Zu nichts zu gebrauchen

Die Verwandlung des natürlichen in einen künstlichen Überfluss macht den Menschen selbst überflüssig.

Die Angst vor dem Mangel bestimmt das Leben von vielen. Nicht genug Geld, nicht genug Arbeit, nicht genug Anerkennung. Inmitten des künstlichen Überflusses einer Wegwerfgesellschaft fühlt sich mancher schließlich selbst überflüssig. Die Weiterentwicklung von Robotik und künstlicher Intelligenz führt dazu, dass viele nicht einmal mehr als Arbeitssklaven zu gebrauchen sind. Wie gehen wir damit um, wenn in den kommenden Jahren Millionen Arbeitsplätze wegfallen? Was ist unsere Antwort auf die Nutzlosigkeit, die droht, damit einherzugehen?

In vielen alten Kulturen gibt es die Erzählung von einem Paradies, in dem es alles im Überfluss gab. Die Natur stellte uns mehr zur Verfügung, als wir brauchten. Der Baum zählte seine Früchte nicht, und wir konnten uns von allem nehmen. Niemandem gehörte etwas. Der Besitz war noch nicht erfunden. Dann kam die Geschichte von der verbotenen Frucht in die Welt und von einem Gott, der der Fülle einen Riegel vorschob.

So wurde die Sünde geboren und mit ihr der Mangel. Es war nicht mehr genug für alle da zu einer Zeit, in der keine 20 Millionen Menschen auf dem gesamten Planeten Erde lebten — so viel wie heute in einer einzigen Stadt. Von da an mussten wir unser Leben im Schweiße unseres Angesichts verdienen.

Es dauerte sicher nicht lange, bis jemand auf die Idee kam, andere für sich schwitzen zu lassen und Sklaverei und Dienstherrschaft entstanden. Wie im Himmel, so auf Erden: Es durfte nur einen geben. Einen Gott, einen Herrscher.

Darunter eine schmale Schicht Privilegierter und danach eine breite Schicht Erniedrigter, Versklavter, Ausgestoßener, Verfolgter, Vogelfreier und Outlaws, die alles verloren hatten.

Arbeitssklaven für den Pyramidenbau, Galeerensklaven auf den Schiffen der Eroberer, Unberührbare in Indien, Lehensleute im Mittelalter, Leibeigene in Russland, Mägde und Knechte auf den Höfen, Lumpenproletariat in den Städten, Slumbewohner, sans papiers, Menschen, die auf Müllhalden leben — für keinen oder nur einen geringen Lohn ermöglichen sie anderen ein Leben im Überfluss, der ihnen genommen worden ist.

Vom Überfluss zum Überflüssigen

Das Wort Überfluss stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet überströmend, überreichlich. Was ursprünglich für alle da war, floss nur noch einigen wenigen zu. Auf der einen Seite entstanden Mangel und Elend, auf der anderen Exzesse und Schrankenlosigkeit.

So ist das in einer dualen Welt, in der die Dinge sich nicht mehr gegenseitig ergänzen. Eine Seite bedingt die andere. Je größer der Mangel hier, desto größer der Überfluss dort.

Im Dritten Reich sollten die überflüssig Gewordenen einfach weg: Juden, Afrikaner, Sinti und Roma, Menschen aus Osteuropa, Homosexuelle, politische Gegner, Menschen bestimmter Glaubensgruppen, Arme, Obdachlose, Alkoholkranke, Kriminelle und Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung. Als „Untermenschen“ galten sie, „Asoziale“, „Berufsverbrecher“, „Schmarotzer“ oder „Parasiten“, und waren es nicht wert, am Leben gelassen zu werden.

Auch heute werden wir in brauchbar und unbrauchbar eingeteilt. Spezialisierung, Technisierung und zunehmende Robotisierung sorgen dafür, Menschen immer entbehrlicher zu machen. Thilo Sarrazin hat sie die Nutzlosen genannt, Heinz Bude die Exkludierten, Rolf Dahrendorf die Verlorenen, Manuel Castells die funktional Irrelevanten. Man kann sie im Mittelmeer ertrinken, im Elend verhungern lassen oder als Kanonenfutter in den Krieg schicken. Das macht ein paar Esser und CO2-Produzierer weniger, ist also letztlich für eine gute Sache.

