Wo darf's denn hingehen?

Zwei Patienten und nur ein Beatmungsgerät: Wen retten wir jetzt, das System oder uns?

Sogar die riskante Reaktion ohne Zahlengrundlage haben wir also verbockt. Sogar das – wirtschaftlich hochriskante – „auf Nummer Sicher mal 2 Wochen drinbleiben, Folgen klären wir später“ haben wir nicht hinbekommen wegen unseres eitlen Streits über Wodarg vs. Drosten, Alarmismus vs. Verniedlichung und „gilt für ‚eingeschränkter Kontakt‘ norddeutsches Recht, maximal 2 Personen, oder rheinländisches, maximal 15 Personen?“. Zuverlässige Daten bekommen wir, wenn überhaupt, erst ab Sommer. Die in Asien umgesetzten vier wichtigsten Elemente zum raschen Ausbreitungsstopp des – egal wie gefährlichen – Virus stehen uns nun schlicht nicht mehr zur Verfügung. Wir können weder testen – keine Tests, keine Laborkapazitäten – noch flächendeckend dauerdesinfizieren – kein Ethanol mehr – noch Erkrankte sofort identifizieren und temporär isolieren. Tomas Pueyo liefert bei Bedarf ein Epidemiediagramm zum Selbstverschieben aller Parameter, Asien staunt fassungslos über die Nichtreaktion von EU bis US. Fest steht aber: Ob wir nun, hoffentlich, bis zum Jahresende keinen einzigen zusätzlichen Toten beklagen oder, hoffentlich nicht, viele Millionen, wir stehen so oder so unmittelbar vor dem Zusammenbruch unseres global vernetzten Wirtschaftssystems – und vor einer tatsächlich umgehend zu treffenden Entscheidung: Stellen wir die Weichen für unsere Zukunft neu, oder beatmen wir den Wachkoma-Patienten Kapitalismus weiter, um jeden Preis?

Dies nur kurz für die Wiedervorlagemappe – weil es derzeit zu laut ist für alle wesentlichen Dinge... Zeitnahe Wiedervorlage wäre allerdings wünschenswert, nach meinem bescheidenen Dafürhalten. Es sei hier die Feststellung gestattet, dass vernünftiges Verhalten, vor Covid strikt verboten und geächtet, plötzlich strikt vorgeschrieben ist. Wer es wagt, nur wegen eines nutzlosen Bullshitjobs durch die Gegend zu fahren, wird ab morgen festgenommen. Niemand darf mehr erkältet zum Hausarzt – man holt sich seine Krankschreibung gefälligst auf dem Postweg ab. Wer nicht zur Schule geht, sondern online lernt, wird gelobt. Wer weitere Autos herzustellen versucht, wird aus dem Werk ausgesperrt. Das nicht behördlich genehmigte Umpanschen von Wodka zu Desinfektionsmitteln wird begrüßt.

Wir haben allerdings gerade 2 echte Probleme: Erstens können wir uns nicht gegenseitig in den Arm nehmen und nicht so helfen, wie wir´s gern wollten, zweitens haben wir ab morgen keine Arbeit mehr und ab übermorgen kein Geld. Geld, präzisierend, ist dabei indes nur Mittel zum Zweck, denn wir müssen ja Miete zahlen, Gas, Strom, Wasser und unsere Brötchen – oder Schnitzel. Und „wir haben keine Arbeit mehr“ ist erst recht relativ, denn es gibt ja genug zu tun.

Was wir brauchen und was wir zu tun haben, sehen wir jetzt. Wir brauchen Ärzte und Pfleger, wir brauchen Bauern und Erntehelfer, die den Spargel aus der Erde ziehen, wir brauchen Leute, die die Ernte, von Karotte bis Klopapier, an den zahlreichen Ausgabestellen verteilen. Wir brauchen die Feuerwehr, die Müllabfuhr und Leute mit hübschen Mützen, die Gauner jagen. Nein, die Liste ist nicht vollständig; Platz für Notizen haben Sie zuhause.

