Von den Verwerfungen des Empfindens

Der Autor der Poetik-Ecke XXXXIV fragt: „Was ist Macht und was ist Leben?“ — und gibt konkrete Antworten, die tief in den Seelenraum strahlen.

Der Dichter nennt es lyrisch-philosophische Brosamen. Ebenso sind es Spitzen von Eisbergen, was Werner Köhne in dieser Poetik-Ecke ohne Punkt und Komma auf engstem Raum versammelt. Grundfragen zu Leben, Wahrnehmung, Zeit und Wirklichkeit mit Antworten, die gefährlich plastisch sind. Gefährlich für die Macht wie für die Ohnmächtigen. Denn sie berühren.

Blicke

Ich sehe Finger die sich zitternd vortasten
bevor der Schatten eines Handrückens sie besänftigt
um zu verbergen die längst verstummte
fremdelnde Haut

Ich schaue in einen Spiegel
und entdecke darin
das vertraute Gesicht einer Verkannten

Ich blicke auf eine Uhr
Nichts bewegt sich
doch plötzlich schlagen die Ziffern um

Ich betrachte ein Gemälde
Breughels Jäger kehren zurück
trotz meiner Versenkung ins Bild
klicke ich schon auf das nächste
Welche Ungeduld treibt mich
Welche Ahnung von
den Verwerfungen des Empfindens

Was ist Wirklichkeit

eine Reizzone am Mittag
Köln Porz oder anderswo
ein Parkplatz zwischen zwei Discountern
eine Sonne in trägem Licht
wirft geometrische Muster auf den Beton
eine Passantin mit Kind
schwebend über´m Alltag
und doch in strenger Verrichtung
es erlischt unter ihrem Schritt
das Gleichgewicht des Tags

Scham über all dies Stückwerk
weckt in mir dem ewigen Kunden
eine Gier nach Verschmelzung

Was ist Wahrheit

Ein Sinnstoß gegen das Gestöber der Bilder
von medialem Rauschen umspült
die Entbergung eines Verborgenen
was noch
plötzlich erhebt sie sich gegen den Taktstock des Einpeitschers
der gerade jetzt auf Geheiß eines TV-Moderators
von seinen Studiogästen sofortigen Applaus fordert

Wahrheit
der Moment aber auch
in dem sich aus einer Felsspalte
ein Rinnsal löst
das mich an eins erinnert
deine tiefe Verletzbarkeit

Was ist Leben

Eine plötzliche Bewegung die alles wieder ins Lot bringt
ein Nachmittag verbracht im sumpfigen Gelände
mit dir der zu sich selbst Gekommenen
ein Augenblick in dem Scheitern und Glück eins werden

Was ist Existenz

eine Datei die gelöscht wird
ein Anruf der nicht kommt
die Panik überholt zu werden
von einem plötzlich eintretenden Schweigen

Was ist Zeit

ein gekrümmter Raum
den niemand durchlaufen kann
ein Abgrund zwischen Endlichkeit und Verlust
das langsame Verschwinden des Bewusstseins
im Rauschen der Welt

Was ist Macht

ohne Ausnahme
die Umerziehung der Ohnmächtigen
zu befriedeten Kunden
eine gefrorene Erinnerung an ein Leben
das irgendwann dienstbar gemacht wurde
für das Verschwinden der Sinne
und den Aufmarsch von Ideen

Was ist Geschehen

ein Waggon auf einem Nebengleis in Schwerte
wie lange steht er da schon
in autumn of 69
bevor ich
wie ein Flüchtiger in der Bahnhofskneipe verschwinde
und auf Drafi Deutscher Marmor Stein und Eisen bricht drücke
alles alles geht vorbei
nur dies hier nie


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Von Werner Köhne sind jüngst seine in der Zeitung des Demokratischen Widerstands erschienen Essays als Anthologie erschienen. Diese Essays hoben sich jederzeit deutlich von den üblichen Coronatexten ab und zielten auf grundsätzliche Fragen des Lebens und des Sterbens.