Die essbare Stadt

Menschen engagieren sich zunehmend aus eigener Initiative in Projekten der Stadtbegrünung und der regionalen Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln.

Gemüse und Kräuter auf Balkonen, auf Hausdächern und selbst in kleinen Nischen. Saatgut-Bomben, die auf brachliegende Bebauungslücken geworfen werden. Baumbepflanzungen oder gar Hühner- und Fischzucht auf städtischen Flächen ... Die Methoden des „Urban Gardening“ haben in jüngerer Zeit zugenommen — ebenso wie überwiegend zustimmende Zeitungsartikel hierüber. Die Vorteile scheinen offensichtlich: Verbesserung der Luft- und Lebensqualität, Reduktion der Abhängigkeit von Lebensmittelgiganten und Supermarktketten, Gemeinschaftserlebnisse, Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, ein Stück Menschlichkeit in kalten Städten. Zwar ist die Bewegung noch nicht so weit gediehen, dass sie das oft triste Bild in den Metropolen spürbar aufzuhellen vermag, aber eine gute, ausbaufähige Idee ist das Ganze ohne Zweifel. Die Autorin stellt in ihrem Beitrag konkrete Projekte in verschiedenen Ländern sowie deutschen Städten vor. Bürger-Eigeninitiative kann eine gute Strukturpolitik zwar lediglich ergänzen, nicht ersetzen — aber das Urban Gardening ist doch ein begrüßenswerter Beitrag unter dem Motto „Besser machen statt (den politischen Gegner) schlecht machen“. Ein Beitrag zum „Nahrung“-Spezial.

„Es war in Buckow zur Süßkirschenzeit — die Bäume stehn an der Chaussee …“ (1), schrieb Wolf Biermann noch in den 1960er Jahren.

Ja, das waren Zeiten, als Obstbaum-Alleen noch in Dörfer und Städte einluden. Die heutige Straßen-, Stadt- und Dorfentwicklung hat die meisten Alleen verschwinden lassen. Auf Gemeinschaftsland Äpfel oder Kirschen zu pflücken, ist längst vorbei. Asphalt verbindet die vorherrschende Eintönigkeit. Und außerdem: Wir bekommen ja alles im Supermarkt und zu jeder Zeit und aus allen Regionen der Welt. Also egal ... !

Kritik an der allgemeinen Verstädterung, Kritik an der Art der industrialisierten Lebensmittelherstellung in großflächiger, technisierter, mit Chemikalien topfit gehaltener Landwirtschaft und auch Kritik an unserer vereinsamenden Lebenswelt, in der das dörfliche Schwätzchen mit dem Nachbarn über den Gartenzaum rar geworden ist, macht die Suche nach Auswegen und neuen Impulsen notwendig.

Mehr und mehr hat sich ein neuer Gedanke in die Städte eingeschlichen: die gärtnerische Nutzung freier und brachliegender oder schlecht genutzter Freiflächen. Zunächst als nachbarschaftliche Initiative entstanden, ist dies inzwischen in unseren Breiten immer häufiger zu einem Konzept der Stadtentwicklung und für das Aufpolieren von Image und Marketing geworden — es geht um „Die essbare Stadt“.

Ein erster Ausflug in die Möglichkeiten

Inzwischen gibt es kaum eine Stadt, die das Logo „Essbare Stadt“ nicht in ihrer Eigenwerbung führt und mit „urban gardening“ oder „urban farming“ vorgibt, bürgerfreundliche Politik zu verfolgen.

Vorreiter waren in Deutschland die Städte Andernach und Kassel in den Zehnerjahren des neuen Jahrtausends. Inzwischen haben Städte wie Düsseldorf, Köln, Lübeck, Krefeld, Chemnitz, München, Berlin, Stuttgart und viele mehr nachgezogen. Mehr als hundert Städte stellen inzwischen in irgendeiner Form Räume für die Nutzung städtischer Kleinräume, Grasflächen, Parks, Burggräben, Wallanlagen, brachliegende Grundstücke oder Industriebrachen den Bürgern und Vereinen zur Verfügung. Sie punkten mit Projekten, die Lern-, Kultur- und Bildungszwecke fördern, im besten Fall eine nachbarschaftliche, kleinräumige Versorgung mit frischem Obst und Gemüse anbieten.

