Zivilisation im Korsett

Gerade jene Kräfte, die angetreten waren, die Macht zu kritisieren, sind aus Angst zu treuen Jagdhunden im Dienst globaler Herren geworden. Teil 2/4.

In einer vierteiligen essayistischen Spurensuche werden Muster in Politik und Geistesgeschichte herausgestellt, welche den zivilisatorischen Hirntod, genannt Pandemie, nachzeichnen. Die Rolle der politischen Linken steht dabei im Fokus, denn gerade für sie wäre Macht- und also Kapitalkritik doch wesentlich gewesen, um kenntlich zu bleiben. Über Denklinien der Postmoderne, aber auch über eine kurze Lektüre aus dem Kapital von Karl Marx wird klar: Zum Kniefall vor dem Kapital und seiner Technokratur und also auch zum Lobgesang auf das Great-Reset-Schutzgehege hätte es Alternativen gegeben. Dass die nicht erkannt oder aktiv bekämpft wurden, gerade auch von der politischen Linken, ebnet dem Durchmarsch der Diktatur in Form der digitalen Global Governance Tür und Tor.

Die Kapitelzählung erfolgt über alle vier Folgen — Teil 2 setzt mit Kapitel V. ein (Teil 1 finden Sie hier).

V.

Teil 2 des Essays beginnt mit einem scheinbaren Nebenaspekt: Ein Staat ist Staat, wenn er Macht hat. Seine Mächtigkeit übt er über Abläufe, Ketten, Order und Zuwendungen aus. Ein Staat ist eine kafkaeske Maschine aus Verknüpfungen, viele davon unsichtbar, viele antizipiert und gerade als solche wirklich und wirksam. Die Macht, die sich daraus ergibt, ist die Macht der Struktur. Ein Einzelner mit dem Zeichen an der Brust kann auftreten, ohne hervor zutreten. Mit dem Zeichen an der Brust ist er nie ein Mensch , der einzustehen hat. Tritt der Einzelne mit dem Zeichen auf, tritt die Maschine hervor, gesichtslos.

Das gilt für Polizisten, gilt für die Gehorsamen, gilt aber auch für jene, welche der Erzählung nach im Dienste des Staates stehen und Entscheidungen fällen: für Politiker. Und das öffnet die Tore der Lust, die in diesen Corona-Tagen wieder aufzublühen begann. Eine pervertierte Lust, die sich nicht aus Liberté ergibt, sondern aus der Eliminierung derjenigen, die sich mit der Selbstentfremdung nicht abfinden, das heißt, sich dem Fremddiktat nicht unterwerfen und stattdessen auf einem autonomen Raum bestehen.

Wenn rot-rot-grüne Gremien in Berlin die Zerschlagung rechtsstaatlicher Demonstrationen planen, so ist das ohne Triebbefriedigung nicht denkbar.

Und dass sich Triebbefriedigung hinter funktional-materialistischen Strukturen, wie es staatliche Strukturen sind, leicht verbergen lässt, machen solche Kanäle für Unbeholfene attraktiv: Man lässt die Polizei schlagen, eine Saskia Esken sitzt derweil am Handy und tippt „Covidioten“ ein. Diese Lust als Lust der Unbeholfenen gilt es allein deshalb mit im Auge zu behalten, weil sie sich nicht in einem autonomen Raum entfalten kann und muss, sondern stets dann, wenn die eine Ordnung für alle angepeilt ist. Zumindest so lange bis der Mensch im Cyborg verschwindet, ist diese Art der Ersatzbefriedigung ein politischer Faktor. Ohne sie ist Faschismus nicht denkbar. Ist der Mensch aber im Cyborg verschwunden, irren diese Zeilen ohnehin heimatlos im Weltraum herum ...

Der Staat liefert über seine Maschinerie den Unbeholfenen also den Korpus, den sie selbst nicht haben. Allein wie in staatlichen Strukturen diejenigen, zu deren Schutz sie scheinbar angelegt sind, alsbald zu Entmündigten werden, zeigt indes, wie die Streichung von autonomen Subjekten in funktional-materialistischen Prozessen vollzogen wird. Mehr noch: Es zeigt, dass die Abläufe nachgerade auf diese Tilgung von autonomen Subjekten zielen. Ein Staat, wie er in diesen Tagen über „Ungehorsame“ hergefallen ist, gründet nicht auf mündigen Bürgern im Kantschen Sinne. Das ist eine der Erkenntnisse dieser Zeit. Und nicht erst beim Zuschlagen auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ist die gegeben. Dort wird der Streichungsvorgang indes anschaulich samt Lustgehalt: Wo sich Menschen im Namen ihrer Eigenverantwortlichkeit gegen den — vom Staat verordneten — Schutz wehren, wird deutlich, dass der Impuls zu schützen nicht aus Empathie, sondern als Selbstzweck erfolgt, das heißt zur Absicherung der eigenen Macht.

Ein Staat, der zuschlägt, ist der Staat, der sich beziehungsweise seine Maschinerie schützt.

Genauer noch: Er schützt sich vor dem Verzicht auf seinen Schutz durch andere, das heißt vor der Möglichkeit, dass jemand seinen Schutz und damit seine Macht ausschlagen könnte. Aus dem Schlag gegen Demonstranten, die an Wände knallen, geht aber nicht nur die Streichung autonomer Subjekte hervor.

Daraus resultiert gleichzeitig die Genugtuung — sowohl für die ausführenden Beamten als auch für all jene, für die diese Ausführenden als Staatsbeamte den Korpus bilden —, diejenigen zu demütigen, die sich diesem Körper, seiner Maschinerie und seinem Schutz verweigern und so aus der Sicht jener, die den Staat brauchen — denn der Staatskörper ist ihr Körper —, diesen und dadurch sie selbst demütigen. Denjenigen es heimzuzahlen, welche die Solidarität der Gehorsamen als eine Demütigung entlarven, indem sie auf der Selbstbestimmung bestehen — darum war und ist es dem Staat zu tun: abzustrafen und zu züchtigen, wer ausschert. Demütigt die Demütiger — so die Losung, die sich in den vergangenen Wochen und Monaten übers Land gelegt hat.

