Zeiten des Aufruhrs

Wolfgang Bittners neues Buch „Ausnahmezustand“ analysiert die geopolitischen Machtkämpfe der letzten Zeit und gibt damit Orientierung für die Gegenwart.

„Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“, lautet eine unerfreuliche, aber wichtige Erkenntnis. Auch wir erleben seit Jahren eine harsche Einengung der Informationsvielfalt, ein Fokussieren auf eine einzige „Wahrheit“. Dabei werden in letzter Zeit, insbesondere im Zusammenhang mit der Coronakrise, Andersdenkende und Abweichler nicht nur kritisiert und ausgegrenzt, sondern als Schwurbler, Idioten, Rechte oder gar Nazis diffamiert. Das Prinzip ist aus der DDR, in der der Autor 40 Jahre gelebt hat, gut bekannt. Auch dort wurden Andersdenkende diffamiert und ausgegrenzt, was eine der Ursachen für den Herbst 1989 war. Dass in einer sich freiheitlich-demokratisch nennenden Gesellschaft genau das genau so schonungslos praktiziert werden könnte, war für viele Ostdeutsche nach der „Wende“ nicht vorstellbar gewesen. Auch nicht, dass man sich heute, um keine Schwierigkeiten zu bekommen, sehr genau überlegen muss, was man in der Öffentlichkeit sagt. Man muss es schon als sehr mutig bezeichnen, wenn es jemand trotz der zu erwartenden bösartigen Reaktionen wagt, unerwünschte Wahrheiten auszusprechen. Wolfgang Bittner tut das mit seinem neuesten Buch „Ausnahmezustand“, wie er es auch in seinen bisher erschienenen Büchern getan hat. Er benennt die seit Jahrzehnten beharrlich verfolgte Strategie der USA, langfristig die einzige und unantastbare Weltmacht zu sein. Einschließlich der damit einhergehenden Halbwahrheiten und Lügen der Mächtigen.

Bittner geht dem neuen West-Ost-Konflikt auf den Grund und belegt seine Erkenntnisse mit eigentlich problemlos zu findenden, aber in der Mainstream-Meinungsbildungsmaschinerie konsequent ignorierten Quellen. So zitiert er Zbigniew Brzeziński, Präsidentenberater von Jimmy Carter, der 1997 präzise und nahezu bis ins Detail in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ beschrieben hatte, was zu Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen, nach 1945 im Kalten Krieg weiter verfolgt und nach 1990 mit der Wolfowitz-Doktrin „Defence Planning Guidance“ endgültig festgelegt wurde.

So stand immer schon Russland im Fokus. Mit sogenannten Blumen- und Farbrevolutionen wurden mehr oder weniger erfolgreiche Regime-Changes arrangiert, um das russische Riesenreich zu destabilisieren und Zugriff auf die enormen Ressourcen zu erhalten. Mit der „Rosenrevolution“ in Georgien 2003, der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine 2004 und 2005 der „Tulpenrevolution“ in Kirgisien wurden entsprechend westlich instrumentalisierte Kräfte in Regierungspositionen gebracht.

Da das mit der Orangenen Revolution in der Ukraine nicht gleich so geklappt hatte, wie es sich die Drahtzieher in Washington wünschten, wurde 2014 ein zweiter Versuch unternommen. Bittner beschreibt den Verlauf, der von Brzeziński wie folgt begründet wurde: „Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubt Russland zudem seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon ist. Unter geopolitischem Aspekt stellt der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschneidet Russlands geostrategische Optionen drastisch (...)“.

Entgegen der „Charta von Paris“ und den in den Gesprächsprotokollen Anfang 1990 festgehaltenen Zusagen, die NATO „nicht einen Inch“ nach Osten auszudehnen, wenn die Sowjetunion der Einheit Deutschlands zustimmt, stehen nun heute NATO-Verbände an der Grenze Russlands, und Manöver folgen auf Manöver. Allerdings ist das Credo unantastbar, dass die USA die Guten sind, die überall für Freiheit, Demokratie und die Menschenrechte sorgen und bösartige Diktatoren beseitigen, um den Völkern die Freiheit zu bringen — „God's own country“ eben. Auch wenn die Befreiungsergebnisse des US-Engagements im Irak, in Afghanistan, Syrien, Libyen und Jugoslawien, um nur die aktuellsten zu nennen, völlig dagegen sprechen, wurde längst schon ein sehr versimpeltes Weltbild installiert, das mit Nachdruck verbreitet wird.

