Welches Europa?

Alle demonstrieren für Europa - doch welches meinen sie eigentlich?

Dass öffentlich-rechtliche Radiosender zu Demonstrationen auffordern ist recht selten, vor ein paar Tagen aber fuhr ich eine Stunde im Auto und hörte in den Nachrichten drei Mal von der Demo "Pulse of Europe", bei der "viele Menschen in vielen Städten" mitmachen und "für Europa" demonstrieren. Obwohl einmal von "Pals" und zweimal von "Puls" die Rede war, meinten die Sprecher dieselbe Demo, in Berlin fände sie "wie üblich" am Gendarmenmarkt statt. Irgendwie hatte ich nicht mitgekriegt, dass es da offenbar eine neue Demo-Bewegung entstanden war, und "für Europa" klang erst mal nicht schlecht. Dann überlegte ich, für welches "Europa" ich demonstrieren würde: für den Kontinent und seine 50 verschiedenen Ethnien, für die EU mit 27 ihren Mitgliedern oder für die 17 Länder, die den Euro haben?

Gar nicht so einfach. Für oder gegen den Kontinent und seine Völkerscharen muss man nicht demonstrieren, daran könnten eh nur tektonische Verschiebungen oder Völkermorde etwas ändern und beides ist indiskutabel. Anders ist das bei der Frage, ob nicht eigentlich auch Russland zu Europa gehört und inwieweit der neue "Puls" begrenzt sein soll. Wenn man an Griechenland denkt und wie es von Bankstern und Schäuble niedergepresst wurde, reicht der Puls ja noch nicht einmal zur Belebung der Euro-Länder. Zu Hause googelte ich dann "Pulse of Europe" und fand, dass die Initiative von zwei Rechtsanwälten gegründet wurde, die für einen Ableger der internationalen Wirtschaftskanzlei Freshfields arbeiten. An den zehn allgemein gehaltenen Forderungen inklusive Reformen der EU ("verständlicher und bürgernäher") war grundsätzlich nichts auszusetzen, insgesamt klang das Ganze aber doch sehr nach wohlmeinendem WischiWaschi für ein "Weiter so!".

Dafür wollte ich nicht demonstrieren.

Dass die EU nicht richtig läuft, liegt glaube ich nicht an Unverständlichkeit und Bürgerferne, sondern daran, dass eine Staatengemeinschaft letztlich nur föderativ, also mit einem Länderfinanzausgleich, funktionieren kann. So wurde einst das arme Agrarland Bayern vom Rest der Bundesrepublik in wenigen Jahrzehnten zu einem reichen Industriestandort gepeppelt, was einem isolierten Freistaat so nie gelungen wäre. Und auch den armen EU-Ländern in den nächsten Jahrzehnten nicht gelingen kann, weil Nationen wie Griechenland allenfalls die Zinsen, aber nie ihre Schulden werden bezahlen können. In Italien, wo die nächste Bankenkrise droht, in Spanien, Portugal und bei einigen anderen sieht es kaum besser aus. Auch dass wegen der Krise und nach dem Brexit jetzt in Brüssel propagierte "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" kann nur funktionieren, wenn die Länder durch Auf,- bzw. Abwertung eigener Währungen die Möglichkeit hätten, Differenzen auszugleichen und ihre nationalen Wirtschaften zu sanieren. Solange sie den Euro haben, geht das nicht und Schäuble kann, wenn er mit der Austeritäts-Knute anrollt, nur sagen: "Isch halt so."

Auch wenn eine solche Europäische Union für meinen Standort – Deutschland – weiterhin sehr vorteilhaft ist, möchte ich dafür auch nicht demonstrieren.

Bin ich deshalb nun „Europagegner“ oder gar „Europafeind“? Diese Begriffe tauchten in den letzten Wochen vor allem in Nachrichten über den französischen Vor-Wahlkampf auf und dienten als Bezeichnung für die rechten und linken Präsidentschaftskandidaten. Jetzt stehen die „Europagegnerin“ Le Pen und der „Europafreund“ Macron zur Wahl, aber weder für die eine noch für den anderen würde ich demonstrieren oder sie wählen. Weil weder Nationalismus, wie ihn Le Pen predigt, noch Neoliberalismus wie ihn Macron vertritt eine Lösung sind. Deshalb kann ich auch das Schweigen des unterlegenen linken Kandidaten Mélenchon gut verstehen, der sich nicht für das vermeintlich „kleinere Übel“ Macron ausspricht, denn dessen angekündigte „Reformen“ scheinen nichts anderes als die verspätete Nachholung der hiesigen Agenda 2010. Aber diese „Flexibilisierung“ (vulgo: Lohndrückerei) werden weder die EU noch Frankreich retten, sondern nur dafür sorgen, wie es der Soziologe Didier Eribon sieht, dass Marine Le Pen die nächste Wahl und dann auch die Parlamentsmehrheit gewinnt. Dass dieser Kelch dieses Mal noch vorübergeht und ein „Europafreund“ ans Ruder kommt, ist nur ein schwacher Trost, denn aus diesem Europa und dieser EU ist kein Funke mehr zu schlagen. Sie müssen von Grund auf neu aufgebaut werde. Dass dafür die alte Struktur und auch der Euro erst Mal in Scherben fallen müssen, klingt brutal, ist aber wahrscheinlich die einzige Lösung. Vor allem wenn man sich die Lage der jungen Menschen ansieht, denen Europa derart bis zum Hals steht, dass sie einen Massenaufstand gegen ihre Regierung befürworten: 67% der jungen Griechinnen und Griechen würden sich einem solchen Aufstand anschließen, in Italien sind des 64% der 18-und 34-jährigen, 63% in Spanien, 61% in Frankreich – nur in Östereich, Deutschland und Niederlande liegt ihre Zahl unter 40%.

Mit „Weiter so!“ und ein wenig Pulsschlag durch Fähnchenschwingen wird sich der Infarkt nicht verhindern lassen.