Hinsichtlich dieser Zuchtqualität ist der Staat für die Unbeholfenen Auffangbecken und Lustmaschine in einem. Die Zucht ist ein zentrales Motiv. Sie erklärt die Verhaltens- und Sprachmuster, die sich auf linker Seite finden, ausgelöst durch das Virenprogramm. Zucht ist die Triebbefriedigung, die sich aus der Streichung eines autonomen Gegenübers ergibt, dessen Autonomie gegenüber dem Kapital die linken Unbeholfenen besonders beleidigen und schmerzen muss (1).

Darüber hinaus kommt der Lust am Eliminieren eine paradox kompensierende Funktion zu: Der Staat ermöglicht Machtausübung. Allerdings schützt er zuallererst das Kapital, auch und gerade die Exekutive der Linken tut dies. Die Verdrehung dieses Kapitalschutzes in einen Virenschutz ändert daran nichts, zumal das Narrativ keinen Hehl daraus macht, dass Kapital und Virenschutz zusammengehen: „Thank you Bill for leadership“ (2). Offensichtlicher kann man die Verknüpfung nicht zelebrieren.

Nun aber gibt der Staat, der das große Kapital schützt, den Linken über das Virenschutzprogramm die Gelegenheit, auf diejenigen einzuschlagen beziehungsweise mittels Polizei, Antifa, VSU-Leute und weiterer Schlagarme der Maschine einschlagen zu lassen, die sich mit dem „linken Instrument“ der Political Correctness als Kapitalisten, Neoliberale, Rechte, Nazis et cetera zurechtlegen lassen, also auf Ersatzkapitalisten und Böse, denen die Linke — die eigene sklavische Haltung gegenüber dem Kapital rechtfertigend und überdeckend in einem — einen neoliberalen Freiheitsbegriff unterstellt. Das Adjektiv „neoliberal“, bei dieser Art Schildbürgerei ins Feld geführt, dient der Maskierung der Tatsache, dass exakt die Argumentations- und Handlungsweise der Linken sich aus neoliberalen Machtverhältnissen ergeben.

Eine Verdrehung um viele Ecke, und viele solche Ecken sind nötig, mutiert so gewendet doch eine Machtdekonstruktion, also eine Zerlegung der Macht in Einzelbestandteile, um Wirkmechanismen sichtbar zu machen, wie sie beispielsweise Rainer Mausfeld geleistet hat (3), selbst zum Instrument der Machtverschleierung und/oder zur Diskurseinengung. Deutlich wird das spätestens, wenn aus dieser scheinbar emanzipatorisch-kritischen Haltung heraus dazu aufgerufen wird, den Fokus von der Person Bill Gates abzuziehen, um sich strukturellen Angelegenheiten zuzuwenden (4).

Das Einschlagen auf Ersatzkapitalisten — kleine Unternehmer, die ihre Existenz verlieren― konstruiert indes mehr als bloß ein Rechtfertigungsnarrativ. Denn so lässt sich nämlich zusätzlich auch tatsächlich jagen: kleine Kapitalisten, aber immerhin. Nicht nur das Objekt der Jagd — Ersatzkapitalisten —, auch die Jagd selbst, der Vorgang, der sich wie Kampf anfühlt, bringt endlich linke Identität zurück: Klassenkampf. Wo die Bill Gates und George Soros und Jeff Bezos als Jagdwild nicht erreichbar sind, stellt sich die Linke als deren Jagdhunde auf und hetzt einem erreichbaren Feind nach, der sich mit den Instrumenten der Political Correctness, dargereicht vom globalen Kapital, als neoliberal anschreiben lässt. Und so war und ist die Linke in diesen Pandemietagen anzutreffen: als Bracke der globalen Konzerne, als Impfvertreter und im Kampfmodus.

Ich fasse zusammen: Dass beim linken „Verschwinden zweiter Ordnung“, wie ich das benennen würde, ähnliche Mechanismen wie beim ersten Versagen — jenes gegen außen als opportunistischer Verrat lesbar — eine gewisse Rolle spielen, versteht sich. Das Virus stellt die Systemfrage — mit uns, gegen uns — radikaler, weil an Leben und Tod gekettet. Das ist der Vorteil einer Pandemie, dies hat auch die Weltgesundheitsorganisation WHO erkannt. Wer ausgestoßen wird, muss mit gravierenden Folgen rechnen. Bei der von Linken oft ausgegebenen „Bleib zu Hause“-Parole spielen also sicherlich auch Karrieregründe und ebenso Ängste vor einem Ausschluss mit eine Rolle.

Und doch geht, wenn Linke dem Widerstand gegen den Abbau der Grundrechte neoliberale Begriffe unterstellen, das Versagen deutlich weiter. Es stellt das Linkssein oder eben „ein linkes Etwas“ selbst zur Disposition.

Denn in der Reaktion auf den demokratischen Widerstand zeigte sich: Freiheit greift das „linke Etwas“ an, lässt Linke zu billigen Argumenten samt diffamierend nazihafter Unkraut-Polemik wie „Covidioten“ greifen. In diesem Sinne ist das Versagen im linken Denken programmiert, und insofern hat Corona den Linken theoretisch stimmig den Garaus gemacht. Das lässt sich auch mit FFP2 nicht kaschieren.

VI.