Es zeigt sich: Was die meisten von uns täglich so „arbeiten“, ist offensichtlich nicht essentiell. Obendrein verbraucht es Ressourcen, die wir nicht haben, versaut die Atemluft nicht nur in Norditalien und unseren Kindern die Zukunft. Also lassen wir das doch einfach mal sein.

Aber wir brauchen doch Geld!

Stimmt das?

Bitte sauber bleiben: Wir brauchen Wohnraum, gut beheizt, wir brauchen Essen, Getränke, Schokolade, wir brauchen Möglichkeiten, unsere Freunde nicht nur online zu treffen, sondern auch live – also Fahrräder, BusBahnAuto und – sehr selten – Flugzeuge. Wir brauchen Orte, an denen wir uns begegnen können, und Orte, an die wir uns zurückziehen können.

Das alles haben wir. Doppelt und dreifach. Wir wohnen nicht in Somalia.

Überdies haben 70 Prozent von uns plötzlich den ganzen Tag Zeit.

Machen wir's doch mal so: Wir sind das Volk, wir sind der Staat, das bestreitet ja keiner. Also drucken wir jetzt Vattenfall und Co. Giralschecks über 3 Phantastillarden Neumark, damit sind all unsere Stromrechnungen bis 2022 bezahlt. Gleichermaßen großzügig überweisen wir giral an unsere Gas- und Wasserversorger. Mietzahlungen stellen wir mit sofortiger Wirkung ein. Vermieter, die dadurch in materielle Not geraten, fangen wir kollektiv auf, Gästezimmer stehen in ausreichender Zahl zur Verfügung. Da unsere Banken und Versicherungen durch diese Maßnahme natürlich über Nacht pleite sind, haben wir hernach eben beides nicht mehr. Unser Geld ist weg. Unsere Versicherungen auch. Unser Staatshaushalt auch.

Versicherungen brauchen wir aber nicht mehr. Wir versichern uns ja gegenseitig, dass wir einander helfen. Wir haben alle Zeit. Für unsere Alten und für unsere Jungen. Rente? Wozu? Unsere Alten wohnen doch, gut beheizt, gut versorgt, besucht und gepflegt. Wir brauchen weder Renten noch Rentenversicherung. Es genügt, dass wir einander unserer Solidarität versichern. Und Banken? Wozu? Wir brauchen ein Tauschmittel? Immer gern. Dann drucken wir uns eben eins. Weil wir das tatsächlich brauchen, siehe gleich. Aber unser neues Tauschmittel rostet, wenn es zu lange liegt. Habenzinsen? Gibt es nicht mehr.

80 Millionen Menschen haben ab morgen keine Angst mehr und keinen Existenzdruck.

Und keiner von denen weiß dann, was zu tun ist? Keiner von denen wird dann noch alte Leute pflegen, Medikamente entwickeln, den Spargel aus den Feldern ziehen, Feuer löschen, Gauner jagen oder lustige Videos ins Netz stellen?

Langsam.

Wir sprechen hier von einer vollständig existenzangstfreien Gesellschaft. Abermals: Wir sind nicht in Somalia. Wir haben genug Häuser und Wohnungen, wir haben genug Kraftwerke, Straßen, Krankenhäuser und Polizeiwagen, wir bauen 100 Prozent unseres Lebensmittelbedarfs selbst an, und das tun wir dank unserer Maschinen (alle schon da) höchst effizient und effektiv. Schon lange. Wir haben sogar genug „regenerative Energiequellen“, um unseren gesamten Bedarf zu decken. Unseren privaten Bedarf. Nicht den Bedarf unserer Industrie. Aber die haben wir ja gerade abgeschaltet, weitgehend.

Wir haben alle ein Dach über dem Kopf, beheizt, mehr als genug zu essen und zu trinken. Und YouTube. Und Skype.

Jetzt brauchen wir aber noch Klopapier.

Und jemanden, der den Spargel rauszieht.

