Wieder eingemauert

Eine Schriftstellerin fühlt sich durch die jüngsten Ereignisse an ihre Jahre in der DDR erinnert.

Sabine Lange erzählt von ihrem Gefühl, wieder DDR zu sein. Die ehemalige Fallada-Archivarin, Schriftstellerin und Pianistin beschreibt in ihrem Text, wie es ist, ins Abseits gedrängt zu werden — fremd im eigenen Land. Eine autobiografische Betrachtung über Stasi, Freiheit, Boostern und das lausige Gefühl, Widerständlerin zu sein. Die Autorin knüpft damit bewusst an ihr Tagebuch des Sterbens vom Vorjahr mit dem Titel „Hier mein Cluster, Herr Drosten“ an, das als Vierteiler auf Rubikon und später auch als Buch erschienen ist.

Wie hat es mich wieder so langsam an den Rand gespült? Warum bin ich wieder nicht bei den meisten? Die meisten formieren sich und haben Macht. Die meisten sind geimpft, ja tatsächlich die meisten. Manchmal kommt mir der Schritt ganz klein vor, dann bin ich wieder bei den meisten. Und dann, wenn ich mir vorstelle, ihn zu gehen, sehe ich die Schluchten sich öffnen, die Bergkrater sich auftürmen. Dann kommen auch sofort Verbündete, die mich bestärken! Und schon bin ich wieder auf meinem Platz. Ziemlich einsam. Im Abseits. Im Widerstand.

Warum muss ich wieder DDR sein? Dieses Gefühl, das ich überwunden glaubte mit dem Fall der Mauer 1989. Plötzlich waren wir ein Strom, wir waren jetzt die meisten. Die nach Freiheit ausgehungert über die Ufer traten. Und das Land überschwemmten.

Die Einsamkeit in der DDR war lausig. Widerstand ist lausig. Einer großen aufmüpfigen Familie entstammend, gab es kaum ein Entrinnen vor der Staatsräson.

Lausig. Nie konnte man sich in der Kunst oder auch in der Wissenschaft ganz inhaltlichen Fragen hingeben, es ging immer nur um das Grundbrot, um zu überleben. Gibt es nochmal ein anderes Leben? Jetzt wo ich wieder DDR bin und erstarrt bin über den Sinneswandel des Sinns. Aber ich beschuldige niemanden. Außer der Mikrobe natürlich.

Es ist wie Sisyphus, der mit dem Stein nach oben, oder der endlose Wüstensand. Es ging schnell, dass ich wieder ins Abseits geriet. Aber wahrscheinlich, weil das Leben ohnehin schnell vorbeigeht. Zehn Jahre nach der Wende befand ich mich immer noch im Griff der Stasi, bis ich mich ihrer entledigen konnte, durch einen Ruck, durch den dann allerdings auch alles andere von mir abfiel, Job und Geld. Ein Ruck ist nicht immer gut. Manchmal ist auch ein kleiner Schritt gut. Manchmal ist auch alles egal.

Mein Bruder zog sich am letzten 1. Mai der DDR vor der Tribüne das FDJ-Hemd aus. „Es war heiß“, sagte er später. Es kostete ihn das Medizinstudium. Am 1. August 2020 trafen wir uns an der Siegessäule. „Wir bleiben hier“ wurde skandiert, als die Polizei aufmarschierte und die Versammlung auflöste. Mehr als 30 Jahre ist der Fall der Mauer nun her, die Musik ist mir noch im Ohr: „Wir sind das Volk.“ Doch ich wollte gar nichts sein. Nur überleben.

Ich hatte im Jahr 2020 meinen Freund verloren, ich hatte gerade meinen liebsten Freund beerdigt. Er hat den ersten Lockdown nicht überlebt, der wie ein Tsunami die Altenheime unter sich begrub und Menschen erstickte.

Mein Freund war Anwalt, er sagte, wenn eine Regierung ihrem Volk die Rechte nimmt, wird sie ihm die nicht freiwillig zurückgeben. „Achtet auf Eure Rechte.“ „Ich dachte, du bist dement“, lachte ich zu ihm herauf.

Ich habe damals nichts begriffen. Er hatte sich soeben von mir verabschiedet. Manchmal ist ein Bergkrater einfach zu groß und man kann intuitiv die noch verbliebene Lebenskraft einschätzen. Seine Worte bäumen sich jetzt vor mir auf und haben sich längst potenziert. Die genommenen Rechte haben, begonnen mit den Plastetüten, durch die man sich umarmen durfte, über die Masken inzwischen die Haut selbst erreicht. Das war ja auch ein kurzer Weg. Schatz, die Regierung hat sich jetzt unserer Haut bemächtigt. Bitte, bitte, lebe wieder!

Und schon wieder erstarre ich. Wie die Stasi über meine Ehe berichtete. Alles war auch damals schon ganz dicht an der Haut. Aber es hat sie noch nicht durchdrungen.

Diese Gesellschaft setzt den i-Punkt drauf. Neulich hörte ich einen Abgeordneten des Bundestages, der sich nach 7 Monaten „boostern“ ließ, in den immer noch schmerzenden „Impfarm“. Er sprach dann von seinem Vater, der einen Tag nach der Impfung gestorben war. Ein direkter Zusammenhang zur Impfung wurde offiziell nicht nachgewiesen. Es fühle sich aber nicht gut an für ihn — sagte er.

Es lebe die Freiheit!

Wenn es doch bald Sommer wäre und wir wieder ohne Haut auf die Straße könnten. Dann könnte man das ganze Zeug in die Wasserwerfer tun und das Volk damit berieseln. Nein, Spaß beiseite. Der Schriftsteller Hans Fallada, dessen Nachlass ich lange Jahre verwaltet habe, hatte einen Freund, der als Einsiedler auf der Insel Rügen lebte und dessen Leitsatz lautete, „man müsse die Welt immer wieder von vorne denken“. Ein Satz, der mir läuternd im Gedächtnis geblieben ist und an dem ich viele Dinge immer wieder prüfe. Zum Beispiel die Impfung.

Warum reagieren so viele mit Unverständnis darauf, dass sich andere Menschen nicht impfen lassen wollen, und vermeintlich kluge, wie ein ehemaliger Bundespräsident zum Beispiel, titulieren jene „Impfverweigerer“ sogar als „Bekloppte“?

Ganz „vorne“ steht doch, dass es sich um eine Notfallzulassung handelt, dass der Impfstoff gar nicht ausgereift ist. Und um auch mal ein niedrigschwelliges Angebot zu machen: Rewe, Aldi oder Penny hätten wahrscheinlich längst eine Rückrufaktion gestartet, wegen unabsehbarer Gefahren und offensichtlich gewordener Mängel des Produktes.

Doch hier wird so getan, als lehne die halbe Menschheit eine zertifiziert heilsbringende Erlösung ab. „Geht‘s noch?“, möchte man fragen. Eine Erwägung der Impfpflicht erübrigt sich für meine Begriffe schon aus diesem Grunde.


Quellen und Anmerkungen:

Von Sabine Lange ist auf Rubikon erschienen: „Hier mein Cluster, Herr Drosten“, das Tagebuch zum Sterben ihres Freundes, hier und in weiteren 3 Folgeteilen.