Es gibt Versuche, das linke Versagen zu erklären, indem es als ein intellektuelles Versagen gezeichnet wird: nicht Opportunisten der Macht wie einem Tony Blair oder einem Joschka Fischer geschuldet, sondern Denkern, die mit ihrem „unlinken“ Denken sozusagen in das „linke Etwas“ eingedrungen seien. Linke Positionen, linke Werte hätten sich über beeinflussbare linke Denker — von anderen Denkmodellen her — usurpieren lassen. Die Postmoderne wird dabei immer wieder genannt, reichlich undifferenziert, oft gepaart und irgendwie synonym verstanden mit dem Begriff des „Dekonstruktivismus“.

Hauptsächlich ist das eine philosophische Debatte oder eine philosophisch angehauchte. Die Diagnose: Die Postmoderne sei im Wesentlichen affirmativ, also bejahend hinsichtlich der vorherrschenden Verhältnisse, und diese Affirmation habe über postmoderne und/oder dekonstruktivistische Kanäle auch linkes Denken erreicht. Durch eine solcherlei Verortung des Übels bleibt das „linke Etwas“ selbst, wie schon beim opportunistischen Verrat durch die Riege der Karrieristen, von Kritik verschont.

Angenommen die Zivilisation ginge noch weiter, und wenn nicht die Zivilisation, so doch die Menschheit außerhalb einer Cyborglinie, so wäre es womöglich nicht uninteressant zu wissen, was zuerst oder was zuinnerst das ermöglicht hat, was mit der Pandemie zum finalen Durchbruch gekommen ist. Und ich setze voraus, dass diese Frage nach den das Desaster vorbereitenden geistigen Strömungen auch die Frage nach dem linken Versagen mit einschließt, insofern das linke Versagen aus den Bewegungen dieser geistigen Strömungen hervorgeht.

Das wiederum setze ich deshalb voraus, weil das Zustandekommen der Pandemie, also ihre Implementierung, die Unkenntlichkeit der implementierenden Kräfte bedingt. Die Umkehrung: Hätten diese Kräfte nicht unkenntlich wirken können, das heißt, wäre das kollektive gesellschaftliche Bewusstsein in der Lage gewesen, die philanthropische Anschrift der Rettungstruppen zu de chiffrieren, so hätte sich die Pandemie gar nicht erst ausrollen lassen.

Die Unkenntlichkeit ist eine Figur der Machtverschleierung. Und diese wurde systematisch herbeigeführt — Fassadendemokratie, Verschwörungsbegriffe et cetera — unter gar emsiger Beteiligung der politischen Linken. Diese Beteiligung ist bei der Linken deshalb mit mehr Bedeutung versehen als etwa bei Liberalen und Konservativen, weil ihr — ideal gedacht — als genuin kapitalkritischer Instanz die Aufgabe zugefallen wäre, Macht in einem kapitalistischen System zu benennen. Dies nicht zu tun, macht ihre Teilnahme an der Verschleierung nicht nur ethisch ungeheuerlicher — das interessiert hier weniger —, sondern stellt den linken Beitrag zur Machtverschleierung als wirkmächtiger und in der gesellschaftlichen Konstellation in den vergangenen fünf Dekaden wohl als den entscheidenden heraus.

Deshalb macht es Sinn, ein Auge auf das Verhältnis von „linkem Etwas“ zu geistigen Strömungen bezüglich Machtverschleierung und Machtkritik zu werfen, wobei der linken Unbeholfenheit bezüglich Liberté und dem daraus resultierenden Hang, sich in den Windschatten staatlicher Autoritäten zu stellen, von Anfang an eine Präferenz eingeschrieben ist.

Für den Endpunkt der geistigen Entwicklung ist also das Muster einer systemischen und systematisch herbeigeführten Macht-Nichtbenennung festzustellen: „Du sollst ihn nicht nennen!“, sodass unkenntlich bleiben muss, wer mit dieser Pandemie zu welchem Zweck über die Welt hergefallen ist.

Stattdessen und wohl vorbereitet wird der Täter in kleinste Wesen verlegt: Viren. Gefahr wird benannt, wie der Schutz will, dass sie heißt. Das ist Teil des Deals, wenn Macht den Schutzbefohlenen ihren Korpus bietet. Dieses Benennversagen kommt nicht von ungefähr und zieht eine lange Spur. Benannt wird vieles. Nach Transparenz wird verlangt. Gesetze gibt’s zuhauf, die benennen und dabei verbergen. Indes: Es ist die Benennung als Vertuschung, die systemisch eingesetzt wird, Information als Flutung, bis alles in der Unkenntlichkeit ertrinkt.

Dass Intellektuelle spätestens nach 1990 als machtkritische Instanz gänzlich zu versagen begannen, ist evident (5). Kritische Denker fielen aus beziehungsweise dienten der Macht zu, indem sie Machtfragen grundsätzlich ausblendeten, Macht ins Unfassbare verschoben, begrifflich-sophistisch verwässerten, hinter der Hülse der Komplexion deponierten oder gar — die unterste Kategorie und in den vergangenen Jahren expansiv betrieben — den wenigen Versuchen der Machtbenennung mit der Schablone der Verschwörungstheorie begegneten (6). Dass bei diesem Versagen reiner Opportunismus ein erster Antrieb ist, versteht sich. Lehrstühle im akademischen Betrieb, Professorentitel, große Konferenzen, Bedeutung: Das reizt.

Unabhängig von diesem Opportunismus zeigt ein etwas genauerer Blick aber Folgendes: Die Texte, die nicht selten als Übel der Verschleierung ausgemacht worden sind, sind so affirmativ und machtbejahend nicht. Ich führe das an dieser Stelle nicht systematisch aus, weil es den Umfang des Gedankengangs sprengen würde. Gleichwohl soll beispielhaft belegt sein, weshalb die Erklärung nicht greift, linkes, angeblich marxistisches Denken sei von postmodernem Denken entschärft worden und das hätte die ganze Malaise herbeigeführt, in der wir uns wiederfinden und die womöglich das Ende nicht nur der Zivilisation, sondern des Menschen sein könnte.

