt, und das dann umsetzt, ohne darauf zu warten, dass es ihm jemand anderes erlaubt.

„Eine bessere Welt ist keine Phantasie eines verlorenen Paradieses. Eine bessere Welt wird sichtbar, wenn der verblendete Gehorsam aufgebrochen wird und sich in echte zwischenmenschliche Empathie verwandelt“ (Arno Gruen).