Wir müssen reden

Sprache sollte nicht ein Mittel der Selbstdarstellung sein, sondern Verbindungen schaffen.

Alles kommuniziert. Ob verbal oder nonverbal: In jedem Augenblick unseres Lebens geben wir Informationen von uns. Die Sprache ist das Kommunikationsmittel des Menschen, um mit seiner Umwelt in Kontakt zu kommen. Oft benutzen wir sie, um uns selbst in möglichst positivem Licht darzustellen. Eigentlich aber dient sie dazu, uns miteinander auszutauschen, uns mit-zu-teilen. Wie bei jedem Prozess des Gebens und des Nehmens sollte möglichst keine Einseitigkeit entstehen. Das jedoch geschieht oft. Dabei ist es eigentlich ganz einfach, Sprache zu etwas Verbindendem zu machen und nicht zu etwas Trennendem.

Die Sprache ist uns gegeben, um uns einander mitzuteilen. Menschen verfügen über komplexe Systeme der Kommunikation, die in ungesteuerten Prozessen erworben werden. Gemeinhin wird zwischen Lautsprache, Gebärdensprache und Schriftsprache unterschieden. Etwa 7.000 Sprachen werden heute noch auf der Erde gesprochen. Bei 200 Staaten ergibt das einen statistischen Durchschnittswert von 35 Sprachen pro Staat. Tatsächlich werden in Europa insgesamt nur etwa 280 Sprachen gespochen, während allein auf Papua-Neuguinea 830 und auf Indonesien 700 Sprachen entfallen.

Nicht nur Menschen, auch Tiere, Pflanzen und Mineralien kommunizieren. „Man kann nicht nicht kommunizieren“ ist eines der Axiome des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawik. Im Grunde genommen kommuniziert alles: die Wolke am Himmel, der Wind auf der Haut, das knisternde Feuer im Kamin. Alles ist Information. Mit der Sprache steht dem Menschen ein besonderes Werkzeug zur Verfügung, um sich verständlich zu machen. Über die Vermittlung von Gedanken, Gefühlen und Wünschen gibt er seinem Leben Sinn und lernt, sich und die Welt besser zu verstehen.

Nicht wenige Menschen jedoch benutzen ihre Sprachfähigkeit, um sich selbst sprechen zu hören. Kommunikation ist in unserer Gesellschaft vor allem darauf ausgerichtet, Dinge bestmöglich zu vermarkten. Mancher bewegt sich, als befände er sich auf einer riesigen Marketingververanstaltung, bei der jeder sich selbst bewirbt.

Auf Sendung

Viele Menschen, so erlebe ich es, haben Probleme mit dem Zuhören. Kommunikation setzt einen Sender und einen Empfänger voraus. Oft jedoch stehen wir nicht auf Empfang. Ich kenne viele Situationen, in denen alle durcheinander sprechen und Zuhören allein wegen der Lautstärke schwierig ist. Offensichtlich gibt es ein großes Mitteilungsbedürfnis.

Manche Menschen produzieren einen ununterbrochenen Fluss an Worten, als wollten sie auf keinen Fall eine Leere entstehen lassen.

Eventuelle Sprechpausen werden durch Nachdenkgeräusche gefüllt. Manche sprechen wie in einer Art Selbsthypnose und wiederholen mantrengleich immer wieder dieselben Dinge, so als wollten sie sich stets aufs Neue davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist.

Manche reden so lange vor sich hin, bis ihnen jemand zuhört. Andere versuchen, das Gespräch zu dirigieren und alles Gesagte über sich selbst laufen zu lassen. Themen, bei denen sie sich nicht auskennen, werden abgewiegelt: „Da kann ich nichts zu sagen.“ „Du könntest einfach einen Moment zuhören.“ Vor allem Männer fühlen sich unwohl, wenn sie nicht ihr eigenes Wissen ausbreiten können. Ich erlebe sie als weniger neugierig als Frauen, wenn es darum geht, Neues zu erfahren. Ist das Neue jedoch einmal integriert, haben sie eine neue Bühne gefunden.

Sprache oder Separache?