Das fand man schon vor Jahren als mehr oder weniger spontanes Angebot von türkischen Familien auf fast allen Wochenmärkten der relevanten Stadtquartiere im Ruhrgebiet. Diese Familien bauten seit ihrer Ankunft im Bergbau Bohnen, Salate oder Zucchini in den Gärten der alten Zechensiedlungen oder auf sogenanntem „Grabeland“ an und boten die Überschüsse im Quartier an — und tun dies noch immer. Sie folgten und folgen damit einem alten osmanischen Prinzip, nachdem ein staatliches Grundstück, das „über Nacht“ (türk. ‚Gece Kondo’) besetzt und bewirtschaftet wird, vom „Besetzer“ weiterhin genutzt und wie Eigentum behandelt werden darf. Das Gesetz diente in alten Zeiten dem Schutz des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens, damit er nicht „brachfällt“, nicht wüst wird, sondern erhalten bleibt. Berühmt ist heute der gut organisierte große „türkische Bazaar“ jeden Samstag auf Gelsenkirchen-Schalke.

Bei den inzwischen professionell entstandenen städtischen Projektformen geht es neben der Versorgung mit frischen Gartenprodukten um organisierte, urbane, kleinräumige Landwirtschaft, um Biodiversität, Ernährung, Bildung, Nachhaltigkeit und Gemeinschaftsbildung.

Ein Beispiel für solch weitreichende Inhalte ist ein Projekt der Stadt Kassel, das der „Verein Essbare Stadt e.V.“ 2009 ins Leben gerufen hat (2). Dieser Verein orientiert sich vor allem an Nachhaltigkeit! Das bedeutet die Verfolgung ökologischer Ziele: es geht um Artenvielfalt, den Erhalt alter Kultursorten, den Anbau von Fruchtgehölzen und Nutzbiotopen sowie Streuobstwiesen. Gleichzeitig und ergänzend dazu sollen die Projekte mit sozialen Zielen verbunden sein. Demnach geht es um Gemeinschaftsbildung, Vermittlung von Kulturtechniken, Partizipation, bürgerschaftliches Engagement und auch um künstlerische Betätigung.

Urbanes Permakultur-Konzept: Nachhaltige Nutzung städtischer Flächen

Hinter dem Landwirtschaftskonzept steckt das langfristige Ziel, nutzbare Räume zu schaffen, die sich selbst erhalten, und das Prinzip der „Permakultur“ (3) umzusetzen.

Für die Umsetzung wurden diverse Wege eingeschlagen:

  • die Gründung einer Arbeitsgruppe „essbare Stadt“ beim Umwelt- und Gartenamt;
  • die sukzessive Pflanzung von beispielsweise Esskastanien und Walnüssen auf marginalen Flächen;
  • Baum- und Strauchpatenschaften;
  • das Anlegen von „Fruchthainen“, „Esswäldchen“ und Gemeinschaftsgärten, und dies vor allem in Quartieren mit hohem Armutsanteil.

Zu dieser Politik gehören auch:

  • eine kommunale Bodenvorratswirtschaft zum Freihalten von Gartenflächen;
  • die Kooperationen mit Schulen, Kitas, Wohnbaugesellschaften oder Unternehmen.

Allen Aktionen wurde die Entwicklung sogenannter Leuchtturmprojekte vorangestellt, wie „Kassel blüht auf“, „StadtFruchtGenuss“ oder „WalnussWald Kassel“. Diese Projekte haben inzwischen auch andere Städte zur Nachahmung angeregt, sodass die Idee als erfolgreich gelten kann. Viele Städte haben nachgezogen. Doch das Konzept geht weit über Nutzpflanzen und -bäume hinaus: Auch Nutztiere werden weltweit und inzwischen auch bei uns in das „Urban Gardening“ einbezogen. So heißt es zusammengefasst in einem Artikel zum Thema „essbare Stadt“ in der „Bauwelt“ von 2016 (4):

„Fischzucht auf dem Dach, Hühner, die in Gastfamilien leben, essbare Schulhöfe, Food Hubs: Es gibt zahlreiche Versuche, Lebensmittelherstellung, -verarbeitung und -recycling zurück in die Stadt zu bringen. Die Bandbreite reicht von schrägen Kunstaktionen über soziale Projekte bis hin zu wirtschaftlich arbeitenden Startup- Unternehmen.“

Food Hubs und Food Center sind Orte der öffentlichen Präsentation und des Zelebrierens der Lebensmittelherstellung und -verarbeitung — im Gegensatz zu einer unsichtbaren Produktion über eine Gesamtkette unbekannter weltweiter Hersteller. Hier treffen sich Menschen, die am Thema Essen interessiert sind, tauschen sich aus, informieren sich und arbeiten mit — und genießen hochwertige Lebensmittel, die direkt vor Ort hergestellt, verarbeitet und/oder recycelt werden.