Und jemanden, der die Alten pflegt.

Und die Jungen unterrichtet. (Online, gern auch mal live versammelt).

Und jemanden, der Gauner jagt. Und Feuer löscht.

Dafür haben wir jetzt 80 Millionen Kandidaten.

Wer das nicht machen möchte, hat's warm, unter einem Dach, mit Essen, Trinken, YouTube.

Wer das hingegen sehr wohl machen möchte, der wird von uns honoriert. Mit Rostgeld (siehe oben).

Das heißt: Es setzt ein gewaltiger Run ein auf all die Tätigkeiten, die wirklich erledigt werden müssen. Den Preis hierfür regelt tatsächlich „die unsichtbare Hand“, denn nur die Besten werden unsere Kinder unterrichten, nur die schnellsten werden unsere Feuer löschen und unsere Gauner jagen, und nur die freundlichsten werden unsere Alten pflegen.

Niemand wird diese Besten, Schnellsten, Freundlichsten darum beneiden, dass sie ein bisschen mehr Rostgeld haben als wir alle, die wir diese wichtigen Jobs nicht bekommen haben. Uns anderen wird schon was einfallen, denn wir können ja auch noch was anderes. Zum Beispiel Sachen reparieren. Oder ein Perpetuum mobile erfinden. Oder lustige Videos drehen.

Und sollte dies oder jenes den anderen richtig gefallen, bezahlen sie dafür bestimmt auch ein bisschen Rostgeld. Aber selbst wenn nicht, stört uns das auch nicht, denn wir sind erstens angstfrei in Sicherheit, und zweitens tätig, weil es uns Freude bereitet.

Und da unsere Existenzangst über Nacht verschwunden ist, ist unsere Kreativität und Freude grenzenlos.

Zudem wird, um diesen Ausblick zu beenden, eine ganz neue Währung auf der Welt erscheinen, über Nacht. Denn da wir nichts und niemanden mehr über Geld definieren können, wird uns plötzlich auffallen, dass es einen anderen Maßstab gibt, der uns beeindruckt.

Unser Neid wird nicht spurlos verschwinden. Wir werden die beneiden, die von allen geliebt und geschätzt werden, weil sie viel können und alles teilen. Wir werden diesen Leuten nacheifern, so gut wir können, denn wir lieben es, geschätzt zu werden.

Wir werden einen wilden Wettkampf erleben darum, wer den anderen am besten hilft.

Das ist die Downside: Wir werden manchmal abends ins Bett sinken, erschöpft von all dem Wettkampf-Altruismus, und einsehen müssen, dass uns schon wieder eine/r besiegt hat in den Gutmenschen-Charts. Aber wir bleiben ehrgeizig. Morgen! Morgen werden wir selbst ganz oben stehen in dieser Liste!

Aber vielleicht bleiben wir morgen auch einfach mal liegen, es ist ja da draußen für alles gesorgt.

Sie ärgern sich schon die ganze Zeit und denken in Großbuchstaben: WAHNSINN! ABER! DAS GEHT DOCH ALLES NICHT!

Gut. Dann machen Sie mal einen besseren Vorschlag. Aber kommen Sie mir nicht mit dem Vorschlag, wir könnten doch einfach unsere Banken und Versicherungen und 60 Prozent Bullshitjobs mit selbstgedrucktem Geld retten und so weiterfahren wie vorher. Das ging nämlich schon vorher nicht, aber dieser Weg ist jetzt endgültig vom Tisch.

Glauben Sie nicht? Wir sprechen uns im Sommer. Behalten Sie diesen ärgerlichen Schmierzettel mal solange auf dem Tisch, irgendwo zwischen Ihrem Berg unbezahlter Rechnungen und den Kontoauszügen Ihrer geplatzten Banken und Versicherungen. Wir können uns dann ja nochmal zusammensetzen. Ich gestehe aber, dass ich früher besser fände als später.

Ich wünsche Ihnen, uns und mir eine rasche Genesung und einen milden Verlauf.