Zwei Wirklichkeiten
Mit der Ukraine- und Russlandberichterstattung seit 2010 entwickelten sich die Wahrnehmungsweisen von Mainstream- und Alternativmedien extrem auseinander.
Seit über einem Jahrzehnt verläuft die Berichterstattung über Ukraine und Russland entlang geopolitischer und kommunikativer Frontlinien. Öffentlich-rechtliche Sender (ÖR) in der EU betonen demokratische Selbstvergewisserung und russische Aggression; alternative Formate verweisen auf Auslassungen westlicher Medien und auf die Sicherheitsinteressen Russlands. Spätestens seit dem EU-Sendeverbot von RT/Sputnik im März 2022 wandelte sich die Konkurrenz der Perspektiven in Deutungskampf: Informationsräume fragmentieren, der Zugang zu Foren wird erschwert, Zensur- und Plattformregeln strukturieren Öffentlichkeit neu (8). Dieser Text ordnet Ereignisse und Quellen chronologisch, weist auf unterbelichtete Befunde hin und hält die Darstellung neutral.
Phase relativer Offenheit 2010 bis 2013
Nach der Finanzkrise blieb die Ukraine in der ÖR-Auslandsberichterstattung ein Thema politischer Instabilität, Korruption und Energieabhängigkeit. Der Gasstreit 2009 machte die Verwundbarkeit transitgebundener Lieferketten sichtbar; im Westen wurde dies meist als Vertrags- und Preiskonflikt gerahmt, während alternative Plattformen das Thema früh als strategische Machtfrage einordneten: NATO-Erweiterung, Pipeline-Geopolitik. In dieser Phase dominierte noch ein nüchterner Korrespondentenstil; unterschiedliche Deutungen traten vor allem in Leitartikeln zutage.
Euromaidan, Krim und die Spaltung 2013/14
Der Euromaidan vom November 2013 bis Februar 2014 veränderte den Ton. ÖR formatierten den Aufstand überwiegend als demokratischen Bruch mit Wiktor Janukowytsch; Alternativmedien sahen einen westlich flankierten Regierungswechsel. Kaum thematisiert wurde in der ÖR-Berichterstattung, dass das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen neben handelspolitischen und rechtsstaatlichen Kapiteln auch sicherheits- sowie verteidigungspolitische Kooperation vorsieht, inklusive Reformen im Verteidigungssektor und gemeinsamer Übungen, ein Aspekt, den Moskau als Sicherheitsrisiko rahmte (1).
Mit dem Krim-Referendum vom 16. März 2014 trennte sich die Wahrnehmung endgültig. ÖR bezeichneten das Votum als völkerrechtswidrig, verwiesen auf die UN-Resolution 68/262 zur territorialen Integrität der Ukraine und auf die Ablehnung einer OSZE-Beobachtermission mit Verweis auf Verfassungswidrigkeit (3)(4). Alternativmedien betonten Selbstbestimmung und verwiesen auf historische Bindungen sowie Kosowo-Präzedenzargumente.
Die russischen Stellen veröffentlichten hohe Zustimmungsraten, die westlicherseits als nicht frei erlangt kritisiert wurden (2)(6). Doch Faktisch gilt: Russland lud die OSZE zu einer Beobachtung ein, aber die OSZE lehnte eine Mission ab, weil das Referendum nicht konform der ukrainischen Verfassung zustande kam (4). Beide Seiten operierten mit verifizierbaren Teilwahrheiten, gewichtet nach unterschiedlichen Prinzipien: Integrität versus Selbstbestimmung.
Parallel verschärfte Russland die Kontrolle über zivilgesellschaftliche und mediale Akteure mit dem „Ausländische-Agenten“-Gesetz aus dem Jahr 2012 mit Erweiterungen aus 2014ff., die im Westen als Repression dargestellt wurde und im russischen Diskurs als Abwehr externer Einflussnahme (5).
