Zeige deine Wunde!

Geteiltes Leid stiftet Gemeinschaftserfahrung — auch die Ostererzählung von Tod und Auferstehung gewinnt so ganz persönliche Aktualität.

In einer säkularisierten Gesellschaft wie der unseren klingt die christliche Erzählung von Ostern eher befremdlich. Sie scheint weit weg von dem zu sein, was uns zurzeit bewegt. Trennt man aber die traditionelle Ostergeschichte von ihrem religiösen Überbau, dann zeigt sich darin eine allgemeine menschliche Erfahrung, die jeder von uns in seinem Leben — mehr oder weniger bewusst — viele Male durchläuft: das persönliche Erleben, aus Leid und Tod aufzuerstehen.

Es war kurz vor Ostern. In den Supermärkten drängten sich die Menschen, um für das lange Wochenende einzukaufen. Familien bepackten ihre Autos, um in den ersehnten Urlaub zu fahren. Für mich stellte sich ein Ostererlebnis besonderer Art ein: Ich bekam ein erhebliches Zahnproblem.

Was für andere zwar ein unangenehmes, aber doch zu bewältigendes Problem darstellt, ist für mich eine Katastrophe. Denn nichts ist für mich so angstbesetzt wie der Gang zum Zahnarzt. Diese Angst begleitet mich schon, solange ich denken kann. Meine Bemühungen, ihrer Ursache auf den Grund zu gehen, waren bisher nicht sehr erfolgreich. Nach einer vorübergehenden Besserung tauchte die alte Angst immer wieder auf. Ja, sie schien sogar noch zuzunehmen.

Angst blockiert unsere Lebendigkeit

Dabei ist Angst an sich eine sinnvolle Sache. Um einer bedrohlichen Lebenssituation zu entkommen, wird unser Organismus durch Angst auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Ein Ereignis kann aber so überwältigend, eine Angst so groß sein, dass sie uns überfordert.

Um unser empfindliches Nervensystem vor dem „Durchbrennen“ zu schützen, müssen wir sie ins Unbewusste verschieben. Dort bleibt sie in ihrer ursprünglichen Intensität erhalten und blockiert als Schattenanteil unserer Psyche den Fluss der Lebensenergie. In jeder Situation, die der ursprünglichen traumatischen Erfahrung gleicht, kommt sie wieder hervor und versperrt uns erneut unseren Lebensweg (1).

Chaostage

In eine solche Situation war ich nun mal wieder hineingeraten. Hilflosigkeit und Panik machten sich breit. Der Verstand tat das Seinige noch dazu und verstärkte die Emotionen mit dramatischen Bildern, die das Gefühl des Ausgeliefertseins noch erhöhten. Alles was normalerweise in Stresssituationen hilft — zur Ruhe kommen, entspannen, meditieren — ist jetzt unmöglich. Man erstarrt wie zu Stein, fühlt sich wie angenagelt.

Spontan ging mir der Gedanke an Karfreitag durch den Kopf. Anders als in der Ostererzählung ging es hier aber nicht um den leiblichen Tod, sondern um einen seelischen Prozess, der Todesängste auslöst. Es ist ein „Schmerz, so durchdringend, dass er das Sein verschlingt“, sagte die US-amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson (1830 bis 1886). Hält man diesen Schmerz aus, geht man durch das Chaos der Gefühle hindurch, dann steht am Ende nicht der Tod, sondern ein neu gewonnenes Leben.

Vom Chaos zu einer neuen Ordnung

Das psychische Geschehen, das sich in solchen Situationen in unserem Kopf abspielt, lässt sich inzwischen wissenschaftlich gut erklären. Komplexitätswissenschaften wie die Synergetik oder dir*Chaosforschung* betrachten das Gehirn als ein komplexes, sich selbst organisierendes System, dem das Vermögen zur Emergenz innewohnt (2, 3).

Das heißt: Wenn wir in eine chaotische Lebenssituationen geraten und uns auf dieses Chaos einlassen, beginnen sich alte, dysfunktional gewordene neuronale Strukturen aufzulösen. Das Gehirn baut dann eine neue Ordnungsstruktur auf und springt damit gleichzeitig auf eine höhere evolutionäre Ebene. Die neue neuronale Struktur beinhaltet immer etwas Unerwartetes, Überraschendes, das sich nicht aus der vorherigen ableiten lässt.