In all der trüben Nachrichten- und Informationsbrühe ist Wolfgang Bittners neues Buch ein sehr wichtiges, die gegenwärtig uns alle bedrohende Ausnahmesituation erhellendes Signal. Er informiert über die transatlantischen Netzwerke, zu denen auch das Weltwirtschaftsforum in Davos zu zählen ist, wo Politiker ihre unbedingt erforderliche Prägung erhalten, damit in Europa genau die Politik gemacht wird, die den Interessen des großen Hegemons nützt. Dass unsere Politiker, die nach Brzeziński nichts weiter als einen Vasallenstatus besitzen, mit aller Macht und mithilfe völlig angepasster Medien das nun seit Jahren durchzusetzen versuchen und dabei Wahrheit und Redlichkeit überhaupt keine Rolle spielen, zeigt die Geschichte der Minsker Verträge mit erschreckender Deutlichkeit: Sie wurden — nicht nur nach Aussagen von Angela Merkel —nicht etwa geschlossen, um den innerukrainischen Konflikt im Donbass friedlich zu lösen, sondern um der Kiewer Putschregierung Zeit zu geben, für einen Krieg gegen Russland besser gerüstet zu sein.

Auch die gegenwärtigen Medienkampagnen, in denen in unterschiedlichsten Versionen die hoch kriminelle Sprengung der Nord-Stream-Röhren erklärt und die Schuld allen möglichen Kräften zugeschoben wird, um die USA trotz jahrelanger, offen geäußerter und praktizierter, massiver Gegnerschaft als unschuldig zu erklären, sprechen die gleiche Sprache.

Wolfgang Bittner bezieht in seiner Analyse auch die Politik der USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein, die den westlichen Teil Deutschlands sofort zum Brückenkopf gegen Russland aufbaute. Da dieser Krieg bis heute nicht durch einen Friedensvertrag beendet wurde, ist Deutschland auch nicht in der Lage, eine von den USA unabhängige Politik, insbesondere gegenüber Russland, zu betreiben.

Bittner verweist dabei auf den Direktor der Denkfabrik Stratfor, George Friedman, und dessen strategische Rede am 4. Februar 2015 auf einer vom US-amerikanischen Thinktank „Chicago Council on Global Affairs“ organisierten Konferenz, die die Gründe dafür nennt.

Das bislang praktizierte US-Engagement zur „Befreiung der Völker“ und die damit erzielten Ergebnisse sind alarmierend. Der gegenwärtig unzählige Todesopfer fordernde Krieg in der Ukraine, der seit 1991 mit Milliarden Dollar vorbereitet und seit 2014 mit massiven Waffenlieferungen angeheizt wurde, reiht sich da nahtlos ein. Allerdings ist Russland nicht Afghanistan und nicht mit dem Irak, mit Jugoslawien und mit Libyen zu vergleichen, sondern verfügt über ein völlig anderes Potenzial, was dieses Abenteuer insbesondere für den euroasiatischen Raum und uns alle existenziell hoch gefährlich macht.

Mit den Dokumenten im Anhang — den Reden des russischen Präsidenten Putin, des russischen Außenministers Lawrow und von Bundeskanzler Scholz — gibt uns Wolfgang Bittner am Ende des Buches im Gegensatz zu der verbreiteten Wertung einen tieferen Einblick in die Gedankengänge dieser Politiker.


Wolfgang Bittner „Ausnahmezustand: Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts


Quellen und Anmerkungen:

Wolfgang Bittner: Ausnahmezustand. Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts, Verlag zeitgeist Print & Online Höhr-Grenzhausen, 2023, 288 Seiten mit 37 Abbildungen. 19,90 Euro
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