Völkermörderische Narrenfreiheit

In einer Welt, in der das Verhalten von Ländern mit mindestens zweierlei Maß gemessen wird, kann nur Israel tun, was es tut.

Das Grauen im Gaza-Streifen findet kein Ende. Der Welt stockt der Atem. Und sie verschließt die Augen. Kein anderes Land auf der Welt — sieht man einmal von den USA ab — könnte vergleichbare Gräueltaten verüben, ohne dafür hart sanktioniert und kritisiert zu werden. Die israelische Regierung hat sich als Argumentationshilfe eine fantasievolle Interpretation der eigenen Geschichte zurechtgelegt.

Laut Statista (Stand: 13. August 2025) sind im Gaza-Streifen seit dem 7. Oktober 2023 mehr als 60.000 Menschen getötet und über 154.000 verletzt worden. Fast alle Gebäude sind vom Erdboden verschwunden, darunter auch Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser. Die von der israelischen Regierung geplante „Umsiedlung“ der noch lebenden Palästinenser kommentiert der Deutschlandfunk zurückhaltend:

„Israel bereitet vor der geplanten Ausweitung des Gaza-Kriegs die Umsiedlung von Palästinensern innerhalb des abgeriegelten Küstenstreifens vor.“

Das klingt eher freundlich, nach Hilfe für die Menschen, die aus der Schusslinie im Kampf gegen die Hamas gebracht werden sollen. Die Formulierung des Deutschlandfunks steht repräsentativ für zahlreiche andere Medien, Politiker und Staatenlenker. Obwohl die Kritik an Israel international immer lauter und zahlreicher wird, traut sich doch niemand so richtig, konkrete Vorwürfe auszusprechen und Israel zu sanktionieren.

Verteidigungsreflex

Die Erzählung der israelischen Regierung ist perfekt vorbereitet. Nach den Anschlägen des 7. Oktober 2023 hat sie das Recht auf Selbstverteidigung ausgerufen und konnte damit nichts falsch machen. Völkerrechtlich hat das Selbstverteidigungsrecht einen hohen Stellenwert, und dieser hat seine Berechtigung.

Blendet man die Vorgeschichte aus, die zum 7. Oktober geführt hat, ist alles, was die israelische Regierung nach den Anschlägen initiiert hat, gerechtfertigt.

So oder so ähnlich wird fast überall auf der Welt argumentiert. Allerdings hat diese Argumentation erhebliche Lücken. Zum einen ist bis heute ungeklärt, wie es der Hamas gelingen konnte, ein Land, dessen Streitkräfte zu den am besten ausgerüsteten der Welt zählen, so scheinbar mühelos zu überfallen.

Zum anderen ist objektiv betrachtet der Begriff „Selbstverteidigung“ längst überstrapaziert.

Gedanklich zu Ende geführt, würde die Logik der israelischen Regierung bedeuten, dass die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu die gesamte deutsche Bevölkerung hätten töten können — sei es unter dem Vorwand der Selbstverteidigung oder zur Eliminierung möglicher übriggebliebener Faschisten.

Wie wir wissen, ist das nicht passiert, und wenn es einer der Alliierten gewagt hätte, so zu agieren oder auch nur diese Idee zu äußern, wäre es zu gravierenden internationalen Verwerfungen gekommen.

Und genau aus diesem Grund kann Israel tun, was es will. Wegen der deutschen Geschichte.

Was du nicht willst, was man dir tu' …

… das füg' auch keinem anderen zu. Diese uralte Weisheit hat für die israelische Regierung keine Bedeutung. Denn das Leid, das das jüdische Volk im faschistischen Deutschland erleben musste, führt nicht zur Erkenntnis, dass sich so etwas wie in Deutschland niemals wiederholen darf. Im Gegenteil, die israelische Regierung scheint sich in einem besonderen Recht zu wähnen, mit ihren Feinden besonders brutal umgehen zu können — oder gar zu müssen.

Das ist kein Wiederholungszwang, sondern vielmehr ein Rechtfertigungsgedanke, der hier zu wirken scheint. Weil Juden im Faschismus das vielleicht größte Leid erleben mussten, das Menschen anderen Menschen je zugefügt haben, entsteht für Beobachter der Eindruck, die israelischen Maßnahmen nach dem Hamas-Angriff seien von der Überzeugung getragen, dass jeder neue Gegner kompromisslos ausgeschaltet werden müsse.

Dieser Ansatz — wenn er denn zuträfe — würde eine zynische Parallelität zu ausgerechnet der Herrschaftsform herstellen, die die Juden beinahe ausgelöscht hätte.

In der israelischen Erzählung muss die Hamas vernichtet werden, bevor es Frieden geben kann. Damit agiert Israel aber ähnlich pauschal und menschenverachtend wie es frühere Herrschaftsformen auch getan haben, allen voran der Faschismus.

