Das Erbe des Pazifismus
Die Errungenschaften der Entspannungspolitik scheinen endgültig in Vergessenheit geraten. Wer sie dennoch wachhält, muss mit hartem Gegenwind rechnen.
Ein Blick in Sendungen der öffentlich-rechtlichen Medien und ein offenes Ohr für Aussagen von Regierungspolitikern lassen den Eindruck entstehen, Pazifismus habe es in Deutschland nie gegeben, doch dem ist nicht so. Was heute als „entsetzlich“ diffamiert wird, ist im Grunde die diplomatische Tradition der Bundesrepublik. Willy Brandt leistete mit seiner Politik des Wandels durch Annäherung dem Frieden in Europa große Dienste und sollte nicht in Vergessenheit geraten.
Meine Kindheit und Jugend waren bestimmt von der unendlichen Erleichterung über das Ende des Zweiten Weltkriegs und über ein Grundgesetz, das versprach, die staatliche Machtausübung demokratischer Kontrolle zu unterwerfen und ein selbstbestimmtes friedliches Zusammenleben zu sichern. Es war zugleich keine leichte Zeit, denn es galt, mannigfaltige Kriegsfolgen zu bewältigen und horrende Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuarbeiten.
Krieg war als ein einziges Grauen in den Köpfen zurückgeblieben, und dass es eines Tages möglich sein könnte, überhaupt wieder an einen Krieg zu denken, geschweige denn, aus dem Mund von Ministern und Bundestagsabgeordneten die erneute Aufforderung, „kriegstüchtig“ zu werden, zu hören, war undenkbar.
Der Überfall auf die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten war noch nicht aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen verdrängt worden, jeder wusste auch noch, wer Auschwitz befreit hatte und dass der sogenannte D-Day, die Invasion der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, noch nicht das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete.
Die Ostpolitik Willy Brandts
„Nie wieder Krieg!“ lautete die Parole, doch in Zeiten des „Kalten Kriegs“ schienen die Aussichten auf eine Friedensordnung mit den Ländern im Osten gering. Der „Kalte Krieg“ als Konfrontation und Wettrüsten zwischen der kapitalistischen Supermacht USA und dem kommunistischen Ostblock unter Führung der Sowjetunion wurde zwischen 1947 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion ausgefochten. Der Konflikt zwischen beiden Systemen nahm mehrmals einen äußerst bedrohlichen Charakter an, mit der Möglichkeit eines Atomkriegs zwischen den Supermächten in der Kubakrise 1962, die nach 13 bangen Tagen durch diplomatische Gespräche und einen Kompromiss zwischen den USA und der Sowjetunion beendet werden konnte.
Und dann kam ein Politiker namens Willy Brandt, der mitten im „Kalten Krieg“ für einen „Wandel durch Annäherung“ warb mit dem Ziel, die politischen Spannungen zwischen West und Ost auch im Hinblick auf eine noch ferne Wiedervereinigung zu lockern und Beziehungen zu den Ostblockstaaten durch einen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch aufzubauen: „In kleinen Schritten, wo große noch nicht möglich sind“, so der damalige Außenminister Willy Brandt im Januar 1967 vor dem Europarat.
Nach der Bundestagswahl im Jahr 1969 bildete sich erstmals eine Koalition zwischen SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt. Im Folgenden drei Ausschnitte aus seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969:
„Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind entschlossen, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und den Zusammenhalt der deutschen Nation zu wahren, den Frieden zu erhalten und an einer europäischen Friedensordnung mitzuarbeiten, die Freiheitsrechte und den Wohlstand unseres Volkes zu erweitern und unser Land so zu entwickeln, dass sein Rang in der Welt von Morgen anerkannt und gesichert wird. (…)
Unser Volk braucht wie jedes andere seine innere Ordnung. In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Land nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen.
Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen. Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ (…)
Brandt beendete seine Rede mit den Worten: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Inneren und nach außen.“
Zwischen 1970 und 1973 schloss die Bundesrepublik unter Willy Brandt mit Walter Scheel an seiner Seite Verträge mit der DDR, der Sowjetunion und mit Polen, mit dem berühmten Kniefall am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos, die sogenannten Ostverträge ab, an denen Egor Bahr als Berater Brandts und Bevollmächtiger einen großen Anteil hatte. 1971 erhielt Willy Brandt für seine Politik der Entspannung den Friedensnobelpreis. Die Ostverträge legten den Grundstein für eine Ära der Entspannung und waren ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Beendigung des „Kalten Kriegs“ und zur Wiedervereinigung.
