Zwischen Brücke und Frontlinie
Die Parlamentswahl in Moldau zeigt, wie tief die Republik zwischen Ost und West gespalten ist — und wie stark auch die EU in innereuropäische Prozesse eingreift.
Am Sonntag wählten die Bürgerinnen und Bürger Moldaus ein neues Parlament. Für die einen ist die kleine Republik zwischen Rumänien und der Ukraine ein Hoffnungsträger auf dem Weg in die Europäische Union. Für die anderen ist sie Teil einer russisch geprägten Ordnung. Nach einer Phase relativer Ruhe ist das Land in den vergangenen zehn Jahren zu einer Konfliktgesellschaft geworden. Parteiverbote, Medienkampagnen und gezielte externe Einflussnahmen haben diesen Prozess verschärft. Während westliche Medien das Bild einer prorussischen Bedrohung zeichnen, sehen viele Moldauer schlicht zwei verschiedene politische Orientierungen, die gegeneinanderstehen.
Von der Brücke zur Frontlinie
Als die Republik Moldau Anfang der neunziger Jahre ihre Unabhängigkeit erklärte, schien sie trotz des kurzen Krieges in Transnistrien auf einen Weg relativer Stabilität einzuschwenken. Zwar blieb die abtrünnige Region am linken Ufer des Dnjestr unter Kontrolle der russischen 14. Armee, doch im Kernland lebten Moldauer, Russen, Ukrainer, Gagausen und Bulgaren über Jahre hinweg vergleichsweise friedlich zusammen. Die Präsenz der russischen Truppen in Transnistrien reicht dabei historisch weit zurück: Seit nahezu einem Jahrhundert sind Einheiten dort stationiert, viele der heutigen Soldaten wurden selbst in der Region geboren und betrachten sie als ihre Heimat. Moldau galt dennoch lange als Brücke: Hunderttausende Bürger arbeiteten in Russland oder in der Europäischen Union, Familien verbanden Einkünfte und Kontakte in beide Richtungen, und die politischen Machtwechsel verliefen mal proeuropäisch, mal prorussisch, ohne dass das fragile Gleichgewicht zerbrach.
Diese Balance löste sich nach 2010 auf. Mit der „Östlichen Partnerschaft“ der EU und dem Assoziierungsabkommen von 2014 begann eine neue Phase. Moldau trat aus der GUS-Freihandelszone heraus, Russland reagierte mit Importstopps, insbesondere für Wein, Obst und Gemüse. Für viele Landwirte bedeutete das den Verlust ihrer wichtigsten Absatzmärkte.
Der „Weinkrieg“ als Symbol
Der Konflikt um Weinimporte entwickelte sich zum Symbol des geopolitischen Streits. Russische Behörden erklärten, moldauische Produkte überschritten Grenzwerte für Pestizide und Weichmacher – etwa DDT oder DEHP. In der Europäischen Union wurden dieselben Waren zugelassen.
Russland verwies auf strengere Grenzwerte, europäische Politiker sprachen von politisch motivierten Sanktionen. Unstrittig ist, dass Rückstände vorhanden waren – ihre Bewertung hing vom jeweils angewandten Standard ab. So wurde aus einem technischen Streit um Rückstände eine politische Frontstellung: Russland verhängte Importverbote, während die EU zeitgleich die Einfuhrquoten für moldauische Weine erhöhte.
NGOs wie Foodwatch kritisieren bis heute, dass die europäischen Grenzwerte im internationalen Vergleich die höchsten sind.
Ein Wahlkampf ohne gleiche Chancen
Die Parlamentswahl 2025 fand in einem Klima tiefer Polarisierung statt. Die regierende proeuropäische Partei PAS sprach von einer Entscheidung „zwischen Europa und Russland“. Doch nicht alle politischen Stimmen waren zugelassen. Die Șor-Partei wurde bereits 2023 verboten, offiziell wegen illegaler Parteienfinanzierung. Bereits im August 2025 waren zwei prominente Politikerinnen verurteilt worden. Yevgenia Gutsul, Gouverneurin von Gagausien und enge Verbündete der inzwischen verbotenen Șor-Partei, sowie Irina Vlah, ihre Vorgängerin, die zuvor der Sozialistischen Partei Moldaus (PSRM) angehört hatte und später als unabhängige prorussische Politikerin auftrat. Ihnen wurde illegale Parteienfinanzierung, Geldwäsche und Stimmenkauf vorgeworfen. Beide wiesen die Anschuldigungen zurück und bezeichneten das Verfahren als politisch motiviert. Kritiker sehen in diesen Urteilen ein weiteres Beispiel dafür, wie führende Köpfe prorussischer Parteien kurz vor den Wahlen ausgeschaltet wurden. Am 26. September 2025, nur einen Tag vor der Wahl, traf es auch die Partei Heart of Moldova. Begründet wurde der Ausschluss mit Geldwäsche und Stimmenkauf – denselben Vorwürfen, die zuvor schon gegen andere oppositionelle Kräfte erhoben worden waren (4).
Kritiker sehen darin ein Muster: Der Vorwurf der „illegalen Finanzierung“ dient als Hebel, um missliebige Konkurrenten auszuschalten. Westliche Medien berichten meist über angebliche russische Geldströme, während prorussische Stimmen auf die massive finanzielle und organisatorische Unterstützung der EU verweisen.