Zwei weitere Beispiele für die Integration von Tieren in „Urban Gardening“

Aquaponik bezeichnet eine neue Methode, nach der in einem „naturnahen ökologischen System“ mithilfe modernster Technik zum Beispiel auf einer großen Dachfläche in geschützter und kontrollierter Umgebung Fische und gleichzeitig Gemüse gezüchtet werden. Das nährstoffreiche Abwasser der Fischzucht dient dabei der Bewässerung und Düngung der Gemüsepflanzen in einem mehr oder weniger geschlossenen System, sodass keine Antibiotika benötigt werden. Inzwischen gibt es weltweit zahlreiche kleine „Aquaponik Anlagen“ auf Dächern größerer Gebäude.

In Berlin ging im Jahr 2015 eine 1.800 Quadratmeter große Pilotanlage auf dem Gelände einer ehemaligen Malzfabrik durch das Unternehmen „ECT Farmsystem“ aus den USA in Betrieb. Dort werden inzwischen jährlich 25 Tonnen Fisch und 30 Tonnen Gemüse produziert und vor Ort an Restaurants, Märkte und Nachbarschaftsläden verkauft.

Chicks on Speed nennt Ursula Achternkamp ihr „Kunstprojekt“, das sie im Jahr 2011 in der Bauhaussiedlung Dessau-Törten begann. Vier Hühner und ein mobiler Stall wurden über zwei bis vier Wochen an Gastfamilien ausgeliehen, die sie beherbergen, pflegen und versorgen sollten und dafür täglich etwa vier Eier „ernten“ konnten. Danach zogen die Hühner zur nächsten Gastfamilie um. Die Aktion, so sagt Ursula Achternkamp, schafft eine Vielzahl von Kommunikationsanlässen und Kontaktmöglichkeiten in der Nachbarschaft und soll die Beteiligten dazu anregen, sich Gedanken über gesunde Lebensmittelproduktion und das Mensch-Tier-Verhältnis zu machen — so jedenfalls die Idee. Ob diese kleinräumige „Tier-Migration“ von Tierschützern als in Ordnung befunden wurde, bleibt offen. Weitere Projekte des Aquaponings betreffen die Produktion von Algen beispielsweise in Bangkok, da dafür wärmere Regionen benötigt werden.

Detroit — von der Shrinking City zur Urban-Gardening-Bewegung

Was heute „chic“ ist und dem Bedürfnis nach Kommunikation, Nachhaltigkeit und gesunder Ernährung Nachbarn, Kommunen und Unternehmen zusammenbringt und voller unzähliger Ideen steckt, war dort in Detroit Notwendigkeit.

In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zwangen Armut und Verzweiflung der in die Krise geratenen Automobilindustrie die Zurückgebliebenen — Detroit soll in jener Zeit zwei Drittel seiner Einwohner verloren haben — geradezu dazu, sich auf den verlassenen ehemaligen Arbeitsstätten selbst zu versorgen (4).

Niemand weiß heute genau, wie viele Garten- und Farmen-Anbauflächen es in Detroit gibt; sie werden auf mehrere Tausend geschätzt. Inzwischen hat Detroit zwar sein Schicksal verändert, doch das Ideal einer nachhaltigen, grünen Stadt hat die Stadt noch lange nicht erreicht. Wer noch nicht weggezogen ist, wohnt zwischen Ruinen, zugewucherten Brachen oder eben neu bewirtschafteten Flächen.

Eine Aktivistin, Nefer Ra Barber, die bei Earthworks, einer innerstädtischen Öko-Farm — die eine Suppenküche beliefert — arbeitet, sagt über den Anfang:

„Wir haben beschlossen, für uns selbst zu sorgen! Der Farmer Greg Willerer verkauft seine Ernte auf dem „Eastern Market“ in Detroit. Dort gibt es mittlerweile eine eigene Halle mit Gemüse nur aus der Stadt. Außerdem beliefert er Restaurants, die sich auf lokale Erzeugnisse spezialisiert haben. Mit seinem frisch geernteten Gourmet-Salat ist er in eine Marktlücke gestoßen — und kann davon leben.“

Es gibt weitere gemeinnützige Organisationen in Detroit, wie „Greening of Detroit“, die Aufgaben übernehmen, die die Kommune einfach nicht mehr schafft und bei denen sich die Anträge für grüne Projekte stapeln. Rund 15.000 urbane Gärtner sind Mitglieder ihres „Garden Resource Program“, zahlen zwischen zehn und zwanzig Dollar Jahresbeitrag und werden dafür mit Saatgut, Pflanzen, freiwilligen Helfern bis hin zu Vorschüssen für die zu erwartende Ernte unterstützt.