Und doch: Diese Parallele darf man öffentlich nicht ziehen. Denn die Erzählung, die fast weltweit vorherrscht, lautet: Verbrechen der Menschheitsgeschichte kann und muss man vergleichen, um Zusammenhänge und Ähnlichkeiten zu verstehen — nur nicht im Falle Israels.

Keine Chance auf Gerechtigkeit

Israel wird keine Gerechtigkeit erleben. Gerechtigkeit ist ein Geflecht aus Sühne, Rache, Genugtuung und erlebter Ungerechtigkeit. Doch was die israelische Regierung im Gaza-Streifen verübt, kann zu keiner Gerechtigkeit führen. Schlicht deshalb, weil die Täter des 7. Oktober nicht direkt überführt und einer (gerechten) Strafe zugeführt werden können. Stattdessen hat die israelische Politik entschieden, eine Art „Gießkannen-Gerechtigkeit“ zu versuchen, ein Ansatz, der zwangsläufig scheitern muss, weil er Unschuldige trifft.

Auf die innenpolitische Motivation des israelischen Handelns komme ich noch zu sprechen, aber auf der moralischen bzw. emotionalen Ebene hat der israelische Staat bereits verloren. Man kann nicht Zehntausende Menschen töten — und sei die vorausgegangene Tat noch so grausam — und darauf hoffen, von der Welt oder gar einer göttlichen Instanz dafür belohnt zu werden.

Die Internationale Gemeinschaft — wobei es diese ohnehin nicht gibt — steckt aber in einem Dilemma. Wenn aus einem Land Kritik an der Praxis Israels zum Ausdruck gebracht wird, kommt prompt der Verweis auf das Recht Israels zur Selbstverteidigung. Der 7. Oktober ist eine unbestreitbare Tatsache und kein Vorwand, den man als reine Erfindung entlarven könnte. Gerade deshalb greift dieses Argument kategorisch. Weil insbesondere in den westlichen Ländern das Argument der Selbstverteidigung immer wieder in den Fokus gerückt wird, verhallt Kritik aus anderen Ländern im Getümmel der Rechtfertigungen.

Ein weiterer Bestandteil der israelischen Erzählung ist die eigene Geschichte, die untrennbar mit dem deutschen Faschismus verbunden ist. Ein Volk, das solche Qualen erleiden musste, habe — so die verbreitete Tendenz — jedes Recht, alles dafür zu tun, dass sich ein solches Verbrechen niemals wiederholt.

Hinzu kommt das Argument, dass die Hamas — ebenso wie andere Gruppierungen oder Staaten — Israel zerstören und seine Existenzberechtigung infrage stellen wolle. Dieses Argument ist für die israelische Rechtfertigung unverzichtbar.

Denn so grausam der 7. Oktober auch gewesen sein mag: Für sich allein könnte er das massenhafte Töten durch Israel nicht erklären oder gar als angemessen erscheinen lassen.

Im Kampf um die Existenz Israels — im doppelten Sinne, also sowohl als Staat innerhalb seiner Grenzen als auch als Lebensraum für seine Bevölkerung — besitzt die israelische Regierung einen weiteren Trumpf, der nur schwer zu widerlegen ist. Nun ist es zwar so, dass Israel ganz offenkundig noch existiert, die Auslöschung ist also nicht gelungen, und es gibt Stimmen, die genau an diesem Plan mit guten Gründen zweifeln. Doch die Bedrohungslage wird so sehr auf die Spitze getrieben, dass nur wenige Staatschefs sich trauen würden, dieses „heiße Eisen“ anzufassen.

An dieser Stelle sei nochmals der Vergleich mit dem Faschismus in Deutschland bemüht, jedoch ausdrücklich mit dem Hinweis, dass Vergleiche keine Gleichsetzungen sind. Es ist traurig, dass man auf diesen Umstand hinweisen muss, aber im Kontext mit Israel und dem deutschen Faschismus ist es wohl nachvollziehbar.

Die unfassbaren Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs, ausgehend von Deutschland, haben damals in letzter Konsequenz dazu geführt, dass die internationale Gemeinschaft — die es damals in gewisser Weise noch gab — an einem Punkt nicht mehr bereit war, diesen Wahnsinn hinzunehmen. Wer letztlich wann in den Krieg eingegriffen hat und ob eine frühere Intervention notwendig gewesen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Faktisch wurden Hitler und Deutschland aber aufgehalten.

Israel wird bis heute nicht aufgehalten. Dies hängt nicht mit den Gemeinsamkeiten zum Faschismus in Deutschland zusammen, sondern mit den Unterschieden. Hitler und „sein“ Deutschland waren eindeutig Täter — das ist heute klar und war es damals bereits. Die Kombination aus der Ermordung von Juden und anderen, die nicht ins Bild des arischen Deutschen passten, sowie dem Führen eines Weltkriegs konnte nicht unbeantwortet bleiben. Israel wird dagegen pauschal als Opfer wahrgenommen, das jedes Recht zur Gegenwehr hat.