Werteverfall

Doch, so fragt der deutsch-bulgarische Schriftsteller und Verleger Ilija Trojanow: Wer soll verschwinden? Wessen Dasein hat mehr Wert? Das des Marginalen, der am unteren Ende ungesehen in prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen lebt, oder das der Eliten in den Führungsetagen, die sein Elend verursacht haben?

Was ist unsere Arbeit noch wert? Künstliche Intelligenz (KI) sorgt bereits heute dafür, dass viele Menschen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht werden. Vor allem Angestellte mit höherem Abschluss und guter Bezahlung sind heute betroffen, so Sam Altman, CEO von OpenAI: Webdesigner, Programmierer, Softwareentwickler, Steuerberater, Autoren, Journalisten, Übersetzer, PR-Manager, Finanzanalysten, Buchhalter und Verwaltungsangestellte. (3)

Nicht nur Fabrikarbeiter und Kassierer werden immer weniger gebraucht, sondern auch Ärzte, Radiologen, Anwälte oder Lehrer. Es sind die gut Ausgebildeten, die Kreativen und Strategen, die die neuen Überflüssigen werden. In dem gleichnamigen, 2007 erstausgestrahlten Film von Aleksandra Kumorek wurden schon im Jahr 2020 drei Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung zu Überflüssigen erklärt. (4) Tatsächlich rechnet in Deutschland jedes vierte Unternehmen mit einem Stellenabbau durch KI. (5) Bis 2030 wollen 41 Prozent der Arbeitgeber massiv Stellen streichen. (6)

Freitod

Welchen Sinn hat ein Leben, das auf ein Abstellgleis gefahren wird? Was machen wir, wenn wir von der Gesellschaft abgehängt werden?

Im Frühjahr 2020, zum gleichen Zeitpunkt, als Corona die Welt lähmte, wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach Suizidhilfe in Deutschland legal ist. Seitdem hat jeder das Recht, „seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen“ (7).

Es gibt keine Beschränkung auf schwere Krankheiten oder ein bestimmtes Lebensalter. Voraussetzung ist die Freiverantwortlichkeit und Nachhaltigkeit der Entscheidung, das eigene Leben zu beenden. Die betroffene Person muss wissen, was sie tut, und die Tragweite ihrer Entscheidung erfassen können. Sie muss informiert und aufgeklärt sein und Alternativen abgewogen haben. Die Entscheidung wird ohne Druck durch Dritte getroffen. Den letzten Schritt muss die sterbewillige Person selbst durchführen, indem sie eine Infusion öffnet oder ein Sterbemittel einnimmt.

Diese Möglichkeit kann nicht nur schwer erkrankten Menschen Erleichterung bringen. Sie steht allen zur Verfügung, die, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Leben scheiden wollen. Zum Beispiel weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können oder sich einsam fühlen. Als in Kanada im Jahr 2016 aktive und passive Sterbehilfe legalisiert wurde, kam eine Polemik darüber auf, was die neuen Gesetze auch sein können: eine versteckte Aufforderung, dem Staat nicht weiter auf der Tasche zu liegen. (8)

Gehört es in einer Welt, von der fälschlicherweise behauptet wird, ihr größtes Problem sei die Überbevölkerung, schon bald zum guten Ton, aus dem Leben zu gehen, wenn die Lage aussichtlos scheint? (9)

Wird es Aufforderungen an die „Überflüssigen“ geben, sich „freiwillig“ dafür zu entscheiden, keine Belastung mehr für andere zu sein? Worauf laufen Gesellschaften hinaus, die darauf bestehen, sich nur mit den Symptomen der Probleme zu beschäftigen und sich weigern, sich den Ursachen zuzuwenden?

