Ein Vorwurf zum Gruseln
Es fällt den Kämpfern gegen rechts nur so leicht, jeden Aufsässigen zum Nazi zu erklären, weil das Bild des Nazis popkulturell ins Groteske verzerrt wurde.
Mit zunehmender Dauer einer Online-Diskussion steigt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit einem Nazi-Vergleich aufwartet. Bereits 1990 hat der US-Autor Mike Godwin diese Erkenntnis publiziert — bekannt wurde sie als Godwin's, offenbar weil sie so zutreffend war, dass man sie in den Rang einer Gesetzmäßigkeit erhob. Man hat das Gefühl, dass sich seither viel getan hat. Denn dieses Gesetz trifft längst nicht nur auf Diskussionen im Internet zu; der Nazi- oder wahlweise Hitler-Vergleich ist heute auch im analogen Bereich zu einer Standarddisziplin der Diskussionskultur mutiert — ein Wort, das wie Hohn klingt, denn mit Kultur hat das Gebrüll nun wirklich wenig gemein.
Dass der russische Präsident ein Hitler sei, „wissen“ wir seit einigen Jahren, wenngleich Hillary Clinton ihn schon im Jahr 2014 so nannte. Alleine ist Wladimir Putin mit diesem Vergleich jedoch nicht, denn mit jenem Führer wurden schon andere Berühmtheiten verglichen: Angela Merkel, George W. Bush und Saddam Hussein wären hier bekannte Beispiele. Weniger nennenswerte „Vergleichsopfer“: Fußball-Trainer José Mourinho und Regisseur Michael Bay – selbst Berlins Ex-Bürgermeister Klaus Wowereit wurde damit belegt, weil seine Kulturpolitik angeblich so miserabel gewesen sei.
Deutschland kommt von Hitler und seinen Nazis nicht los. Heute gehört es mehr denn je zum guten Ton, unliebsame Zeitgenossen in diesen historischen Kontext einzuordnen – zuletzt erfuhr das auch Dieter Bohlen.
Das Bild des Nazis im öffentlichen Diskurs hat sich im Laufe der Jahre seit Kriegsende regelmäßig verändert. Die Trivialisierung und Ironisierung des Nazis als Kunstfigur setzte in den Vereinigten Staaten viel früher ein als bei uns – schon in den Siebzigerjahren finden sich dort Werke der sogenannten Sadiconazista, einem Subgenre der Exploitation- und Pornografiekultur, in der Nazis hochgradig sexuell aufgeladene, sadistische und grotesk überzeichnete Schergen sind, die mit dem tatsächlichen Nazi keinerlei Gemeinsamkeiten mehr aufweisen.
Erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten ist dieser subkulturell geprägte Blick auf den Nazi in den (deutschen) Mainstream eingezogen.
Schachbrett mit Judenfiguren
Im Februar 2020 präsentierte der Streaming-Dienst Amazon Prime einem globalen Millionenpublikum die Serie The Hunters. Das hochkarätig besetzte Episodenschauspiel – unter anderem mit Al Pacino, Jennifer Jason Leigh und Udo Kier – zeigte den Zuschauern ein ganz besonderes Schachspiel, das sich laut Drehbuch im Konzentrationslager Auschwitz zugetragen haben soll: Auf einem großen Schachbrett wurden gefangene Juden als Schachfiguren eingesetzt. Geschlagene „Figuren“ führten die Schergen direkt zur Exekution. Eine solche Begebenheit ist nirgends dokumentiert, und die Macher der Serie behaupten auch gar nicht, dass es sich so zugetragen habe – ihr Interesse lag darin, eine Serie über das absolut Böse zu produzieren. In früheren Zeiten wäre die Wahl auf eine satanische Figur gefallen, auf einen Poltergeist, den irgendwelche Ghostbusters einfangen oder vernichten müssen. Heute hat der Nazi diese Rolle übernommen. Sicher, er war nie ein Sonnyboy – die Verbrechen seines Regimes ließen eine solche Betrachtung selbstverständlich nicht zu. Aber dass das Böse menschlichen Ursprungs war, damit banal – um Hannah Arendt zu zitieren, auf die wir noch zu sprechen kommen –, dessen war man sich bewusst.