Ein Vertrauen, das Berge versetzt

In all dem Chaos dieser Ostertage gab es immer wieder Lichtblicke, auch Phasen der Ruhe und der Zuversicht. Und wie so oft in schwierigen Lebenslagen stellte sich auch hier unerwartete Hilfe ein. Sie kam für mich in Form eines plötzlichen Einfalls. Ich erinnerte mich an eine kurze Passage aus einer Märcheninterpretation des Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann (4). Darin vergleicht er die Angst mit einem riesigen Berg, der sich vor unserer Tür auftürmt und uns den Weg ins Freie versperrt.

Dieses unüberwindbar scheinende Hindernis zum Verschwinden zu bringen, so Drewermann, ist keine Angelegenheit von Anstrengung und Willensanspannung nach der Devise: „Reiß Dich zusammen!“ oder „Kopf hoch und durch!“. Es ist genau umgekehrt eine Frage des Ruhigwerdens und des „Nicht-Handelns“.

Der Berg der Angst, so Drewermann, verschwindet nicht durch unser Tun. Er verschwindet durch die „Wirkung unseres eigenen Wesens“ und die Erkenntnis, dass wir unschätzbar kostbare, über alle Maßen wertvolle, unzerstörbare, ewige Wesen sind.

Um dies zu erkennen, „muss man gegen die Hektik der Angst und gegen den Zwang des ständigen Selbstbeweises denken können: Es genügt, da zu sein, und was ich wirklich bin, ist unendlich viel wichtiger, als was ich tue“ (5). Je mehr ich diese Gedanken an mich heranließ, umso kleiner wurde der Berg vor meiner Haustür und umso mehr schrumpfte mein Problem zu einer handhabbaren Größe.

Vom Sterben zum Auferstehen

Was war nun meine Auferstehungserfahrung in diesen Ostertagen? Ja, ich habe es geschafft! Der Berg vor meiner Haustür war verschwunden. Ich bin zum Zahnarzt gegangen. Aber was noch wesentlicher war: Etwas Neues, eine bisher nicht gekannte Entschlossenheit stellte sich ein, meiner alten Kindheitsangst mit therapeutischer Unterstützung auf den Grund zu gehen.

Der Rest entwickelte sich wie von selbst. Eine passende Therapiemethode wusste ich schon. Ein geeigneter Termin fand sich bei Nachfrage erstaunlich schnell, ohne Wartezeit. Das Ganze ging einher mit einem Gefühl von Stimmigkeit und Richtigkeit und der Ahnung, mit diesem Schritt ein ganz neues Kapitel meines Lebens aufzuschlagen.

„Zeige deine Wunde!“ (Joseph Beuys)

Warum schreibe ich dies alles? Warum gebe ich solche intimen Dinge von mir preis? Nun, ich denke, dass wir als Menschen alle sehr ähnliche Erfahrungen machen und jeder in irgendeiner Weise durch Ängste und Leid hindurchgehen muss.

Wenn wir bereit sind, unsere Wunden zu zeigen, helfen wir nicht nur uns selbst, wir helfen auch anderen, diesen Schritt zu tun. Und wenn wir dann unsere Heilungserfahrungen miteinander teilen, können sie zur Ermutigung und zum Hoffnungszeichen für andere werden.

„Der Kern wirklicher Verbundenheit ist geteiltes Leid“, sagt der Friedensaktivist und Konfliktforscher Danaan Parry (6). Und was brauchen wir mehr in diesen Zeiten als „wirkliche Verbundenheit“ über alle Grenzen hinweg!


** Quellen und Anmerkungen**

(1) Welwood, John: Psychotherapie und Buddhismus. Der Weg persönlicher und spiritueller Transformation, Freiburg im Breisgau, Arbor Verlag GmbH, 2010, Seite 46 bis 60.
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Synergetik
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Chaosforschung
(4) Drewermann, Eugen; Neuhaus, Ingritt: Der goldene Vogel. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, Olten und Freiburg im Breisgau, Walter Verlag, 1989, Seite 50 bis 51.
(5) Ebenda, Seite 51.
(6) Parry, Danaan: Krieger des Herzen. Eine Schulung zur friedlichen Konfliktlösung, Freiburg im Breisgau, Verlag Alf Lüchow, 1998, Seite 148.