Wurzeln in der Welt
Die Frage nach der Bedeutung des Begriffs „Heimat“ ist inzwischen mehr als eine Definitionsangelegenheit — sie ist ein Politikum.
In der deutschen Geschichte wurde der Begriff „Heimat“ politisch missbraucht. Kaum etwas positives haftet ihm noch an und wer ihn verwendet, muss damit leben auch seinen negativen Schatten in den Raum zu werfen. Ist das Grund genug, ihn zu stigmatisieren oder gar zu verwerfen? Und bleibt nicht dennoch die Sehnsucht nach dem eigenen Platz in der Welt? Menschen und Gesellschaften, die sicher in sich selbst beheimatet sind, können auch Veränderungen willkommen heißen, denn sie kennen sich selbst und ihre Grenzen. Ist das nicht der Fall, wird immer etwas fehlen.
Ich lebe seit nunmehr acht Jahren auf der Kanareninsel La Palma. Kürzlich war ich mal wieder in der „alten Heimat“. Ich komme aus dem schönen Odenwald und habe dort mit meiner Tochter eine „Nostalgie-Tour“ unternommen. Dabei wurde ich mit Gefühlen konfrontiert, mit denen ich nicht gerechnet hatte; sie sind schwer zu beschreiben. Ich war überwältigt von der doch eigentlich mir bekannten Schönheit der Gegend mit ihren Hügeln, Bächen, Wiesen und romantischen Städtchen; es schien mir aber, als würde ich alles neu entdecken. Und dann: Die Gerüche, das Wiedererkennen, die Erinnerungen schienen mich regelrecht mit Energie aufzuladen, eine seltsame Sentimentalität durchflutete mich an jeder Ecke.
Ist La Palma denn nicht meine Heimat? Nein, es ist derzeit nur mein Zuhause. Ja, tatsächlich nur das. Ein Zuhause ist noch keine Heimat. In der englischen Sprache gibt es diese Differenzierung nicht: „Home“ bedeutet gleichermaßen „Heimat“ und „Zuhause“.
Im Spanischen gibt es sie schon: „Hogar“ ist das „Heim“, das „Zuhause“, während „Heimat“ „Patria“ heißt — worin sich schon ein tieferer Hinweis findet: Der Wortstamm von „Patria“ ist „Pater“ — der Vater. Das Land der Vorväter, der Ahnen, derer, die die eigene Abstammung genetisch und kulturell bildeten. Sind wir als moderne Menschen nur „zuhause“?
Die Wurzeln
Inwieweit definiere ich mich über meine Abstammung? Ab hier wird das Eisen heiß. In Deutschland ist es uns bisher nicht wirklich gelungen, uns kollektiv von dem Teil unserer Vorväter abzulösen, die große Schuld verursacht haben. Sollte dieser Teil genügen, ein jahrhundertealtes Selbstverständnis vollständig zu leugnen? Nein, ich möchte diese Richtung hier nicht einschlagen, aber ich erkenne, dass Heimat nichts mit (National-)Stolz zu tun hat. Das ist gut, man kann es klar trennen. Also hat es auch nichts mit (National-)Scham zu tun. Ich kann mir also die Frage selbst stellen, was denn die spezielle Qualität ist, mit der ich mich meine Herkunft betreffend identifizieren möchte — so wie ich spezielle Qualitäten der Menschen hier in dieser spanischen Provinz erkenne und schätze. Es sind kollektive Muster, die wir Kultur, Tradition und Eigenheiten nennen. Sie sind die Ursache für echte, gewachsene Vielfalt und die Grundlage internationaler Partizipation.
Wenn ich in der Heimat bin, fühle ich meine Wurzeln, denen nichts Politisches oder Ideologisches anhaftet. Diese Wurzeln geben mir inneren Halt, sie werden nie obsolet, egal wie global die Welt zu sein behauptet. Menschen ohne Wurzeln sind Menschen ohne echte Identität, weil Identität niemals nur von außen kommen oder selbst gestaltet werden kann.
Konservativ oder progressiv?
Heimat ist also weniger ein Ort als vielmehr ein Gefühl — ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Teilhabe und Vertrautheit. Und Gefühle sind bekanntermaßen individuelle Erscheinungen. Man kann sie nicht vorschreiben. Sie entstehen in einer Dimension in uns, auf die wir kaum Einfluss nehmen können.
Jeder Mensch ist in gewissem Maße vorwärts gewandt und gleichzeitig regressiv: Wir wollen uns entwickeln, was aber nur von einer soliden Basis aus möglich ist. Heimat hat uns geformt; die Erfahrung des Fehlens von Heimat, beispielsweise wenn man in der Kindheit oft den Wohnort gewechselt hat, hinterlässt eine Lücke, die später kaum zu schließen ist. Heimat ist nicht nur die Grundlage einer basalen Identität, sondern auch von Geborgenheit und Sicherheit. „Ich habe meinen Platz auf dieser Welt“ ist eine Formel, die Menschen mit Heimatgefühl eher sagen können, egal ob sie in ihrer Heimat leben oder damit umgezogen sind.
Die Welt ist fluide geworden, sie hat ohne Zweifel den statischen Charakter verloren, der die Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg geprägt hatte. Aber ersetzt dieser moderne Trend den Heimatbegriff denn völlig?
