Zählen unerwünscht
Einiges deutet darauf hin, dass der politische Apparat das BSW aus dem Bundestag hält.
Es geht nicht um Geschmack. Es geht um das Fundament. Wenn eine junge Partei knapp unter fünf Prozent landet, mit einem Abstand, der nicht einmal in die Größenordnung eines gut gefüllten Fußballstadions fällt, und zugleich konkrete Unstimmigkeiten bei der Auszählung reklamiert, dann ist das keine Fußnote. Dann ist das eine Bewährungsprobe der Demokratie. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat genau diese Probe eingefordert: Nachzählen. Transparent. Zügig. Ohne Theater. Passiert ist wenig. Statt einer klaren, schnellen Entscheidung erleben wir Zeitspiel im parlamentarischen Verfahren und eine mediale Kulisse, die die Partei wahlweise als Störfall, Modeerscheinung oder Problem behandelt. Und so steht am Ende nicht die Frage, ob man das BSW mag oder nicht. Sondern die Frage, ob Kontrolle in diesem Land nur dann gilt, wenn sie ungefährlich ist.
Deutschland wird seit Mai 2025 von einer Koalition aus CDU/CSU und SPD geführt; Bundeskanzler ist Friedrich Merz. Das Parlament hat mit Julia Klöckner (CDU) eine neue Präsidentin, die zweite Frau in Folge in diesem Amt. In dieser Konstellation ist eines sichtbar geworden: Die politische Mitte hat sich neu sortiert, aber ihr Kontrollreflex gegenüber allem, was nicht in das gewohnte Raster passt, ist geblieben. Das betrifft nicht nur radikale Kräfte, sondern auch Formationen, die sich bewusst quer zu den eingefahrenen Lagern stellen, wie eben das BSW.
Das BSW ist kein Wunderwesen. Es ist eine Partei mit klassischen Zielen: soziale Balance, wirtschaftliche Vernunft, Friedenspolitik. Genau diese Mischung macht sie für sehr unterschiedliche Milieus wählbar und für das politische Establishment unberechenbar.
Wer nicht eindeutig in „links“ oder „rechts“ verortet werden kann, stört die gewohnte Erzählung. Und wer die gewohnte Erzählung stört, dem wird zunächst Legitimität abgesprochen, nicht offen, aber durchaus spürbar: durch Ignoranz, Verzögerung, Deutungshoheit.
Nach amtlicher Feststellung fehlten dem BSW zur Fünf-Prozent-Hürde nur wenige tausend Stimmen, Größenordnung rund 9.000 bis 13.000 je nach Zählstand (vorläufig/amtlich). Die Differenz ist sachlich klein, politisch riesig. Sie entscheidet über Fraktionsstärke, öffentliche Mittel, Ausschusssitze, kurz: über Parlamentspräsenz oder Unsichtbarkeit.
Das BSW hat, laut eigener Darstellung, in mehreren Wahlbezirken falsche Zuordnungen und Plausibilitätsprobleme festgestellt, unter anderem Verwechslungen mit ähnlich lautenden Parteien, uneinheitliche Prüfketten und Abweichungen zwischen vorläufigem und amtlichem Ergebnis. Man muss diese Hinweise nicht für „Beweise“ halten. Aber sie sind konkret genug, um eine vollständige, zeitnahe Prüfung zu rechtfertigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat Eilanträge auf sofortige Neuauszählung abgewiesen, nicht mit dem Argument, dass alles korrekt sei, sondern mit dem formalen Hinweis: Zuerst ist der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages am Zug. Übersetzt: Das Parlament muss seinen Job machen. Tut es das zügig, stärkt es Vertrauen. Zögert es, aus politischer Opportunität, Reibungsverlusten, Überforderung, beschädigt es die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems.