Die Berliner Zeitung beschrieb jüngst detailliert, wie die Europäische Union Wahlen in Moldau beeinflusst – durch Milliardenhilfen, Konditionalitäten und Programme, die gezielt regierungsfreundliche Medien stärken (7).
Eingriffe von außen
Nicht nur Moskau versucht, Einfluss zu nehmen. Auch Brüssel, Berlin und Washington sind in Chișinău präsent. Präsidentin Maia Sandu, Harvard-Absolventin und frühere Weltbank-Mitarbeiterin, gilt als prowestlich vernetzt. Spitzenpolitiker wie Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Ursula von der Leyen reisten mehrfach in die moldauische Hauptstadt, 2023 fand dort sogar ein EU-Gipfel statt.
Hinzu kommen sicherheitspolitische Abkommen, etwa das Verteidigungsabkommen zwischen Frankreich und Moldau von März 2024, das eine enge militärische Kooperation vorsieht: von Ausbildung über Nachrichtendienste bis hin zu gemeinsamen Übungen (8). Während die Regierung das als Sicherheitsgarantie darstellt, kritisiert die Opposition eine schleichende Einbindung in westliche Militärstrukturen, die die Neutralität des Landes infrage stellt.
Ein tiefer Wertekonflikt
Neben geopolitischen Fragen prägt ein kultureller Bruch die Gesellschaft. Das proeuropäische Lager, stark in Städten und unter Rückkehrern aus der EU, verbindet die Nähe zu Brüssel mit Chancen auf Wohlstand, Reformen und individuelle Freiheiten. Die prorussische Seite – stärker im ländlichen Raum und unter älteren Bevölkerungsschichten – betont Familie, Tradition und soziale Sicherheit und sieht in Russland eine moralische Ordnungsmacht.
Die Orthodoxe Kirche ist gesellschaftlich tief verankert. Sie lehnt gleichgeschlechtliche Ehen und Genderpolitik ab und stellt die Familie in den Mittelpunkt. Viele Gläubige betrachten die von der EU propagierte „Freiheit“ nicht als Gewinn, sondern als Bedrohung traditioneller Werte.
Demokratie mit Vorbehalten
In westlichen Medien wird Russland häufig als Diktatur beschrieben. Neutral betrachtet existieren dort wie auch in Moldau formale demokratische Strukturen, die jedoch durch staatliche Kontrolle und eine politisierte Justiz eingeschränkt sind. Viele Moldauer erleben Ähnliches im eigenen Land: Unabhängig davon, wer regiert, wird der Staatsapparat zur Sicherung der Macht genutzt.
Auch in westlichen Staaten gibt es vergleichbare Diskussionen. In Deutschland sorgte etwa der Fall des Querdenken-Initiators Michael Ballweg, der mehrere Monate in Untersuchungshaft saß, für Debatten über politisch motivierte Verfahren.
Nach der Wahl
Das amtliche Ergebnis brachte der PAS etwa die Hälfte aller Stimmen und eine knappe Mehrheit der Mandate (1, 2, 3).
Entscheidend war die Diaspora: Rund achtzig Prozent der im Ausland lebenden Moldauer stimmten für die Regierungspartei. Der Patriotische Block sprach von Wahlfälschung, kritisierte die kurzfristigen Parteiverbote und bemängelte, dass in Russland lebende Moldauer kaum wählen konnten.
Kremlsprecher Dmitri Peskow warf Chișinău vor, Hunderttausende Bürger faktisch ausgeschlossen zu haben (9).
Fazit
Moldau ist zum Symbol dafür geworden, wie geopolitische Konflikte kleine Staaten zerreißen können. Aus einer Phase relativer Ruhe nach 1990 ist eine Konfliktgesellschaft geworden – nicht allein durch innere Gegensätze, sondern auch durch den Druck konkurrierender Mächte. Die Wahl von 2025 entscheidet nicht nur über eine Regierung, sondern über den Kurs eines Landes, das zum Spielfeld globaler Interessen geworden ist.
Dabei wird in westlichen Medien die prorussische Seite häufig als Unterdrücker oder Störenfried dargestellt. Viele Moldauer begreifen das jedoch schlicht als Ausdruck zweier unterschiedlicher politischer Orientierungen und Ziele. Die Politik der Europäischen Union hat nicht nur in Moldau, sondern auch in der Ukraine Konflikte verschärft. Für die Menschen bedeutet das, den Preis geopolitischer Fehlentscheidungen zu tragen – in Form von Unsicherheit, Armut und, im Falle der Ukraine, in Gestalt eines Krieges.
Parallelen zeigen sich auch im Nachbarland Rumänien: Dort wird im Herbst ein neuer Präsident gewählt. Wie in Moldau stehen sich politische Kräfte gegenüber, die einerseits eine strikte Westbindung, andererseits eine stärkere nationale Eigenständigkeit betonen. Auch hier bestimmen externe Interessen, mediale Kampagnen und die enge Bindung an Brüssel den Wahlkampf. Damit ähneln sich die Dynamiken in beiden Ländern – demokratische Entscheidungen geraten in den Schatten geopolitischer Vorgaben, und die Gesellschaften werden zunehmend entlang äußerer Einflüsse polarisiert.