Die Tomaten-Krise

Die indische Regierung hat aus einem echten Problem einen PR-Gag gemacht.

Tomaten oder Benzin? Das rote Gemüse ist in Indien für viele Menschen unbezahlbar geworden. Ein Kilogramm Tomaten kostet doppelt so viel wie ein Liter Benzin. Anstatt Echtzeitmaßnahmen zu ergreifen, bittet die indische Regierung des Hindu-nationalistischen Premierministers Narendra Modi unter dem Deckmantel „Der großen Tomaten-Challenge“ die Öffentlichkeit um Lösungen, während die Krise ihren Höhepunkt erreicht hat.

Weniger als ein Jahr vor den Wahlen steht die Regierung des indischen Premierministers Narendra Modi vor einem bedeutenden roten Hindernis, das sowohl finanziell belastend als auch besorgniserregend ist: Tomaten.

Der Preis für Tomaten ist auf 250 Rupien pro Kilogramm in die Höhe geschossen und damit über 200 Prozent teurer als Benzin (97 Rupien pro Liter in Delhi). Berichten zufolge sind die Tomatenpreise um 445 Prozent gestiegen, was sie für den Durchschnittsbürger unerschwinglich macht. Tomaten sind zu einer kostbaren Ware, zu rotem Gold geworden, sodass der Einzelne gezwungen ist, zwischen dem Kauf von 2 Litern Benzin oder 1 Kilogramm Tomaten zu wählen.

Es geht aber nicht nur um Tomaten. In den letzten Monaten ist es für die Arbeiterklasse in Indien immer schwieriger geworden, sich Gemüse zu leisten. Erbsen, Ingwer und andere Sommergemüse wie Kürbisse (Lauki, Tori, Karela) und Okra sowie Limetten haben eine starke Hyperinflation erlebt. Diese katastrophale Situation hat eine Studie der indischen Zentralbank RBI (Reserve Bank of India) zu der Warnung veranlasst, dass der Anstieg der Tomatenpreise die Inflationsentwicklung stören könnte. Große Einzelhandelsketten wie McDonald’s haben sogar Tomaten aus ihren Burgern und Wraps entfernt. Und die Medien berichten immer wieder von Einbrüchen und Raubüberfällen wegen Tomaten.

Diese Tomatenkrise wurde durch unregelmäßige Wetterverhältnisse ausgelöst. Indien war in diesem Jahr mit extremen Wetterereignissen konfrontiert, darunter schwere Regenfälle und Hitzewellen, die die Weizenproduktion in Zentral- und Nordindien während der Rabi-Saison beeinträchtigten.

Darüber hinaus haben Wirbelstürme und verfrühte Regenfälle in den nordindischen Anbaugebieten, wie Himachal Pradesh, Uttarakhand und Kaschmir, außerhalb der Saison verheerende Schäden angerichtet und die Tomatenfarmen in den südlichen und küstennahen Teilen des Landes beschädigt. Obwohl einige Landwirte in Himachal Pradesh über 100 Rupien pro Kilogramm für ihre Tomaten erzielen konnten, war ihr Erfolg nur von kurzer Dauer, da schwere Regenfälle nicht nur die Tomatenernte zerstörten, sondern auch die Straßen in den Bergen und die Nationalstraßen schwer beschädigten und die Lieferkette in vielen Gebieten unterbrachen.

Während der Klimawandel sicherlich eine wichtige Rolle spielt, hat Indien schon seit geraumer Zeit mit Problemen in der Lieferkette für seine drei Grundnahrungsmittel — Tomaten, Kartoffeln und Zwiebeln — zu kämpfen. Vor einigen Jahren startete die Modi-Regierung die Operation „Greens“ (deutsch: Blattgemüse) und ein „TOP“-Programm (Tomato, Onion, Potato — deutsch: Tomate, Zwiebel, Kartoffel), das Fracht- und Infrastruktursubventionen bot. Der Behördendschungel nahm seinen Lauf, und die aktuelle Krise wurde nicht bewältigt. Das unbeständige Wetter hat das Programm auf die Probe gestellt, und es scheint zu scheitern.

Anstatt Echtzeitmaßnahmen zu ergreifen, bittet die Regierung unter dem Deckmantel der „Tomato Grand Challenge“ (deutsch: Große Tomaten-Challenge) die Öffentlichkeit um Lösungen, während die Krise ihren Höhepunkt erreicht hat.

Das sieht eher nach einem PR-Gag aus als nach einem ernsthaften Versuch, das Problem zu lösen. Dieser Ansatz ist entmutigend, wenn man bedenkt, dass gerade in der letzten Saison die Tomatenbauern gegen den Preisverfall protestierten, indem sie LKW-Ladungen von Tomaten auf die Straße kippten. Viele Landwirte bekamen für ihre Tomatenernte nur 1 bis 2 Rupien pro Kilogramm, und auch die Zwiebelpreise waren nicht besser.

In Maharashtra begingen mehrere Bauern Selbstmord, die ein Eingreifen der Regierung forderten, um den räuberischen Marktkräften entgegenzuwirken, welche die Preise für Tomaten und Zwiebeln absichtlich nach unten drückten. Für diese notleidenden Landwirte in Nord- und Südindien gab es kein staatliches Programm, das sie unterstützt hätte. Das führte zu einer massiven Vergeudung von Gemüse, da die Landwirte die Kosten für den Verkauf ihrer Erzeugnisse selbst tragen mussten.

Man darf nicht vergessen, dass 80 Millionen Inder von der Regierung abhängig sind, wenn es um ihre Lebensmittelrationen geht, aber konkrete Pläne zur Verhinderung von Ernteverlusten fehlen offenkundig. Der Nationale Verband der landwirtschaftlichen Vermarktungsgenossenschaften in Indien (NAFED) und andere Behörden sahen tatenlos zu, wie Landwirte gezwungen wurden, ihre Gemüseernten zu vernichten, während die Stadtbevölkerung aufgrund der wiederholten Beteuerungen der Regierung, dass in der Lebensmittelwirtschaft „alles in Ordnung“ sei, apathisch blieb.

Die Tomatenknappheit ist ein Versagen von Verwaltung und Landwirtschaft. Hätte die „Tomato Grand Challenge“ die Landwirte als Interessenvertreter aktiv einbezogen, müssten die Inder vielleicht keine überhöhten Preise für Gemüse und Tomaten hinnehmen. Es besteht die dringende Notwendigkeit, auf Dorfebene Kühllager einzurichten, direkte Marktverbindungen zu fördern und spezielle „Mindeststützpreise“ für Gemüsearten wie Tomaten, Zwiebeln und Kartoffeln einzuführen, zusammen mit staatlicher Beschaffung und Anbauquoten für Landwirte. Ohne solche Maßnahmen wird Indien nur schwer aus dieser Krise herauskommen.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 17. Juli 2023 unter dem Titel „Tomatoes: The Modi Government Has Made a PR Stunt Out of a Real Issue auf der unabhängigen indischen Online-Plattform The Wire. Er wurde von Elisa Gratias übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratsteam lektoriert.