VII.

Über Jacques Derrida, einen der einflussreichsten Philosophen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, Allgemeines zu formulieren, ist schwierig, zielen seine sperrigen und nicht selten hermetischen Texte doch darauf, das Allgemeine, das Zusammenfassende, das Gesetzte, die geschlossene Erzählung, jedes Narrativ zu „zer setzen“. Sein Philosophieren, sein „De*konstruieren“ bedeutet: Aussagen auf die Bedingungen, von denen aus sie vollzogen werden, zu hinterfragen — und dies stets am Ort vollzogen, also *lesend im Text, der Aussagen setzt, beziehungsweise anhand der Kriterien, die postuliert werden.

Davon ausgehend mag die Annahme naheliegend sein, aus einem Tun, das bloß zersetze, resultiere am Ende stets Beliebigkeit. Umgedreht bedeutet Beliebigkeit aber: Jeder Erzählung wird das Fundament entzogen. So auch jeder Macht, zumal Derrida das Verfahren auf alles anwendet, einschließlich auf das Verfahren selbst und damit auch auf seine etwaige Beliebigkeit. Und es ist Jacques Derrida, einer also, den man der Postmoderne zurechnet, der bereits in den 1990ern von den westlichen Demokratien als einem weichen, subtilen Totalitarismus gesprochen hat. Und es ist Derrida, der in „Marx‘ Gespenster“ eben die große Erzählung des sogenannten Liberalismus zersetzt, den man damals noch nicht verbreitet „Neoliberalismus“ nannte und bei dessen „Sieg“ über den Kommunismus zum ersten Mal die Hymne der Global Governance für ein breites Publikum erklang, indem er passagenweise Francis Fukuyamas Werk „Das Ende der Geschichte“ (7) seziert, das zu dieser Hymne ansetzt.

Derrida lässt keinen Zweifel an der Kennzeichnung der Macht, die sich nach 1990 zum Sieger ausgerufen hat. Begriffe wie „Weltordnung“ und „Imperialismus“ sind keine Begriffe der Machtverschleierung, im Gegenteil: Derrida spricht, die beispiellose Dimension des Wucherns dieser Macht heraushebend, von einer Hegemonie, „die ohne Vorläufer ist“ (8). Weiter betont er in fast schon prophetischer Weise die Uniformität des neuen Totalitarismus „im Rhythmus des Gleichschritts“ — den bekam man in dieser Pandemie wahrlich zu spüren — und die beispiellose Bedrohung, die von dem ausgeht, dessen Überleben Fukuyama als Sieger feiert.

Dabei stellt er die Bedeutung der Technologie — „Tele-Technik“ — bei dieser Bedrohung mit einem Verweis auf Karl Marx heraus, der schlichtweg die Erfahrung nicht haben konnte, um die Dimension der Technologie, wie wir sie heute haben, und ihre Bedeutung für die Macht zu begreifen: Der Diskurs der politischen Klasse, der mediale Diskurs und der akademische Diskurs sind durch dieselben voneinander untrennbaren Apparate verschweißt, „... sie kommunizieren und zielen in jedem Augenblick auf den Punkt der größten Kraft hin, um die Hegemonie oder den Imperialismus (...) zu sichern. (...) Die politisch-ökonomische Hegemonie wie auch die intellektuelle oder diskursive Herrschaft vollziehen sich, wie sie es nie zuvor in solchem Grad noch in solchen Formen getan haben, auf dem Weg über die techno-mediale Macht ...“ (9).

Knapp zwei Jahrzehnte früher war es Michel Foucault, der in „Überwachen und Strafen“ (10) Mechanismen der Streichung des autonomen Subjekts durch den bürgerlich-funktionalistischen Staat und seine Institutionen seismografisch herausstellt und damit akkurat faschistische Muster offenlegt. Dass er dabei die Verlogenheit des „humanistisch“ agierenden funktionalen Staates und seiner ihm beigehefteten Institutionen wie psychiatrische Kliniken und Gefängnisse herausstreicht, darauf verweisend, dass die Brutalität der körperlichen Züchtigung durch Institutionalisierung, Bürokratisierung und Therapeutisierung von abweichendem Verhalten nicht verschwunden, sondern dass diese Brutalität vielmehr sich nur gewandelt habe, ist, erkenntnistheoretisch gesehen, kein Lob der Brutalität des Mittelalters — so wurde Foucault mitunter gelesen und dieses herausgelesene Lob des Brutalen sodann mit einer Affinität zur Brutalität der Neocons verknüpft —, sondern eine Herausstellung der Brutalität der Maschinerie Staat.

Indem er die Humanisierung der bürgerlichen Ordnung als Schein und die in ihr enthaltene Gewalt herausstellt — eine Brutalität, die sich im Vorgehen des Staates gegen Abweichler in den Tagen der Pandemie eindrücklich bestätigt hat, sowohl auf Handlungs- als auch auf Sprachebene, siehe „Covidioten“, „Nazis“ und weitere Unkrautbegriffe —, zerlegt Foucaults Text Macht, wohingegen sich Linke an dieser Macht mehr und mehr beflissen beteiligt haben. Wenn linkes Denken sich nicht von Macht distanziert, die sich mitunter auch wieder in archaischeren Formen der Gewaltausübung manifestiert — was sich übrigens gerade mittels Foucaults theoretischen Positionen gut erklären lässt, betont er doch, dass die Brutalität nie verschwunden ist —, sondern sich vielmehr distanziert von jenen, die sich von dieser Gewaltausübung distanzieren, so unterstreicht dies, dass Brutalität, wie sie Foucault für den bürokratischen Apparat herausstellt, gerade in ihrer klinischen Dimension die Brutalität der Linken ist.