Es ist niemandem zu verübeln, in einer Zeit der zunehmenden Sonnenstürme, kollabierenden Magnetfelder, zusammenbrechenden Stromnetze, sich häufenden Vulkanausbrüche, unvorhersehbaren Wetterschwankungen und Naturkatastrophen, einer latenten Weltkriegsgefahr, drohenden Polverschiebungen und einer sich ausbreitenden Weltuntergangsstimmung wenigstens im Gespräch die Kontrolle behalten zu wollen. Doch ich finde, jetzt, wo sich alles grundsätzlich wandelt, könnten wir auch unser Gesprächsverhalten ändern.

Mich frustriert es, nicht mehr von einem Menschen zu erfahren als die Oberflächlichkeiten, die er von sich gibt. Es langweilt mich geradezu, Zeit mit Menschen zu verbringen, die sich hinter dem Bild verstecken, das sie von sich selbst, ihrem Wissen, ihrer Familie, ihrem Job oder ihrem Club zu geben versuchen. Da passiert nichts. Da springt kein Funke. Ich finde es bedauerlich, dass wir unsere Kommunikationsfähigkeit nicht viel mehr dafür nutzen, uns aneinander zu reiben und uns wirklich mitzuteilen. So wird die Sprache, die eigentlich verbinden soll, zu dem, was der Sprachwissenschaftler Roland Ropers „Separache“, etwas Trennendes, nennt.

Können wir nicht, anstatt im Dekor steckenzubleiben, ein wenig mehr in die Tiefe gehen und uns sagen, was wirklich los ist? Mögen wir nicht ein wenig mehr Mut entwickeln und zum Beispiel auch die ansprechen, die gerade in Trauer sind oder krank?

Warum haben wir so viel Angst vor dem Thema Tod, egal, ob wir selbst oder andere davon betroffen sind? Warum gibt es heute wieder so viele Tabus, Themen, über die nicht gesprochen wird, obwohl sie lebenswichtig sind? Warum geht die Meinungsvielfalt so sehr zurück, dass auch die Meinungsfreiheit leidet?

Es könnte anders sein. Anstatt uns in leerlaufende Wortmühlen zu verwandeln oder die Bemerkungen anderer als Sprungbretter für die eigenen Ausführungen zu benutzen, anstatt die Bühne zu suchen und andere zu Zuschauern und Statisten zu degradieren, anstatt uns darauf zu beschränken, mit Alexa oder unserem Haustier zu kommunizieren, könnten wir wirklich etwas für die Menschheit tun. Wir könnten einem Menschen eine Frage stellen, eine einzige, eine, auf die jeder eine Antwort hat: Wie geht es dir?

Ganz einfach

Vor vielen Jahren war ich einmal in der „Semana Santa“, der Woche vor Ostern, in Sevilla. Zu einem bestimmten Zeitpunkt versammelten sich Tausende von Menschen auf einem Platz und lauschten in Stille einer einzigen Stimme, die von einem Balkon erklang. Es war ein erhebendes Gefühl für mich als Zuhörerin. Es lässt mich heute daran denken, was für eine Wohltat es für einen Menschen ist, wenn ihm zugehört wird. Wenn er ganz frei sprechen kann, ohne unterbrochen zu werden. Wenn wohlwollende Blicke auf ihm ruhen. Wenn ihn niemand beschuldigt oder anklagt für das, was er sagt. Wenn er sich für nichts rechtfertigen muss. Wenn er einfach sein darf und andere sein Sein bezeugen.

Für mich bedeutet das Glück. Es geht eine ungeheure Heilkraft von Menschen aus, die zuhören, ohne zu urteilen, die einfach da sind und sich und anderen einen Raum bieten, in dem jeder seinen Platz hat. Hier bist du willkommen. Hier wirst du so angenommen, wie du bist. Hier bist du erwünscht, weil du so bist, wie du bist. Hier wirst du nicht für deine Worte und Gedanken benotet, hier gibt es kein Framing, keine Kontaktschuld, keine Wokeness. Hier kannst du dich entfalten.

Dieses Geschenk können wir uns gegenseitig machen. Jeder Mensch kann das. Jeder kann sich für andere interessieren. Jeder kann einen anderen beim Namen nennen und ihn fragen, wie es ihm geht. Jeder kann in sich hineinspüren und sich selbst fragen, was gerade in ihm los ist. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind ganz einfach. Wir müssen keine Doktorarbeit schreiben oder den Kilimandscharo erklimmen, um dazu in der Lage zu sein.