Der neue Typ Nazi im Kulturbetrieb ist unmenschlich – aber anders als zu einem früheren Zeitpunkt. Als 1962 das Wörterbuch der Unmenschen von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Süskind erschien, galten die Nationalsozialisten längst als Gestalten, die außerhalb jeder menschlichen Gemeinschaft standen – die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die 1946 in Nürnberg verhandelt wurden, zeigen deutlich, wie man die Nazis verortete: abseits des menschlichen Kosmos.
Die heute im Kulturbetrieb präsentierten Nazis, die auf der Mattscheibe entweder Schachpartien mit KZ-Internierten spielen, Zombies für ihre Zwecke instrumentalisieren, sich ein Serum spritzen, das sie zu Übermenschen macht, oder auf der Rückseite des Mondes auf Dinosauriern reiten, müssen aus der menschlichen Ordnung gar nicht mehr verbannt werden, weil sie in solchen Produktionen der Neo-Sadiconazista längst als Wesen fungieren, die nicht zur Menschheitsgattung gehören.
Es sind Geschöpfe aus einer anderen Sphäre, Bestien aus einer Dimension, in der Brutalität die oberste Moral darstellt.
Die aufgezählten Exemplare, die Untote züchten oder selbst Untote sind, die mit jüdischen Gefangenen Schach spielen oder vom Mond aus das Böse auf Erden zurückbringen wollen, sind lediglich die kuriosesten Varianten des Nazis in Kunst und Kultur. Häufiger kommt er als Protagonist im einem realen – oder annähernd realen – Szenario vor, fungiert dort aber als Wesen, dem das Böse aus allen Poren trieft, ohne auch nur eine menschliche Komponente aufzuweisen.
Das Monströse wird in solchen Werken häufig als Groteske dargestellt – berühmtestes Beispiel: Standartenführer Hans Landa, den der österreichische Schauspieler Christoph Waltz in Quentin Tarantinos Inglourious Basterds brillant zum Leben erweckte. Waltz wurde mit Filmpreisen überhäuft, auch mit dem Oscar für die beste Nebenrolle – Teil seines Erfolgs: Er legte die Rolle als Mischung zwischen strikter Unmenschlichkeit und passionierter Kunstbeflissenheit an. Damit erhielt sein Landa einen furchteinflößenderen Gestus als die Bösewichte in Produktionen, in denen der Nazi als bloße Neuauflage eines Nosferatu wirken soll: Dort tritt er seelenlos und als Ausgeburt der Hölle auf.
Lampenschirme aus menschlicher Haut
Die Darstellung des Hans Landa steht noch in einer Tradition, die an die Arbeiten Hannah Arendts erinnert, ist aber zugleich bereits Teil einer Ironisierung des Nazis als grotesker, völlig überspitzter Gestalt. Zehn Jahre nach Inglourious Basterds zeigte Taika Waititi in seinem Film Jojo Rabbit Nazis, die wie Clowns auftraten und teils auch so aussahen. Er versuchte auf diese Weise, den Nazi zu entmystifizieren und seine Rolle vor der Geschichte ins Lächerliche zu ziehen. Seine Nazi-Figuren – auch Hitler selbst tritt als Imagination eines kleinen Jungen in Erscheinung – sind bizarre und absonderliche Kreaturen.
Waititi nutzte den Nationalsozialismus und seine Protagonisten als bloße Szenerie für eine Welt, in der das Bösartige wirkt. Der Nazi ist längst zu einem Bösewicht transformiert, der neben dem Joker oder Hannibal Lecter seinen Platz gefunden hat: Er ist eine Phantasiegestalt, die – wie die Figur des menschenfressenden Psychiaters Lecter – Anleihen in der Wirklichkeit nimmt, aber dennoch ein Geschöpf aus dem Kopf eines Filmschaffenden darstellt, weil die realistischen Vorbilder bis zur Unkenntlichkeit zugespitzt wurden.
Einige Jahre bevor Waltz auch deutsche Kinogänger mit seiner Darstellung eines SS-Schergen faszinierte, polarisierte die Darstellung Bruno Ganz‘ als Hitler in seinen letzten Tagen im Bunker die deutsche Öffentlichkeit. Ob es wohl geboten sei, Hitler auch in menschlichen Zügen darzustellen, fragte das Feuilleton. Ganz zeigt einen Mann, dem sein Lebenswerk zusammenbricht – er wütet, ist verzweifelt, schlurft als abgerissene Gestalt durch die Gänge seines unterirdischen Rückzugsortes.