Wir können auf der politischen Bühne eine gewisse, fast heuchlerische Ambivalenz feststellen. Zum einen wird Weltoffenheit und Transnationalismus als zeitgemäß, normal und modern propagiert, zum anderen werden ganze Länder stigmatisiert, denen man diese Offenheit abspricht oder deren Attitüde man anderweitig für moralisch verwerflich hält. Wir beobachten in den letzten Jahren eine politisch indizierte Bewegung, die — medial auf breiter Ebene konsequent aufbereitet — Migration und Globalisierung als durchweg positive und bereichernde Entwicklung darstellt. Dabei ist der Heimatbegriff im Weg. Allerdings ist es genau das, was Geflüchtete Menschen verlieren. Heimat lässt sich nicht einfach umziehen oder in einer fremden Kultur neu installieren. Das politische Ideal übersieht den gewaltigen Verlust, den die betroffenen Menschen erleiden.
Von der Vergangenheit befreit
Es braucht eine neue Offenheit und eine echte Toleranz, um wirkliche Identität erfahren zu können. Die lässt sich nämlich nicht zwanghaft „aus dem Nichts stricken“.
Heimat bedeutet nicht Ausgrenzung oder Abschottung, sie bedeutet nicht, in verstaubten Traditionen verhaftet zu bleiben, genauso wenig bedeutet Heimat, sich stolz auf herausragende Leistungen der Vorväter zu berufen. Erst mit einer lebendigen eigenen Heimat kann ich dem Fremden offen und lebendig begegnen, kann es wirklich willkommen heißen, denn meine Welt ist sicher, sie kann gar nicht vereinnahmt werden.
Hätten wir in Deutschland einen gesunden Heimatbegriff entwickelt, gäbe es keinen wirklichen Nährboden für Rechtsextremismus. Die Chance dazu hatten wir. Rechtsextremismus ist ein Angstreflex vor drohendem Identitätsverlust. Identität aber braucht vitale Wurzeln, die über einen reflexiven und aktiven Austausch bewusst bleiben. Heimat ist weder Kitsch noch politisches Statement.
Heben wir „Heimat“ in den Plural, lässt sich vieles entschärfen. Wir finden die Kindheitsheimat, die geistige Heimat, die Wahlheimat, wir können uns beheimaten lassen oder uns beheimatet fühlen. Nur leugnen dürfen wir sie nicht.
Von exklusiv zu inklusiv
Heimat ist die Grundlage persönlicher Stabilität — dabei spielt es keine Rolle, ob diese Heimat eine geographische oder eine ideelle ist. Diese Stabilität gibt die Sicherheit, die Ambivalenzen aushält, die Spannungen ertragen kann. Sie ist dynamisch, verändert sich aber in einem natürlichen Tempo, das heißt, sie beugt sich keinen politischen Statements oder moralischen Soll-Forderungen.
Eine beheimatete Gesellschaft hat eine hohe Resilienz und ist damit geeignet, Veränderungen unbeschadet zu begegnen. Eine solche Gesellschaft kann integrieren, doch kennt sie ihre Grenzen.
Die Peripherie ist wie bei der biologischen Zelle durch eine offene Membran geschützt, die aber gleichzeitig verhindert, dass für den Kern (die DNS) bedrohliche Überforderungen auftreten. Jeder Organismus überlebt in der Umwelt nur, weil er mit der Fähigkeit zur Selbstbehauptung ausgestattet ist. „Fluide Heimat“ entsteht durch gelebte Praxis und Bindungen, die beiderseits freiwillig eingegangen werden und keine der beiden Seiten überfordert.
Heimat ist dann nichts Statisches mehr, sondern ein Prozess. Über Generationen gewachsene Bräuche, Rituale und Gewohnheiten stehen im Wechselspiel mit dem Neuen, erfahren einen Austausch mit dem kulturell nicht Identischen, gebären das kulturell Hybride, das Zugehörigkeit durch Teilhabe bildet und neue Räume erschafft. Die Erfahrung der Tiefe der Herkunft lässt sich nicht künstlich herstellen, die gelebte Teilhabe schon. Beides bildet ein gemeinsames Spannungsfeld, in welchem ein moderner und zeitgemäßer Heimatbegriff entstehen kann.
Hier ist es nicht mehr möglich, „Heimat“ politisch zu instrumentalisieren oder als Kampfbegriff abzuwerten — denn dazu ist sie zu wertvoll. Sie bildet eine gesunde, fundamentale, menschliche Wirklichkeit ab, die in jedem angelegt ist und weder „bunt“ übermalt noch als überholt dargestellt werden kann. Ebenso wenig ist sie ausschließlicher Teil einer nationalistischen Denkweise. „Heimat“ überschreitet ein „Zuhause-Sein“ und bedarf weder einer Verallgemeinerung noch einer speziellen Definition. Heimat wirkt verbindend, nicht trennend, weil ein solides Heimatgefühl Zugehörigkeit und Sicherheit vermittelt und gleichzeitig das Andere ebenso respektiert.
Der Mensch als Geist-Seele-Körper-Einheit hat in allen drei Dimensionen auch eine Heimat. Mit dem Wissen und der Anerkennung dessen kann „Heimat“ unbelastet verwendet werden: als anthropische Eigenschaft, als subjektive, aber reale menschliche Wirklichkeit und als Ausgangspunkt einer gestalterischen und gemeinsamen Zukunft.