Gilles Deleuzes, ein weiterer bedeutender Denker der Postmoderne, zeigt ebenso, weshalb die Verortung der Ursache des linken Versagens beim Einfluss durch Postmoderne und ihrer angeblichen Beliebigkeit nicht zutrifft und die Verhältnisse in der Tat verdreht sind. Deleuze hat bereits in den 1960ern mit einem Verweis auf den Computer die der Technologie innewohnende Eigenschaft herausgestellt, das menschliche Subjekt als autonomes durchzustreichen, und im Buch „Der Sinn der Logik“ auf die Wesensverwandtschaft von Technokrat und Diktator verwiesen, den — idealistischen — Revolutionär als Kritiker der gegebenen Macht davon absetzend: „Aus diesem Grund ist der Technokrat der natürliche Freund des Diktators — des Computers und der Diktatur, wohingegen der Revolutionär in einem Abstand lebt, der den technischen Fortschritt und die gesellschaftliche Totalität trennt und in den er seinen Traum von der permanenten Revolution einschreibt. Dieser Traum ist aus sich selbst heraus Aktion, Wirklichkeit, wirksame Bedrohung jeder bestehenden Ordnung, und macht möglich, wovon er träumt“ (11).

Im kurzen Postskriptum (12), erschienen in den Neunzigern, fasst er die essenziellen Merkmale einer technokratischen Kontrollgesellschaft zusammen, die sich aus der Disziplinargesellschaft heraus ergeben haben und immer noch ergeben. Das ist wahrlich ein Schlüsselthema des Great Resets, bei dem es darum geht, Menschen in vollständig kontrollierbare Apparate zu überführen.

Deleuze war seinem Verständnis nach Materialist und Marxist mit einer großen Affinität zu Zeichen, Codes und Maschinen. Gerade aus dieser Position heraus hätte er für ein „linkes Etwas“ von Interesse sein müssen. Indes, nicht Deleuze war der Affirmative (13), die politische Linke war es, und die wenigen Beispiele zeigen: Von postmodernen Denkern — bestimmt nicht allen — hätte eine an Machtkritik interessierte Linke lernen können. Stattdessen haben die meisten linken Ideologen den totalitären Charakter der Technologie weitgehend übersehen — die in links-identitären Kreisen oft gänzlich bejahende Einstellung zur Digitalisierung ist bezeichnend dafür (14).

VIII.

Weshalb das alles? Warum hat die Linke die vom Kapital vorgesehene Rolle im Diskurs nicht nur widerstandslos, sondern missionarisch übernommen? Um das zu beantworten, gilt es auch die Rolle genauer anzuschauen, die das Kapital beziehungsweise der Diskurs, den es entfacht, als Subjektrolle vergibt, eine Rolle, die eng an das Ziel der Machtverschleierung geknüpft ist. Macht lässt sich nicht nur dadurch verschleiern, dass sie aktiv verdeckt wird. Die Verschleierung ergibt sich auch dadurch, dass die Ohnmacht in eine scheinbare Machtposition gehoben wird. Das ist die Subjektposition, die das Kapital beziehungsweise sein Diskurs vergibt — über sämtliche tele-technischen Kanäle.

Dieser „Subjektwerdung“ geht die Zustimmung zum Diskurs — man guckt TV, konsumiert Werbung, lässt sich durch deren Sprache prägen et cetera — voraus. Die Parolen dieser Subjekte fabrizieren in der Tat nicht die Subjekte. Sie sind vielmehr vorgefertigt. Damit ist klar, wo die Macht liegt. Nämlich dort, wo der Diskurs bestimmt wird. Und in der Bestimmung ist das Subjekt mitbestimmt. Die Folge: Der Diktator tritt nicht mehr außen, er tritt innen auf. Allerdings darf die Zustimmung, die den autonomen Subjekten, würde sie ihnen bewusst, den Boden unter den Füßen wegzöge, eben nicht bewusst werden. Es gilt also, die Zustimmung zu verdrängen und die Argumente als die eigenen auszugeben.

Geforderte Merkmale des postmodernen Subjekts, das heißt Merkmale, die es sich scheinbar gänzlich selbstbestimmt zulegt, sind Unabhängigkeit, Individualität, Flexibilität. Das sind Eigenschaften der Verfügbarkeit. Diese Verfügbarkeit wird als Freiheitsgewinn verkauft, sozusagen als subjektiver Freiraum. Damit ist klar, dass das postmoderne Subjekt ein gänzlich den Gesetzen der Produktion, also des Mehrwerts beziehungsweise des Kapitals unterworfenes Subjekt ist. Mehr noch: Als Subjekt in diesem Sinne reproduziert es diese Gesetze mit jedem Akt, den es — gefühlt — eigenbestimmt vollzieht, aufs Neue (15). Ausbeutung wird in der neoliberalen Umkehrsemantik zu Kompetenz (16).

Es sind postmoderne Denker, welche die Mittel an die Hand und ins Gehirn geben, genau dies freizulegen und damit Macht zu de konstruieren. Diese Dekonstruktion bedeutet das Gegenteil von Affirmation. Klaus-Jürgen Bruder bringt es in seinem brillanten Aufsatz „La condition postmoderne — est-ce qu'elle est passée? Eine Zeitdiagnose“ auf den Punkt:

„Es ist keine Affirmation des Diskurses der Macht, sondern Kritik der Legitimation der Macht (und der durch sie hergestellten und aufrechterhaltenen Bedingungen) durch die Großen Erzählungen des Diskurses der Macht, die diese Bedingungen fixieren, indem sie sie legitimieren“ (17).

Dem verhexten Subjektangebot des Kapitals sind natürlich nicht nur Linke auf den Leim gegangen. Allerdings stellt sich bei Linken die Frage wiederum besonders pointiert: Warum haben sie die Dekonstruktionsangebote, die formuliert worden sind, nicht aufgegriffen? Mehr noch: Wieso bezeichnen — in völliger Verdrehung der Wirklichkeit — angeblich marxistische Denker diese Dekonstruktion als Affirmation?