Wir sind Menschen. Menschen sind soziale Wesen und tragen das in sich. Die Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende hat uns das nur vergessen lassen.

Seit das Künstliche in die Welt gekommen ist und das Natürliche verdrängt wird, haben wir mehr und mehr verlernt, worauf es wirklich ankommt: uns gegenseitig dabei zu unterstützen, uns weiter zu entfalten.

Funken brauchen Reibung

Die Kräfte, die dem entgegenwirken und die sich heute immer deutlicher zeigen, machen uns klar, wie wichtig es ist, wie lebenswichtig, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Tun wir es, bevor wir in den smarten Wohnboxen der 15-Minuten-Städte eingesperrt sind, in Homeoffice und Homeschooling isoliert, von Drohnen beliefert und abgetrennt von der Außenwelt. Lassen wir uns wieder aufeinander ein. Berühren wir uns. Lassen wir die Reibung zu und die Erkenntnisfunken, die sich daraus ergeben.

Bilden wir Gruppen, in denen andere Regeln gelten als die, die man uns aufzuzwingen versucht. Machen wir andere Erfahrungen. Die Philosophin Gwendolin Walter-Kirchhoff spricht von kleinen Portalen, die es überall zu öffnen gibt (1). Schauen wir hindurch. Seien wir neugierig. Die großen Enthüllungen waren wichtig. Doch jetzt kommt es darauf an, im Kleinen wirksam zu werden.

Unterschätzen wir dabei nicht die Strahlkraft eines warmen und offenen Herzens. Begegnen wir einander. Begrüßen wir uns. Lächeln wir uns an. Zeigen wir uns, dass wir uns mögen.

Tragen wir Sorge füreinander. Reden wir. Heben wir die Tabus auf und sprechen wir über alles. Sprechen wir uns aus. Fragen wir uns nicht, ob das andere auch tun. Tun wir es. Machen wir es einfach. Und bleiben wir hier nicht stehen.

Es gibt viel zu tun

Anstatt die zu bekämpfen, die wir nicht wollen, machen wir das, was wir wollen. Jemanden zum Tee einladen, zum Beispiel. Dem Nachbarn ein Stück Kuchen vorbeibringen. Einen alten Menschen aus seinem Leben erzählen lassen. Einer Freundin sagen, dass sie schön ist. Ein Gerät verleihen. Seine Küche, sein Wohnzimmer oder seinen Garten öffnen. Kleine Konzerte veranstalten. Reparaturwerkstätten öffnen. Dinge zusammen auf die Beine stellen. Seine Kräfte und Kompetenzen vereinen. Gemeinsam Probleme lösen. Am eigenen Leib erfahren sie, dass Gemeinschaft glücklicher und zufriedener macht als Isolation.

So können sich neue Familien bilden, die nichts zu tun haben mit den patriarchalen Strukturen, aus denen heraus sie sich einmal gebildet haben, oder mit der Vereinzelung, mit der alleinerziehende Elternteile heute zu kämpfen haben. Wärme geben ist einfach, wenn Menschen zusammenkommen. Anstatt alleine zu frieren, rücken wir näher zusammen und leben wieder Menschlichkeit. Das Einzige, was man verkehrt machen kann, ist, darauf zu warten, dass jemand anderes anfängt.

Ich erlebe das in einem kleinen südfranzösischen Dorf, das auf den ersten Blick völlig bedeutungslos erscheint. Doch wenn die Türen sich öffnen, passiert etwas. Es gibt Gemeinschaft statt Isolation, Bindung statt Trennung, Fragen statt vorgefertigter Antworten, Zweifel statt Belehrung, Berührung statt Distanz, Echtheit statt Maske. Alles das, was während der Coronajahre unterbunden wurde. Daran können wir erkennen, wie wichtig es ist.

Ob drei oder zwanzig: Es gibt einen Jour fixe, der wie ein Ankerpunkt in der Woche ist. Wie zu Studentenzeiten das mitgebrachte und geteilte Essen auf den Knien, sitzen Menschen zusammen, alt und jung, geimpft und ungeimpft, gesund und krank. Manchmal reden alle durcheinander, manchmal wird zugehört. Immer jedoch sind sich die Menschen darüber bewusst, dass sie füreinander da sind, wenn es darauf ankommt.