Donbass, Minsk und die verdeckte Eskalation 2014 bis 2021
Der Krieg im Donbass entwickelte sich zu einem Bürgerkrieg mit internationaler Dimension, den die OSZE-Sonderbeobachtermission (SMM) kontinuierlich dokumentierte. Die SMM protokollierte täglich Waffenstillstandsverletzungen beider Seiten, standardisiert in PDFs; unabhängige Analysten überführten diese in .xls-Tabellen zur Trendanalyse (9)(10)(11)(12). Wer die Rohdaten systematisch auswertete, erkannte Muster: In Phasen politischer Verdichtung stiegen die Verstöße deutlich an; in mehreren Spitzenphasen wurde überproportional aus westlich kontrollierten Gebieten ausgehender Beschuss registriert. Die OSZE bewertete nicht politisch; sie dokumentierte. Diese statistische Asymmetrie blieb in ÖR-Formaten meist unerwähnt oder wurde pauschal als „Gefechte“ gerahmt; alternative Portale publizierten Auswertungen und setzten sie in Widerspruch zur gängigen Fernseherzählung (13)(14)(18).
Mit dem Abschuss von MH17 im Juli 2014 verengte sich der Fokus vieler Leitmedien auf die Schuldfrage entlang westlicher Ermittlungen. Alternative Autoren verwiesen auf ballistische und radarbasierte Gegenargumente. Die Beweisaufnahme blieb komplex, aber die Aufmerksamkeitsverteilung asymmetrisch.
Strukturell verschärften Gesetze die Segmentierung: Russlands „souveränes Internet“ aus 2019 stärkte staatliche Eingriffsmöglichkeiten in Datenflüsse; die Ukraine reformierte später ihr Medienrecht in Richtung Transparenz, was Kritiker als indirekte Bevorzugung pro-westlicher Linien deuteten (5).
2022: Invasion, Informationskrieg und EU-Sendeverbot
Kurz vor dem Einmarsch am 24. Februar 2022 verzeichneten OSZE-Berichte einen sprunghaften Anstieg der Verstöße vom Westen auf Tageswerte jenseits vierstelliger Summen. Diese Kontextdaten fanden in ÖR-Echtzeitformaten wenig Raum; Alternative Medien hoben sie als „Eskalationsindikator vor dem Einmarsch“ hervor (11)(12)(13)(14)(18). Ob als Provokation, Vorbereitung oder Eskalationskathalysator blieb offen. Dass der Anstieg dokumentiert wurde, ist belegt.
Mit der EU-Verordnung 2022/350 untersagte die EU Verbreitung und Monetarisierung von RT und Sputnik im Unionsraum. Politisch begründet als Schutz vor Kriegspropaganda, wirkte die Maßnahme faktisch als zentralisiertes Sende- und Zugriffsverbot für die EU-Bevölkerung. Eine Zäsur in Friedenszeiten, die das Recht auf Informationfreiheit der Bürger in der EU abschaffte und die Zensur in der EU einführte (8).
Russland reagierte mit dem „Fake-News“-Gesetz (31-FZ) und Haftandrohungen bis zu 15 Jahren für abweichende Kriegsdarstellungen (7). Zwei Modelle der Informationslenkung standen sich gegenüber: medien-/plattformrechtliche Verbote hier, strafrechtliche Repression dort.
Das Ringen um Narrative kulminierte in Mariupol/Azovstal von April bis Mai 2022: ÖR betonten die Verteidigungslage und UN-Evakuierungen; alternative/russische Quellen sprachen von „menschlichen Schutzschildern“. Beide stützten sich auf reale Vorgänge, priorisierten aber unterschiedliche Ausschnitte. Parallel verlagerten sich russlandnahe Stimmen in EU-Ländern in geschlossene/verlagerte Kanäle, zum Beispiel Telegram, und gewannen dort Reichweite, während sie aus dem regulierten Medienraum verschwanden (16).