Noch grotesker wird es allerdings angesichts der Tatsache, dass die politische Linke angesichts des Pandemietheaters die Subjektrolle, die das Kapital vorgibt, nicht nur annimmt, sondern besonders vehement als ihre eigene ausgibt, wie dies in der Zero-Covid-Kampagne, auf die ich in Teil 3 genauer eingehe, zum Ausdruck kommt. Eine Linke, im Coronaspiel die zugehaltene Subjektposition mit missionarischem Eifer einnehmend, spielt nicht einfach bloß wie Konservative und Liberale das Spiel mit, sondern ver spielt sich dabei endgültig, insofern sie gänzlich nahtlos mit etwas verschmilzt, von dem sie, um eine letzte Kenntlichkeit zu wahren, getrennt bleiben müsste.

Ich fasse zusammen: Derrida hat die kapitalistische Siegerzählung demontiert, Foucault hat die den bürokratisierten Prozessen innewohnende Gewalt herausgestellt, Deleuze auf die diktatorischen Eigenschaften der Technik verwiesen. Es mögen zufällige Beispiele sein, keineswegs systematisch hier angeführt, sie bezeugen aber: Zentrale Machteigenschaften, wie sie der kapitalistische Staat aufweist, werden von Texten, die leichthin der Postmodernen und/oder dem Dekonstruktivismus zugerechnet werden, herausgestellt und gerade nicht verschleiert.

Eine machtkritische politische Linke hätte diese Kritik zu ihrer eigenen machen müssen. Dass sie das nicht tat, hat nichts mit schlechten Einflüssen zu tun, vielmehr zeichnet sich die Lage umgekehrt. Offenbar ist dem „linken Etwas“ eine Affirmation bezüglich dessen inhärent, was in den drei obigen Beispielen kritisiert wird: eine Affinität zum Kapital und seinem Totalitarismus — und das wäre dann eben nicht nur Opportunisten à la Tony Blair und Gerhard Schröder geschuldet und fände in der besonderen Wertschätzung dem Kapitalismus chinesischer Prägung gegenüber seine Bestätigung —, sowie eine Affinität zu bürokratisch-technologischen Abläufen und zur diesen innewohnenden Gewalt, auf welche sowohl Foucault wie auch Deleuze kritisch zielen. Und in der Tat sind in der bereits zuvor aus der Unbeholfenheit abgeleiteten Staatsgläubigkeit alle drei Komponenten verschichtet: Kapital, Gewalt, Technologie.

Die Linke will angeblich zwar das Kapital zähmen. Ist der Staat als Scheindompteur des Kapitals durch das Kapital jedoch zugelassen, zeigt sie sich dem Kapital und dessen ganzer Machtentfaltung samt Brutalität zugetan.

Was Kritik an institutioneller beziehungsweise struktureller Gewalt betrifft — sie mag in der Hochblüte der sozialen Marktwirtschaft da und dort auch von linker Seite aufgekommen sein, indes mehr dieser Hochblüte geschuldet, nicht dem Linkssein —, so ist diese im „linken Etwas“ nicht enthalten, klammert sich doch die Linke, und darauf ist sie aufgrund ihrer Unbeholfenheit angewiesen, geradezu an staatliche Institutionen.

Mehr noch: Dieses Klammern und das Einsitzen in diesen Institutionen verbleiben am Ende als einzig fassbarer Inhalt eines „linken Etwas“. Das Innehaben von Stellen und Jobs in Institutionen steht im Fokus und gerade nicht die Kritik an diesen Gefäßen und Strukturen. Technologie wiederum ist in materialistischen Anschauungen überwiegend positiv oder aber neutral gewertet. Für die marxistische Tradition als Variante des Materialismus trifft das genauso zu. In linken Denklinien tauchen immer wieder naive Heilsvorstellungen bezüglich Wissenschaft und Technik auf.

Dass gerade Geringverdiener ebenso wie „Menschenmassen“ in sogenannten weniger entwickelten Ländern — das „Chippen“ von Millionen Neugeborener in Bangladesch sei als Beispiel genannt — mittels Technologie kontrolliert und entmündigt werden, lässt sich mit Deleuze gut herausstellen, im „linken Etwas“ dagegen ist eine diesbezüglich kritische Erkenntnis nicht auffindbar. Die zynische Dimension einer solchen Haltung schlägt sich in linken Unterschriftensammlungen nieder, die das „Recht“ auf Impfung für „benachteiligte“ Menschen einfordern. Nach allem, was ich weiß, bezahlen Menschen in Senioren- und Pflegeheimen für dieses Recht und also auch für diese linke Selbstdarstellung derzeit reihenweise mit ihrem Leben.


In Teil 3 wird aufgezeigt, dass die politische Linke für den aufrechten Gang auf ein Korsett angewiesen ist und ebenso, dass sie sich beim Tragen dieses Korsetts nicht auf Marx berufen kann. Vielmehr zeigt ein kurzer Blick auf eine neuralgische Stelle aus dem „Kapital“, dass Marx und die von sogenannten linken Intellektuellen ausgelöste Zero-Covid-Kampagne entfernter voneinander nicht liegen könnten. Dass die Zero-Covid-Forderung erkenntnistheoretisch gesehen eine zeitgemäße Form einer Endlösung ist und also genuine Verwandtschaft mit NS-Endlösungsfantasien hat: Das steht im Fokus des nächsten Teils.