Gelenkte Kraft

Lebensqualität und Sinnhaftigkeit sind entscheidend für den Lebenswillen eines Menschen. „Es hat ja alles keinen Sinn“ kann ein langsames Sterben einleiten. Wir leben nicht mehr — wir überleben. Wenn man uns dann erzählt, es gäbe nicht mehr genug Klopapier oder zu wenig Demokratie, wird der Überlebenswille aktiviert. Niedere Eigenschaften wie Neid, Missgunst, Gier, Angst und Hass werden freigesetzt. Jetzt gibt es etwas, wofür wir bereit sind zu kämpfen.

Wer diese Kräfte zu lenken weiß, wird zum Herrscher über die Welt. So etwas geschieht nicht von heute auf morgen. Denn in seinem Wesen ist der Mensch bestrebt, Gutes zu tun. Das kleine Kind will helfen und es so machen wie die erwachsenen Bezugspersonen. Die meisten Menschen empfinden Erfüllung, wenn sie spüren, dass ihr Wirken für die Gemeinschaft von Nutzen ist, oder wenn sie anderen helfen können. Wir freuen uns, wenn wir anderen eine Freude machen können.

Diese natürliche Veranlagung musste überschattet werden. Jemand musste uns erzählen, wir seien sündig, klein, ohnmächtig und schließlich überflüssig. Grenzen mussten gezogen werden, Hierarchien aufgebaut und Verbindungen aufgelöst. Der natürliche Überfluss musste kontrolliert und durch einen künstlichen Überfluss ersetzt werden. Ein Menschen- und Weltbild musste kreiert werden, das auf Mangel basiert und in der Frage nach der Nützlichkeit mündet.

Zurück in die Fülle

Anstatt sich vor der Mutter Erde zu verbeugen und das Leben zu ehren und als Wunder zu feiern, begann man es abzuwägen und zu kategorisieren. Wie viel Wert hat ein Menschenleben? Wie viel ein Tier, ein Wald, ein Planet? Ab wann gilt etwas als unnütz? Wann darf es folglich beseitigt oder getötet werden?

Wer ist nützlicher: der Mensch auf der Parkbank, der in der Fabrik oder der, der sein Vermögen damit macht, mit der Arbeit anderer zu spekulieren? Wer verdient es mehr, zu leben?

Welche Antworten werden die Millionen Menschen finden, die in den kommenden Jahren arbeitslos werden? Wie viele von ihnen werden sich überflüssig fühlen, nutzlos, wertlos? Werden sie keinen anderen Ausweg als den Freitod sehen, oder werden sie einen anderen Sinn in ihrem Leben finden als den, ein guter Produzent und ein guter Konsument zu sein? Wird der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, ihnen eine neue Fülle eröffnen?

Eine Fülle, die nichts gemein hat mit dem Tand, der täglich über unsere Straßen transportiert wird, die Autobahnen verstopft, die Geschäfte überschwemmt und als Abfall in die ärmsten Länder des Planeten zurückgeschifft wird. Dieser Überfluss hat nichts zu tun mit dem Plastikkontinent, der längst entstanden ist. Es ist die Fülle des Baumes, der seine Blätter nicht zählt, der Blüten auf einer Sommerwiese, der Sterne am endlosen Himmel.

Es ist genug von allem da. Der Mangel ist eine Erfindung von Kräften, die die Kontrolle über das Leben anstreben.

Ihre Macht reicht so weit wie unser Glaube daran. Wer sich erneut und in vollem Vertrauen in das Leben und die Erde, die ihn geboren hat, der natürlichen Fülle zuwendet, macht die kontrollierenden Kräfte überflüssig. Er muss nicht mit dem Gedanken an die eigene Überflüssigkeit spielen, sondern geht hinaus auf die nächste Wiese, in den nächsten Wald, an den nächsten Fluss oder blickt einfach nach oben in den nächtlichen Himmel. Dort sieht er, wie groß das Geschenk ist, das ihm mit dem Leben gemacht wurde.