Dan Pitera, Professor für Architektur an der University of Detroit Mercy, sagt, die Wahrnehmung von außen habe sich verändert: „Vom Apokalyptischen hin zu einem hoffnungsvollen Zustand der Veränderung.“ Auch er hat die Vision eines sozial gerechten, ökologischen Detroits. Wie sieht eine solche Vision auf dem Plan aus? Dan Pitera schüttelt den Kopf: „Erst brauchen wir das Engagement der Leute, dann denken wir über Architektur und Stadtplanung nach.“

Geheime Gärtner: Die Urban Guerilleros

„Sie treffen sich im Geheimen um Bomben zu basteln und platzieren diese anschließend, in der Deckung der Nacht, an strategischen Orten in der Stadt. Doch wenn die Sprengkörper explodieren, kommt mit Sicherheit niemand zu Schaden. Denn die handlichen Geschosse bestehen aus Ton, Erde und Blumensamen und verwandeln trostlose Seitenstreifen, kahle Verkehrsinseln und Brachflächen in kleine Oasen. Obwohl die sogenannten Guerilla-Gärtner mit ihren geheimen Begrünungsaktionen nichts Böses beabsichtigen, ist ihr Schaffen illegal, denn für die Bepflanzung öffentlicher Flächen braucht man eine Genehmigung. Doch womöglich ist es gerade der Reiz des Verbotenen, der dafür sorgt, dass ‚Guerilla Gardening‘ auch in Deutschland immer populärer wird.“

So schwärmt der NABU über diese „Robin Hoods“ (6). Guerilla Gardening ist inzwischen eine internationale Bewegung mit mehr als 50.000 Mitgliedern. Richard Reynolds, der berühmteste Guerilla-Gärtner aus London, hat diese Art des Protestes im Jahr 2000 populär gemacht. Jeder soll mitmachen können und beim „Sunflower Guerilla Day“, am 1. Mai, aktiv werden und Sonnenblumensamen aussäen. Auf den entsprechenden Plattformen werden Pflanzaktionen geplant; dabei wird sogar die Verantwortung für die Pflanzen verabredet: Wer gießt und sich um die so gestalteten Flächen kümmert, muss natürlich entsprechend vorbereitet sein.

Perspektiven: Urban Gardening im eigenen Umfeld?

Ist Ihnen in Ihrer Stadt schon etwas aufgefallen? Ist sie grüner geworden? Sehen Sie Veränderungen? Freuen Sie sich über Walnussbäume oder Holunderbüsche in Ihrem Umfeld — und nutzen Sie sie vielleicht sogar? Ich fürchte, die Antwort wird oft „Nein“ lauten.

Doch bietet dieser kurze Abriss nicht eine gute Gelegenheit in Ihrem Quartier und mit Ihren Nachbarn über die Nutzung des Innenhofes Ihres Wohnblocks nachzudenken, ungenutzte Flecken auf den Straßen Ihres Wohnumfeldes zu entdecken und über Pflanz- und Aussaataktionen zu beraten?

Ein Tropfen auf dem heißen Stein? Vielleicht. Das wird doch nicht die Welt verändern und schon gar nicht grüner und friedlicher machen, werden Sie sagen.

Sicher. Aber es könnte ein Anfang sein, um ins Gespräch zu kommen, über etwas Gemeinsames, für alle Angenehmes zu diskutieren und am Ende Gemeinsamkeiten über den Zustand unserer Welt und unserer Gesellschaft festzustellen! Aus meiner Erfahrung ist es heute nicht schwer, mit Menschen auf der Straße, im Café oder in der U-Bahn über unsere aktuelle Situation ins Gespräch zu kommen — eine Situation, die viele als unerträglich empfinden und die bei ihnen große Wut auf „die da oben“ auslöst. Dann bleibt es beim Schulterzucken und man geht auseinander.

Wie viel erfolgreicher könnte es sein, nach solchem Geplänkel direkt über ein gemeinsames Vorhaben zu sprechen, sich zu treffen, eine kleine Samenaktion an den Baumscheiben zu starten und vielleicht gleich die nächsten Aktionen — echte Guerilla-Projekte — zu planen?