Quellen und Anmerkungen:

(1) An dieser Stelle möchte ich zwei möglichen Missverständnissen vorbeugen:
1. Die dem Staat (scheinbar) entgegengestellte Seite der Privatwirtschaft, also des privaten Kapitals beziehungsweise überhaupt des Kapitals wird an keiner Stelle des Aufsatzes in ein besseres Licht gerückt, insofern die Trennung obsolet geworden ist und im Grunde schon immer obsolet war. Staat und Großkonzerne sind voneinander nicht zu trennen. Bei der physischen Disziplinierung gegen unten wurde und wird in aller Regel der Staat vorgeschickt, der in der Tat eine Figur in Händen des Kapitals ist. Physische Disziplinierungen werden aber gerade in jüngster Zeit vermehrt auch von Konzernen selbst vollzogen, Amazon sei als Beispiel genannt.
2. Die Schutzthematik erforderte einen eigenen Aufsatz. In diesem vorliegenden Gedankengang steht naturgemäß der Aspekt des Entzugs der Autonomie durch Schutz im Fokus. Ideal gedacht und im konkreten Abwägen müsste eine Balance gefunden werden zwischen Schutz als Autonomiestreichung und Schutz als Autonomieöffnung. Dass es verschiedenen Subjekten und Wesen in verschiedenen Lagen nicht möglich ist, den Autonomieraum selber zu schaffen und zu halten, mehr noch, dass stets und immer bei der Schaffung dieses Raums auch Fraternité eine Rolle spielt, um Autonomie gegen Mächte zu halten, die diese Autonomie — nicht selten unter dem Vorwand, sie schützen zu wollen — zu überschreiben trachten, ist evident. Demzufolge gilt präzise auseinanderzuhalten, wo und wann mit Schutz die Autonomie vergrößert, wo und wann sie verkleinert, der Geschützte entmündigt, kontrolliert und überwacht wird (siehe Hartz IV).
(2) „Thank you Bill for your leadership!" – Großer Danksagungsreigen der Ursula von der Leyen, RT Deutsch, 7. Mai 2020, https://deutsch.rt.com/europa/102214-thank-you-for-your-leadership/.
(3) Rainer Mausfeld hat in seinen Vorträgen und zusammengefasst in seinem Buch „Warum schweigen die Lämmer“ (2018) die Machtmechanismen des Neoliberalismus politisch, aber auch kognitiv und psychologisch umfassend herausgestellt. Vergleiche dazu auch Teil 1 dieses Essays.
(4) Der Abzug des Fokus von Bill Gates in diesem Sinne wird zu einer Abwendung der Kritik von den Zentren der Macht, insofern die Macht beziehungsweise das Kapital nicht in Personen verkörpert, sondern strukturell auf wenige Personen weltweit verteilt ist. Eine Forderung, sich von Gates abzuwenden, ist somit strukturell bedingt Teil einer Machtverschleierung.
(5) Intellektuelle waren zur Mehrheit immer auf der Seite der Macht, denn es ist in aller Regel die Macht, die sie zu Intellektuellen macht beziehungsweise sie in die Stellungen (Stühle, Titel) bringt, die sie haben. Dass aus diesen Stellungen heraus in den 1960ern, 1970ern und auch noch 1980ern eine größere Kritik zulässig war, hat nichts oder höchstens nur bedingt mit den Intellektuellen zu tun, sondern mit notwendigen freieren Zwischenetappen in der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung (der Kommunismus existierte ja noch). Indes, obgleich diesem Umstand geschuldet, war eben doch eine deutlich breitere Debattenkultur, ein deutlich breiteres Spektrum des Denk- und Sagbaren und eine aufgrund dieser Bedingungen immerhin wahrnehmbare Macht- und Staatskritik gegeben. Der Unterschied zu heute zeigt sich auch darin, dass es damals noch Philosophen und Schriftsteller waren, die bedeutende Anlässe rahmten: Man denke etwa an Friedrich Dürrenmatts Rede „Die Schweiz — ein Gefängnis“, die er vor dem Bundesrat und Václav Havel anlässlich dessen Besuchs in der Schweiz hielt, eine Fundamentalkritik an der „Institution Schweiz“, die, würde sie heute gehalten, einem jeden Autor die Verlage und die Bühnen versperrte auf alle Zeit. Inzwischen sind es längst Models, Fußballer und Serienschauspieler, welche UNO-Vollversammlungen einleiten und in Den Haag PR-Kampagnen anstoßen. Und wenn einer der Sportler — das kommt vor — kritische Töne anstimmt, hat er zum letzten Mal in einem Fernsehstudio eingesessen, die Werbeverträge sind gestrichen. Philosophen aber sind dann zulässig, wenn sie im Wesentlichen nichts aussagen und stattdessen vom Design her — beispielsweise unordentliche Haare — ein Quotenmerkmal in die Staffage einbringen.
(6) In Deutschland wird für diesen Zweck beispielsweise Michael Butter durch Land, Feuilletons und Studios gereicht. Eine Figur mit Professorenstuhl für Amerikanische Literatur, für deren „Denken“ das Diktum Ingeborg Bachmanns über deutsches Denken und Denker noch immer zutrifft: Ein Denken, das anderswo als Denken gar nicht erkannt würde.
(7) Im damals wirkmächtigen Buch „The End of History and the Last Man“, erschienen 1992, hat Francis Fukuyama das Ende konkurrierender System verkündet, basierend auf dem Sieg des Kapitalismus (euphemistisch als westliche Demokratien bezeichnet) über den Kommunismus. Dass Fukuyama darin auch kapitalismuskritische Töne angestimmt haben wollte, die ein Derrida übersehen hätte, bleibt für unsere Zwecke unerheblich.