Zu sehen ist er im Film Der Untergang, der sowohl auf Joachim Fests historischen Arbeiten zu den letzten Stunden des Dritten Reiches als auch auf den Erzählungen von Hitlers Sekretärin Traudl Junge basiert. Irritiert zeigten sich die Filmkritiker davon, dass es nun möglich zu sein schien, auch jenen Adolf Hitler als einen Menschen zu zeigen und nicht als seelenlose Bestie.
Dass das Böse in jenen Tagen eine große Banalität an den Tag legte, war seit den Sechzigerjahren auch in Deutschland ein geläufiger Begriff. Hannah Arendt hatte den Prozess um Adolf Eichmann in Jerusalem verfolgt und kommentiert. Sie zeigte sich erstaunt, denn Eichmann war kein Monstrum, sondern ein recht belangloser Herr, ein „beliebiger Hanswurst“, wie sie schrieb.
Arendt skizzierte damit einen Umstand, der noch viel mehr Furcht erzeugte als die Vorstellung, in den Konzentrationslagern hätten Wesen aus dem Reich der Hölle gewütet, die nicht menschlichen Ursprungs gewesen seien. Denn sie zeigte auf, dass das wirklich Böse voller banaler Erscheinungsformen ist. Anders gesagt: Es waren stinknormale Menschen, die dieses Menschheitsverbrechen begangen haben.
Zu jener Zeit lebte die jüdische Philosophin bereits in den Vereinigten Staaten; seit ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten hatte sie sich dort ein Leben eingerichtet. Ob sie indes die Groschenromane kannte, die in Amerika kursierten und die reißerisch über das Leben der Bitch of Buchenwald kündeten? Gemeint war damit Ilse Koch, die Ehefrau des Lagerkommandanten von Buchenwald, eines Mannes namens Karl Otto Koch, der bereits im April 1945 wegen Korruption von der SS hingerichtet wurde.
Sie wird in diesen Trash-Heftchen als abgrundtief böse Hexe dargestellt, die sich an den Lampenschirmen aus der Haut jüdischer KZ-Insassen nicht sattsehen kann und die in Buchenwald residiert, ohne auch nur je einen Gedanken an die Amoralität zu verschwenden, die sie antreibt. Im Gegenteil: In Buchenwald ist sie zuhause, dort lebt sie ihren Sadismus aus.
Gewissensbisse der wirklichen Ilse Koch sind nicht verbürgt – und sicher wird sie ein Leben genossen haben, das dem ähnelt, was man in Jonathan Glazers Film The Zone of Interest am Beispiel der Hedwig Höß, der Gattin des KZ-Kommandanten von Auschwitz, zu sehen bekam. Sie inszenierte ein Familienidyll direkt an der Lagermauer, übt sich in Vergessenheit – als ihr Mann versetzt werden soll, ist sie verzweifelt: Auschwitz ist für sie ein Zuhause, von dem sie nicht mehr weg möchte.
Sympathische Frauen waren weder Höß noch Koch – aber infernalische Kreaturen, die außerhalb der Menschheitsfamilie wirkten oder gar nur Bestien in menschlicher Hülle gewesen wären, waren sie nicht. „Die Bitch of Buchenwald“ war das Produkt von Leuten, die den Holocaust nutzten, um eine Gruselstory erzählen zu können.
Der Nazi: Ein Horrorclown und Meme
Hannah Arendts Analyse von Adolf Eichmann prägte im Laufe der Jahre auch den Kulturbetrieb.
Der Organisator des Genozids an den Juden war nicht einmal ein besonders fanatischer Ideologe – er tat bloß seinen Dienst, wie er vor Gericht erklärte, übte Gehorsam und wollte die ihm übertragenen Aufgaben zufriedenstellend erledigen. Dass gerade dies die wahre Monstrosität war, wurde auch den Filmemachern sukzessive bewusst.
Wie einfach war es, ein Monster zu entwerfen, das Furcht verströmen soll, wenn man es in den Körper eines pflichtbewussten Beamten packte.