2023 bis 2025: Polarisierung, Risiko und die Zensurentwicklung in der EU
Die fortgesetzte Kriegsphase verfestigte die Silos: ÖR professionalisierten Verifikation, verloren aber Zugang zu von Russland kontrollierten Gebieten; freie Medien gewannen Follower, jedoch selten Ressourcen für belastbare Feldrecherchen. Sanktionspakete und Plattformregeln erschwerten Umgehungen; Russland verschärfte Zensurbestimmungen. Laut Committee to Protect Journalists wurden seit 2022 zahlreiche Medienschaffende getötet; Risiko und Versicherbarkeit sanken, Korrespondentenarbeit verarmte räumlich (17). Studien attestierten den ÖR insgesamt professionelle Qualität, kritisierten jedoch das Defizit russischer Stimmen und strukturelle Blindstellen; Vertrauen und Nutzungsmuster in Europa blieben gespalten (15)(19).
Hinzu kam eine schrittweise Verdichtung regulativer Eingriffe innerhalb der EU, die faktisch eine mehrstufige Zensurarchitektur entstehen ließ: Erstens blieben medienrechtliche Sanktionsakte, unter anderem VO 2022/350, nicht bei linearen Sendern stehen, sondern wirkten in der Praxis auch auf Plattformdistribution, Monetarisierung und Auffindbarkeit, das heißt Geoblocking durch ISPs, De-Indexierung, Werbe- und Zahlungsrestriktionen (8). Zweitens verpflichtete der Digital Services Act (DSA) große Plattformen zu „Risikominderungsmaßnahmen“ gegen „systemische Risiken“ wie Desinformation; in der Umsetzung führte dies zu Downranking, Labeling, Sperrungen und Kontoauflösungen, häufig ohne gerichtliche Vorabprüfung, aber mit internen Beschwerdewegen, die für kleine Anbieter schwer nutzbar sind (20).
Drittens erlaubte die TERREG-Verordnung (EU 2021/784) das rasche Entfernen mutmaßlich terroristischer Inhalte binnen einer Stunde — formal eng umrissen, praktisch jedoch mit Overblocking-Risiken, wenn Anbieter im Zweifel vorsorglich löschen (21). Viertens verfestigte der überarbeitete EU-Verhaltenskodex gegen Desinformation die freiwillig-vertragliche Ebene: Plattformen verpflichten sich zu Kennzeichnung, Reichweitenreduktion, Werbeausschlüssen und Datenzugang für Forscher; die Sanktionierung erfolgt mittelbar über DSA-Compliance und öffentliche Berichte (22). In Summe entstand ein mehrschichtiges Regime aus Sanktionen, Plattformpflichten und Ko-Regulierung, das zwar keine klassische Vorzensur etabliert, aber Zugriff, Sichtbarkeit und Finanzierung bestimmter Inhalte strukturell begrenzt. In der öffentlichen Debatte der ÖR wird dieser Mechanismus meist als notwendige Integritätssicherung gerahmt; der Hinweis auf Auslassungen — etwa zu OSZE-Daten, russischen Stimmen oder Kontextmetriken — bleibt dagegen randständig (9)(10)(11)(12)(15).
Schluss
Die Entwicklung seit 2010 zeigt keinen Masterplan, sondern eine schrittweise Entkopplung: politische Eskalation, rechtliche Reaktionen, mediale Silos. Zensur ist nicht mehr ausschließlich staatlich, sondern verteilt über Gesetze, Lizenzen, Plattformregeln, ökonomische Anreize auf Medienunternehmen verlagert.
Die EU verbot Sender im Namen der Demokratie und Russland verbot abweichende Darstellungen im Namen der Sicherheit. Dazwischen schrumpfte der gemeinsame Austauschraum. Wer heute verstehen will, braucht Kreuzlektüre und die Bereitschaft, statistische Kontexte (OSZE) ebenso zu berücksichtigen wie Völkerrechtsargumente der UN und sicherheitspolitische Perspektiven bezüglich der Assoziierung und der NATO. Erst dann entsteht ein Bild, das der Realität näherkommt als jede Einzelerzählung.