Der innere Konflikt der Weltgemeinschaft besteht in der Frage, wo „jedes Recht“ seine Grenzen hat, denn man traut sich nicht, eine solche Grenze zu ziehen. Durch die Logik des Rechts auf Selbstverteidigung entsteht der Eindruck, dass es für Israel keine moralischen oder menschlichen Grenzen gibt, nicht einmal eine justiziable Grenze.

Was die israelische Regierung auch anordnet, erfolgt stets unter der Prämisse eines Angriffs, auf den reagiert werden müsse. Je nach Situation bezieht sich die Verteidigung entweder auf die Taten vom 7. Oktober 2023, auf potenzielle Angriffe, die noch gar nicht stattgefunden haben, oder, wenn alle Stränge reißen auf die vermeintliche allgemeine Vernichtung Israels durch die Feinde des Landes. Da jeder eigene Angriff als Reaktion auf eine vorherige Bedrohung interpretiert werden kann, erscheint jede Maßnahme gerechtfertigt.

Die Weltgemeinschaft tut sich schwer mit dieser israelischen Praxis, denn jede Kritik an Israels Politik erzeugt einen neuen Täter — den, der die Kritik äußert. Die Problematik ist speziell in Deutschland noch gravierender, was mit der deutschen Geschichte zusammenhängt. Und so wimmelt es mittlerweile in Deutschland nur so von „Antisemiten“, deren einziges „Verbrechen“ es ist, nicht ohne Wenn und Aber hinter der Politik der israelischen Regierung zu stehen. Und auch hier ist es die deutsche Geschichte, die den Kritikern das Leben erschwert: Wer als Antisemit bezeichnet wird, wird naturgemäß automatisch in die Nähe des Faschismus gerückt.

In der Summe ergibt sich ein Bild, das die israelische Politik der Auslöschung palästinensischen Lebens in jeder denkbaren Konstellation erlaubt und sogar als gerecht und gerechtfertigt darstellt.

Aufgrund des millionenfachen Mordes an Juden durch den deutschen Faschismus endet Kritik hier meist an einer symbolischen Mauer mit den Aufschriften „Judenhass“ und „Antisemitismus“, gegen die jeder kritische Geist früher oder später stößt.

Israels Innenpolitik

Abschließend sei angemerkt, dass die israelische Argumentation für die Vernichtung des Gaza-Streifens und die Ermordung beziehungsweise „Umsiedlung“ — ein sehr verharmlosender Begriff — der Menschen dort sich oberflächlich auf die Geschichte des eigenen Volkes stützt und zugleich mit den Anschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 begründet wird. Die innenpolitische Komponente ist aber nicht zu unterschätzen, denn Benjamin Netanjahu steht bekanntlich im eigenen Land unter erheblichem Druck. Viele berufene Stimmen behaupten, dass Netanjahu nur noch im Amt ist, weil der Krieg im Gaza-Streifen weitergeführt wird. Wäre dies nicht der Fall, so kann man an verschiedenen Stellen nachlesen, dass er längst seines Amtes enthoben und wegen Bestechung, Untreue und Betrug im Gefängnis gelandet wäre.

Ohne jeden Zweifel hegt die israelische Regierung auch geopolitische Ambitionen, die jedoch nicht so offen zutage treten wie etwa im Falle der US-amerikanischen Außenpolitik, die hier offen und aggressiv agiert. Trotzdem hat Israel ganz offenkundig den Anspruch, in der Region die dominierende Rolle zu spielen.

Das ist ein Tanz auf dem Vulkan, denn die sogenannte „einzige Demokratie“ im Nahen Osten ist schon lange keine mehr. Eine Staatsform, die sich selbst das Attribut „Demokratie“ auf die Fahne schreibt, kann nicht allen Ernstes behaupten, es sei gute alte demokratische Praxis, zigtausende Menschen — darunter unzählige Zivilisten, einschließlich Kinder — zu ermorden.

Zudem haben zwar die umliegenden Länder Israels die schon seit Jahrzehnten herbeigeredete Vernichtung Israels nicht in die Tat umgesetzt, was durchaus die Frage aufwirft, warum dies bislang nicht geschehen ist und ob es sich womöglich auch hier um eine Erzählung handelt, der die faktische Grundlage fehlt.

Auch ohne die bisherige Vernichtung des Landes durch die Feinde Israels bleibt das Eis dünn, auf dem Netanjahu sich bewegt. Die Geopolitik ist eine fragile Angelegenheit, die von vielen, teils unscheinbaren Details abhängt, sodass ein einziger Funken ausreichen könnte, um die Situation eskalieren zu lassen.