(8) Vergleiche Jacques Derrida, „Marx‘ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale“, 2019 (6. Auflage), Seite 76; Originaltitel: Spectres de Marx, Paris 1993. Das vollständige Zitat, zu Beginn der 1990er formuliert: „... heute, in diesen Zeiten, versucht eine neue ‚Weltordnung‘ eine neue, notwendigerweise neue Regellosigkeit zu stabilisieren, indem sie eine Form von Hegemonie installiert, die ohne Vorläufer ist.“ Dass diese Hegemonie spezifisch auf den „Sieg“ über den Marxismus abstellt, stellt Derrida ebenso heraus, wie die Tatsache, dass es ein Pyrrhussieg sein wird. „Eine Dogmatik versucht, ihre weltweite Hegemonie zu errichten, unter paradoxen und verdächtigen Bedingungen. Es gibt heute in der Welt einen herrschenden Diskurs — oder vielmehr einen Diskurs, der im Begriff ist, dominierend zu werden — über das Werk und das Denken von Karl Marx, über den Marxismus (...), über all die vergangenen Gesichter der sozialistischen Internationale und der Weltrevolution (...). Dieser herrschsüchtige Diskurs nimmt oft die manische, jubilatorische und beschwörende Form an, die Freud der sogenannten Phase des Triumphs in der Trauerarbeit zuschrieb. Die Beschwörung wiederholt sich und ritualisiert sich (...) Im Rhythmus des Gleichschritts ruft sie: Marx ist tot, der Kommunismus ist tot, (...) mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der ökonomische und politische Liberalismus!“
(9) Vergleiche ebenda, Seite 80.
(10) Vergleiche Michel Foucault, „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“, Frankfurt 1977, Originaltitel: Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975.
(11) Vergleiche Gilles Deleuze „Die Logik des Sinns“, 1993, Seite 72; Originaltitel:. La logique du sens, erschienen 1969. Hier ist nicht der Ort, Deleuze systematisch zu lesen, die Stelle markiert jedoch über die Figur des Revolutionärs nicht allein einen kritischen Abstand zur Technologie, sie schließt vielmehr die Wertung der Affirmation bestehender Verhältnisse aus. Im Fortgang dieses Essays — und wer sich die Mühe macht, das Entwickelte auf die zitierte Passage aus „Die Logik des Sinns“ zu beziehen, wird das bestätigen — zeigt sich, dass Deleuze mit dieser Stelle einen autonomen und im Grund idealistischen Raum des Subjekts (des Revolutionärs) voraussetzt beziehungsweise für das Subjekt/den Revolutionär öffnet oder ihn durch ihn selbst öffnen lässt, ein Raum, der mit der Autonomie, die wir im Zusammenhang mit dem linken Versagen und also im Zusammenhang mit Freiheit diskutieren, nahtlos zusammengeht. Es ist dieser Raum.
(12) Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: L’autre journal, Mai 1990; https://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html, aufgerufen am 17. Februar 2021.
(13) Als Klischee ist das in Deutschland immer wieder anzutreffen. So behauptete ein in vielerlei Hinsicht präziser marxistischer Denker wie Werner Seppmann, der in seinem Büchlein „Herrschaftsmaschine oder Emanzipationsautomat? Über Gesellschaft und Computer“ aus dem Jahr 2016 selber eine kritische Perspektive auf Technologie vorlegt, als Antwort auf eine kurze Würdigung seines Werkes meinerseits, in der ich, Parallelen herausstreichend, auf Deleuze und andere kritische Ansätze aus dem dekonstruktivistischen Umfeld verwies, die Kritik bei Deleuze sei am Ende doch immer affirmativ.
(14) Das Beispiel Günther Anders zeigt indes, dass es auch Denker im linken Umfeld gab, die sich kritisch zu Technologie und technischem Fortschritt positionierten. Anders hatte einen gewissen Einfluss auf die Anti-Atom- und Anti-Kriegsbewegungen der 1970er, seine machtkritischen Denkmuster prägten auch noch die Anfänge der Grünen — es bestanden da eben Freiräume, ich habe das bereits angedeutet; diese Denkmuster verschwanden dann aber schnell wieder aus dem linken Fokus, naturgemäß vollends, als Figuren wie Schröder und Fischer übernahmen.
(15) Weshalb Journalisten so grenzenlos vor den Kopf gestoßen sind, wenn man ihnen vorwirft, bloß noch als Systemhunde zu fungieren, erklärt sich exakt aus diesem Mechanismus.
(16) Eine Bahnreise buchen, Fahrpläne koordinieren, diverse Zusatzbestimmungen lesen und die Reise entsprechend konfigurieren, allenfalls ausdrucken, herunterladen et cetera: All diese äußerst zeitfressenden Beschäftigungen werden als Freiheit der Kunden verkauft, obwohl in der Tat Personal abgebaut und digitalisiert wird, Kosten gesenkt — zulasten der Menschen, die, dergestalt ausgelastet, erst recht keine Zeit finden, kritische Gedanken zu entwickeln. Die Digitalisierung macht auf diese Weise Räume für Denken außerhalb logistisch-konsumistischer Zwecke klein. Und die Zwecke selbst werden den Gehirnen als Spaß eingehämmert: Viel Spaß mit dem Möbel. Viel Spaß mit dem Staubsauger. Viel Spaß mit dem neuen Druckertoner. Viel Spaß mit dem Shampoo. Viel Spaß mit dem WC-Reiniger. Viel Spaß beim Buchen. Sklaven, sich für gut gelaunte Kundenkönige haltend, sind die Subjektrollen, die das Kapital vergibt. Zumindest für Dekaden war es so. Mit dem Virus und der offen durchbrechenden Diktatur nun allerdings darf auch diese Fassade blättern. Waren kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) — durch den Virenstreich entsorgt — noch darauf angewiesen, ihre Kunden anständig zu behandeln, so sind Menschen für Großkonzerne ein lästiger Faktor. Allein das Ausmaß an Software, dafür zuständig, sich Kunden und deren Anliegen vom Halse zu halten, bestätigen das.
(17) Vergleiche Klaus Jürgen Bruder, „La condition postmoderne - est-ce qu´elle est passée?
Eine Zeitdiagnose“, https://www.foucault.de/macht.htm, aufgerufen am 11. Februar 2021.