Perfide wurde die Unglaublichkeit des Monströsen erst mit der Vermenschlichung des Nazis, – eine Entwicklung, die in Deutschland allerdings weit später im Kulturbetrieb Einzug hielt als in den Vereinigten Staaten. Während jenseits des Atlantiks längst zum business as usual übergangen wurde und man dort die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges zu Unterhaltungszwecken ausschlachtete, stand den Deutschen der Sinn nach Harmonie – die Jahre des Krieges und der Entbehrungen sollten möglichst vergessen werden. Die deutsche Trümmerliteratur fokussierte sich auf die Opfer und befasste sich mit den Mitläufern – die Schuldfrage kam lediglich dezent zur Sprache. Noch erschien der Nazi als Mensch, als „einer von uns“. Im Laufe der Jahre jedoch mystifizierte die Wahrnehmung: Nun wurde der Nazi zu einem unmenschlichen Wesen, böse bis ins Mark – sein Antrieb war Vernichtung und Zerstörung, weil er Freude am Destruktiven hatte.
Dass das Weltbild der Nationalsozialisten aus deren Sicht konstruktiv war, dass sie in ihrem ideologischen Korsett das Gute anzustreben glaubten, darüber zu sprechen wäre fruchtbar gewesen, denn der Weg in die Hölle ist stets mit den besten Absichten gepflastert. Wie konnte es nur dazu kommen, dass da welche glaubten, etwas Richtiges zu tun?
Der Nazi war während der Zeit der Trümmerliteratur einer, der auf Abwege geriet – ein Verführter, der freilich tief in der Unmoral gefangen war, für den es aber eine Motivlage gab – auch wenn man diese nicht verstehen musste. Später etablierte sich eine neue Betrachtung: Ulf Poschardt schreibt in seinem Bestseller Shitbürgertum, dass die Gruppe 47 stark an der Mystifizierung gearbeitet habe –, der Nazi konnte plötzlich nicht mehr mit menschlichen Kategorien erfasst werden. Ihn verstehen zu wollen, sei quasi unmöglich, weil zwischen den Bürgerlichen und den Nazis nicht einfach nur zwei Weltanschauungen lägen, sondern beides gewissermaßen verschiedene Spezies seien– die Bürgerlichen Menschen, die Nazis hingegen … nun ja, etwas anderes.
Doch im Unterschied zu den USA rang man sich in Deutschland nicht dazu durch, den Nazi als ikonische Kunstfigur für das Maliziöse zu benutzen. Die nationale Pietät erlaubte so einen Ansatz nicht. Die Bitch of Buchenwald blieb den Amerikanern vorbehalten; in Deutschland sollte der Nazi kein Unterhaltungselement werden. Das ging so weit, dass beispielsweise eine Folge der damals nicht sonderlich erfolgreichen Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise in Deutschland nicht ausgestrahlt wurde, weil die Hauptfiguren Kirk und Spock auf einem Planeten landeten, auf denen Menschen in Nazi-Uniformen herumliefen und beide dazu gezwungen wurden, diese Montur ebenfalls anzulegen.
Das hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten verändert. Die einst zensierte Folge ist mittlerweile via Streaming-Dienst zugänglich – und die Produktionen, in denen Nazis allerlei Schändliches treiben – übersinnlich wie profan –, werden hier frei von Zensur ausgestrahlt.
Wenn Menschen heute andere Leute als Nazis beschimpfen, dann nimmt sich mancher, der mit diesem Wort belegt wurde, die Schmähung zu Herzen. Dabei ist der Begriff gar nicht mehr geschützt. Geschmähte haben vielleicht den tatsächlichen Nazi im Sinn. Aber längst firmiert der Begriff entkoppelt von den historischen Umständen.
Diejenigen, die andere mit „Nazi“ belegen, haben vielleicht Abziehbilder des ursprünglichen Typus im Sinn – denken vielleicht eher an einen Horrorclown oder ein anderes Kulturphänomen dieser Art, an ein Meme also, nicht an die historische Figur.
Alleine deshalb ist die Nazi-Keule heute völlig nutz- und wirkungslos, denn was ein Nazi ist, hat sich im Laufe der Jahrzehnte mehrfach gewandelt. Der Nazi ist heute ein Schurke, der auch im Marvel-Kosmos vorkommen könnte. Eine mit Superhelden und Superschurken aufgewachsene Generation hat zwangsläufig ein Problem mit Schattierungen und Grauzonen, denn in jenen Produktionen sind die Rollen eindeutig verteilt; dazwischen existiert nichts außer einer Brandmauer zwischen den Guten und den Bösen. Für diese Generation ist der Nazi eine Figur wie der Joker – jemand, der Schach mit KZ-Internierten als Figuren gespielt hat. Es ist daher nicht einmal mehr schäbig, wenn man jemanden als Nazi beschimpft, wie es früher der Fall war – es ist einfach nur noch lächerlich.