Es folgte eine lange Phase des Friedens. Politiker bemühten sich bei Konflikten um Interessenausgleich und um Diplomatie. Die Erinnerungen an den Krieg wirkten noch lange nach; viele litten noch unter den Folgen, waren geflüchtet, hatten Familienmitglieder und Besitz verloren, hatten schwere Schuld auf sich geladen, waren als seelische und körperliche Krüppel aus dem Krieg gekommen oder erst nach Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Die Zerstörung in den Städten und auch auf dem Land war noch groß. Menschen, die diese Zeit durchlebt haben, haben nicht vergessen, wie führende Politiker im Angesicht eines bedrohlichen Konflikts zwischen Ost und West mit kleinen Schritten, mit viel Verständnis dafür, was den Gegner bewegt, wichtige Ergebnisse bis hin zur Wiedervereinigung erzielen konnten.
Die Wiedervereinigung
Im Rahmen des „Zwei-plus-Vier-Vertrags“, in dem am 20. September 1990 zwischen den vier Siegermächten sowie der BRD und der DDR die Wiedervereinigung geregelt wurde, wurde unter anderem „Eine Vereinbarung über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland bis 1994 und das Recht, Bündnissen anzugehören“, festgelegt. Zwischen 1991 und 1994 fand damit eine der größten Truppenverlegungen in Friedenszeiten, der Abzug der „Westgruppe der russischen Truppen“ (WGT), statt.
Einige Monate nach seinem Amtsantritt am 7. Mai 2000 hielt Wladimir Putin am 25. September 2001 vor dem Bundestag eine Rede. Seine auf Deutsch gehaltene Ansprache „in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant“ rief stehende Ovationen hervor. Er schlug eine wirtschaftliche Zusammenarbeit von Lissabon bis Wladiwostok vor und führte weiter aus:
„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas und den Vereinigten Staaten. Doch bin ich einfach der Meinung, dass Europa sicher und langfristig den Ruf eines mächtigen und real selbstständigen Mittelpunkts der Weltpolitik festigen wird, wenn Sie Ihre eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen mit dem Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotential Russlands vereinigen würden.“
Zwar wurde Putins Rede damals von vielen Politiker und Medien beklatscht und gefeiert, doch die von ihm angebotene Hand „für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft“ wurde letztendlich nicht ergriffen.
Das haben die Vereinigten Staaten dann doch geschafft zu verhindern. George Friedman, Gründer des US-amerikanischen Think Tanks „Stratfor“ hat es am 4. Februar 2015 – im Zusammenhang mit den dramatischen Geschehnissen in der Ukraine – in einer berühmt gewordenen Rede in aller Deutlichkeit gesagt:
„Vereint sind sie (Russland und Deutschland) die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse war sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt. (…) Die Urangst der USA ist, dass deutsches Kapital und deutsche Technologien sich mit russischen Rohstoffen und russischer Arbeitskraft verbinden. Eine einzigartige Kombination, vor der die USA seit Jahrhunderten eine Höllenangst haben.“
Nach der Wiedervereinigung hofften viele, dass der Friede nun von Dauer sei, weil – so der Eindruck – keine Feinde mehr in Sicht waren. Doch in Wirklichkeit war das in Deutschland ein Wendepunkt schrittweise hin zu einer Periode an der Seite der USA, eine Zeit der Täuschungen und der enttäuschten Hoffnungen. Bereits 1990 nahm die Bundeswehr an „friedenserhaltenden“ und „friedenssichernden“ Auslandseinsätzen teil. Während der „Warschauer Pakt“ sich 1991 offiziell aufgelöst hatte, dehnte sich das NATO-Militärbündnis nach Osten aus. Die USA waren schon immer gut im Kreieren von Feindbildern, und schon 1999 nahmen deutsche Soldaten wieder an einem völkerrechtswidrigen Krieg, dem Kosovokrieg, auf europäischem Boden teil.
Deutschland – ein von außen gesteuerter Staat
In Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten galt und gilt es nun, Druck auszuüben, Drohungen auszusprechen, Unbotsamen „den Arm umzudrehen“, Sanktionen aufzuerlegen und Regimewechsel zu unterstützen.
Den Gegner verstehen zu wollen, geht gar nicht. Verträge heißen nun Deals und werden im Namen des Rechts des Stärkeren genauso schnell gekündigt wie geschlossen.