Zeit ist Politik: Warum Verzögern faktisch entscheiden kann
Wahlprüfung ist kein Hobby der Opposition, sondern Kernmechanik der Demokratie. In früheren Fällen, etwa bei kommunalen Unstimmigkeiten, wurde teils rasch nachgezählt. Warum? Weil niemand riskieren will, dass der Eindruck entsteht, das Ergebnis sei wichtiger als seine Korrektheit. Genau dieser Eindruck entsteht aber derzeit.
Wenn Monate ins Land gehen, ohne dass der Wahlprüfungsausschuss zu einem belastbaren Beschluss kommt, passiert politisch zweierlei: Erstens, die „erzählte Realität“ verfestigt sich, ein Parlament, das zusammensitzt, Ausschüsse besetzt, Gesetzgebung betreibt. Zweitens, die Hürde für eine spätere Korrektur steigt, weil jeder Eingriff in eine bereits gelebte Praxis als „destabilisierend“ gilt. Verfahrensverschleppung ist damit kein neutrales Versehen, sondern eine faktische Vorentscheidung.
Das BSW reagiert entsprechend: mit offenem Druck auf die Bundestagspräsidentin, mit öffentlich formulierten Fristen und, wenn nötig, mit der Androhung weiterer Schritte nach Karlsruhe. Das mag manchen nerven, ist aber systemlogisch: Wer auf die Schiedsinstanz verwiesen wird, darf erwarten, dass sie spielt, und zwar nicht erst zum Saisonende.
Es ist auffällig, wie ein Teil der Leitmedien über das BSW berichtet: viel Personenkult (Wagenknecht), wenig Sachfragen; viel Prognose, wenig Prozedur. Das Muster ist bekannt: Neue Kräfte werden über ihre Chancen definiert, nicht über ihre Argumente. Damit verschiebt man die Debatte von der demokratischen Frage — „Wird korrekt gezählt?“ — zur PR-Frage: „Wird da nur geklagt, um im Gespräch zu bleiben?“.
Dieser Perspektivwechsel ist bequem und gefährlich. Denn er immunisiert das System gegen berechtigte prozedurale Kritik. Wer auf Verfahrensfehler hinweist, gilt schnell als schlechter Verlierer. Wer Transparenz fordert, als Populist. Am Ende lernt die Öffentlichkeit: Nicht wer Recht hat, zählt, sondern wer erzählt.
Der Elefant im Raum: Chancengleichheit ist messbar — oder nichts
Demokratische Chancengleichheit heißt in der Praxis:
• gleicher Zugang zu Kontrolle (Wahlprüfung, Akteneinsicht, Protokolle),
• gleiche mediale Sichtbarkeit (nicht künstlich kleinrechnen, nicht tendenziell rahmen),
• gleiche verfahrensmäßige Fairness (zügige, nachvollziehbare Entscheidungen).
Nichts davon ist „linke“ oder „rechte“ Agenda. Es ist der Handlauf der Republik. Wer an diesem Handlauf sägt, aus Machtkalkül, Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit, riskiert den Sturz aller.
Gerade weil das BSW keine Systemsprenger-Partei ist, sondern mit vernünftigen, sozial-ökonomischen und außenpolitischen Forderungen antritt, ist dieses Verfahren so aufschlussreich: Wenn sogar hier die dringendste Selbstverständlichkeit, „nachzählen, bitte“, zur Hängepartie wird, wie robust ist dann der Gleichheitsanspruch gegenüber Kräften, die man wirklich nicht mag?
Dieser Text behauptet nicht, dass „der politische Apparat“ das BSW absichtlich draußen hält. Er behauptet etwas Bescheideneres und Brisanteres: dass die Gesamtheit aus parlamentarischer Trägheit, parteipolitischer Interessenlage und medialer Rahmung den Eindruck erzeugt, es solle lieber alles bleiben, wie es ist. Das reicht in einer Demokratie, um Zorn zu legitimieren.