Das Messen mit zweierlei Maß und das kollektive Umarmen von korrupten Staatsoberhäuptern wie Wolodymyr Selenskij wird zur Normalität: Ein Mann, der jegliche Opposition in seinem Land ausgeschaltet hat und Todeslisten unterstützt. Wir erleben, dass hochrangige westliche Politiker einem syrischen Interimspräsidenten namens Ahmed al-Scharaa die Hand reichen, einem al-Quaida-Terroristen, der sich einst Abu Mohammed al-Dscholani nannte, auf dessen Kopf 10 Millionen US-Dollar Kopfgeld ausgesetzt waren und dessen Sicherheitskräfte inzwischen regelrechte Massaker unter den Angehörigen der religiösen Minderheiten, vor allem der Alawiten, anrichten. All das geschieht inzwischen in aller Offenheit und ohne jedes Schamgefühl. Die für die Regierung völlig irrelevant gewordene Meinung ihrer Bürger wird, wenn sie konform geht, zugelassen. Doch spricht sich – wer auch immer – gegen die Machenschaften und die Pläne der Mächtigen aus, sind deren Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt, diesen zum Schweigen zu bringen.
Das „Manifest“
Schon in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 hat Willy Brandt wichtige Punkte seiner Entspannungspolitik skizziert, und der spätere Erfolg hat ihm Recht gegeben. Hier noch einmal einige der zentralen Punkte:
Sich klar darüber sein, dass es um den schwierigen Ausgleich gegensätzlicher Interessen geht.
In kleinen Schritten vorangehen, wo große noch nicht möglich sind.
Geduld beim Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen.
Vertrauen dadurch aufbauen, dass man sich als gute und verlässliche Nachbarn erweist.
Eine Gruppe innerhalb der SPD um Außenpolitiker Ralf Stegner hat sich nun unerwartet an diese, ihre Vergangenheit erinnert und am 12. Juni ein „Manifest“ veröffentlicht, in dem sie für vertrauensbildende Maßnahmen, für Rüstungskontrolle und für Gespräche mit Russland plädiert und die geplante Stationierung von neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen ab 2026 in Deutschland ablehnt.
Wie sehr sich die Welt verändert hat, zeigt sich an den Reaktionen auf das „Manifest“: Das Schriftstück „sorgt für Entsetzen“ titelte der Focus. Roderich Kiesewetter findet es sogar „entsetzlich“. Und so geht es ohne jegliche Beweise und ohne den Hinweis auf die Friedensverhandlungen in der Türkei 2022, die die USA und Großbritannien platzen ließen, weiter mit Behauptungen und mit Vorwürfen an den „Kriegsverbrecher Putin“, der sich „darauf vorbereitet, weitere Angriffsziele in den Blick zu nehmen“, so Sebastian Fiedler (SPD), mit dem man nur „aus einer Position der Stärke verhandeln“ könne, so Boris Pistorius (SPD), sowie so wirre Beiträge wie das „Manifest“ sei kein spannender Debattenbeitrag, sondern „eine weinerliche Melange aus Rechthaberei, Geschichtsklitterung (!) und intellektueller Wohlstandsverwahrlosung“, so Michael Roth (SPD). Die SPD in Neumünster lädt Ralf Stegner gleich mal von ihrem traditionellen „Rote-Grütze-Essen“ am 4. Juli im Rathaus aus, wo er eine Rede hätte halten sollen. Der Eindruck drängt sich auf, dass alles schon beschlossen ist und das „Manifest“ – besonders vor dem SPD-Parteitag vom 27. bis zum 29. Juni – nur eine lästige Störaktion darstellt. Bei „Maybrit Illner“ meint Kiesewetter denn auch: „Das Wesentliche ist doch, dass von dieser Regierung Geschlossenheit ausgeht.“
„Um die Lügen der Gegenwart durchzusetzen, ist es notwendig, die Wahrheiten der Vergangenheit auszulöschen.“ (George Orwell)
Kinder und Jugendliche sind noch besonders formbar. Das haben sich schon alle totalitären Bewegungen zunutze gemacht. Das wussten auch George Orwell und Aldous Huxley, die vor Jahrzehnten vorausgesehen haben, dass kommenden Generationen historische Zusammenhänge nicht mehr zugängig gemacht werden sollen. Denn das Auslöschen der Geschichte ist ein wirksames Werkzeug für Indoktrination. Das belegen auch die vielen Artikel, die schon lange über den „fatalen Niedergang des Schulfachs Geschichte“ und von einer „historischen Unbildung als politisches Programm“ berichten. Die Orwellsche Umkehrung ist heute Realität: Krieg ist Frieden und Geschichtszusammenhänge erkennen ist Geschichtsklitterung.