„Möglicherweise“ ist kein rhetorischer Trick, es ist der korrekte Begriff, solange keine Neuauszählung oder eine ebenso eindeutige amtliche Klarstellung den Zweifel beseitigt. Wer diesen Zweifel aushält, stärkt die Republik. Wer ihn wegmoderiert, schwächt sie.
Was jetzt zu tun wäre — eine Minimalagenda, die niemandem wehtun dürfte
Erstens: Frist setzen, Beschluss fassen.
Der Wahlprüfungsausschuss muss innerhalb einer klaren, kurzen Frist entscheiden, ob er eine umfassende Überprüfung anordnet oder nicht. Beides ist legitim. Nicht legitim ist, die Entscheidung zu vermeiden.
Zweitens: Vollständige Dokumentation.
Alle relevanten Prüfpfade, von strittigen Wahlniederschriften bis zu Korrekturbuchungen, müssen öffentlich nachvollziehbar werden — soweit datenschutzrechtlich zulässig. Wer Transparenz scheut, verliert den Definitionskrieg gegen den Verdacht.
Drittens: Einheitliche Maßstäbe.
Was bei Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen — Nachzählungen nach erkannten Unstimmigkeiten — möglich war, muss bundesweit Standard sein. Einheitliche Trigger — Abweichungsquoten, Auffälligkeiten, Namensverwechslungen — gehören in ein öffentliches Protokoll.
Viertens: Medienpflicht zur Prozedur.
Wer über die Fünf-Prozent-Hürde berichtet, muss über die Prüfschritte berichten, nicht nur über Umfragen. Der demokratische Wert einer Wahl endet nicht mit der Hochrechnung.
Fünftens: Ergebnis kommunizieren — und aushalten.
Nach einer transparenten Prüfung gilt, was gilt. Zieht das BSW nicht ein, ist das Ergebnis solide. Zieht es ein, ist das kein Skandal, sondern der Sinn der Übung.
Ob man das BSW politisch schätzt, ist zweitrangig. Primär ist: res publica. Eine Republik lebt davon, dass auch Unangenehmes verlässlich geprüft und entschieden wird. Andernfalls wachsen zwei Lager heran, die sich gegenseitig für illegitim halten: diejenigen, die glauben, „die da oben“ schieben sich Rezepte hin und her, und diejenigen, die glauben, „die da unten“ wollten nur Chaos. Dazwischen stirbt die Mitte, die nicht aus Parteien besteht, sondern aus Regeln.
Deutschland steckt wirtschaftlich und sozial in einer schwierigen Zeit, die nur mit allgemeinem Vertrauen in der Öffentlichkeit überstanden werden kann. Vertrauen ist kein Gefühl. Vertrauen ist Wiederholung von Verlässlichkeit. Genau deshalb ist der BSW-Fall ein Lackmustest: Wenn so eine Wahlprüfung sauber, schnell, nachvollziehbar abläuft, kann man auch sehr viel Komplizierteres neu ordnen, zum Beispiel Energiepreise, Infrastruktur, Industriepolitik. Wenn aber so etwas hängen bleibt, bleibt alles hängen.
Zählen ist kein Gefallen — es ist Pflicht
Dem BSW fehlen ein paar tausend Stimmen. Das ist wenig; das ist viel. Sicher ist: Nachzählen ist billiger als Misstrauen. Und Demokratie ist kein Showformat mit Quotenlogik, sie ist ein Feinmechanik-Beruf: messen, prüfen, dokumentieren. Wer das zur politischen Option degradiert, verwechselt Macht mit Mandat.
Zählen heißt Verantwortung. Nicht, weil eine Partei es fordert, die man vielleicht nicht gewählt hat, sondern weil Wähler es verdient haben, die man nicht kennt.
Und wenn nach ordentlicher Prüfung alles bleibt, wie es ist, dann hat die Republik trotzdem etwas gezeigt, was ihr viele nicht mehr zutrauen: Ernsthaftigkeit.