Hunger als Waffe

In einigen Ländern ist die Nahrungsmittelkatastrophe nicht Folge eines „Versagens“ — sie ist Teil einer Agenda, die die gezielte Vernichtung der Schwächsten zum Ziel hat.

Es gibt Bilder, die man nicht vergessen kann: ein Kind, dessen Bauch aufgedunsen ist, während die Arme nur aus Haut und Knochen bestehen; eine Mutter, die Blätter kocht, weil es sonst nichts gibt, um ihre Kinder noch einen Tag länger am Leben zu halten; alte Menschen, die vor überfüllten Kliniken zusammenbrechen, weil nicht einmal mehr eine Infusion zu haben ist. Solche Szenen stammen nicht aus den dunklen Kapiteln des 20. Jahrhunderts. Sie passieren heute. Im Gazastreifen. In Syrien. Im Sudan. Drei Regionen, drei Konflikte und ein gemeinsamer Nenner: Hunger als Waffe. Ein Beitrag zum „Nahrung“-Spezial.

Während in den Metropolen des Westens die Supermarktregale überquellen, während Europa über milliardenschwere Rüstungspakete diskutiert und die USA in neue Kriege investieren, sterben anderswo Kinder, weil ihnen gezielt die Nahrung entzogen wird. Es ist kein Unfall, kein unvermeidbares Schicksal, sondern eine Methode. Hunger wird bewusst erzeugt, um Menschen gefügig zu machen, um sie zu brechen, um Macht zu sichern. Es ist ein Massenverbrechen, das sich jeden Tag vor unseren Augen abspielt und das von der Weltgemeinschaft nicht verhindert, sondern oft aktiv mitgetragen wird.

Gaza — der belagerte Streifen zwischen Blockade, Diebstahl und Gewalt

Im Gazastreifen ist die Katastrophe längst offiziell. Am 22. August erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass in Gaza die Bedingungen einer Hungersnot herrschen. Über eine halbe Million Menschen befinden sich in Phase fünf der IPC-Klassifikation (Integrated Food Security Phase Classification, auf Deutsch etwa „Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen“), das bedeutet, dass Hunger nicht mehr droht, sondern Realität ist. Kinder verhungern, Erwachsene sterben an Unterernährung, Krankheiten breiten sich in einem Tempo aus, das alle Hilfssysteme überfordert.

Die unmittelbare Ursache ist die Blockade. Grenzübergänge sind nur sporadisch geöffnet, Hilfslieferungen werden kontrolliert, verzögert oder zurückgewiesen. Lastwagen mit Lebensmitteln, Milchpulver, Medikamenten und Wasseraufbereitungsanlagen stauen sich kilometerlang. Bürokratische Spitzfindigkeiten entscheiden darüber, ob ein Kind überlebt oder nicht. Wer glaubt, dass ein fehlendes Formular nur ein Verwaltungsdetail ist, irrt: In Gaza ist es eine tödliche Waffe.

Doch selbst die Lieferungen, die durchkommen, erreichen nicht immer die Bedürftigsten.

Seit Jahren gibt es Berichte, dass Hamas Hilfsgüter kontrolliert, Teile abzweigt oder auf Schwarzmärkten verkauft. Für eine Familie bedeutet das: Ein Sack Reis, der eigentlich kostenlos hätte verteilt werden sollen, kostet plötzlich Summen, die unerschwinglich sind. Hilfe wird so zur Einnahmequelle und zum Instrument der Macht. Hamas, die Organisation, die sich der Weltöffentlichkeit als Opfer präsentiert, trägt damit aktiv zur Verschärfung des Elends bei.

Und als wäre das nicht genug, lauert an den Verteilungsstellen die Gewalt. Internationale Medien haben dokumentiert, dass israelische Soldaten auf Menschen schossen, die versuchten, Lebensmittelpakete zu ergattern. Mehr als 1.400 Menschen sind so ums Leben gekommen, verhungert oder erschossen auf der Suche nach Brot. Es ist ein Zynismus ohne Beispiel: Menschen werden zuerst ausgehungert und dann getötet, wenn sie nach Nahrung greifen.

Das Resultat: Ein ganzer Landstrich gleitet in den Abgrund. UNICEF berichtet von Tausenden Kindern, die akut mangelernährt sind. Kliniken sind überfüllt, die Hälfte der Ernährungszentren funktioniert nicht mehr. Krankheiten wie Cholera breiten sich in der geschwächten Bevölkerung explosionsartig aus. Gaza ist nicht nur ein Schlachtfeld, es ist ein Sterbelager. Und Hunger ist hier nicht Nebeneffekt, sondern Strategie, von allen Seiten.

Syrien: befreit von Sanktionen, gefangen im Hunger

Im Gegensatz zu Gaza wurde Syrien in diesem Jahr international als „Befreiungsgeschichte“ verkauft. Im Mai hob die EU ihre Wirtschaftssanktionen auf, im Juli folgten die USA. Nach über einem Jahrzehnt der Isolation durfte Damaskus wieder an die globale Wirtschaft andocken. Finanztransaktionen laufen wieder, internationale Investoren zeigen vorsichtige Bereitschaft: Syrien, so die Botschaft, sei zurück.

Doch wer sich die Realität im Land ansieht, erkennt eine andere Wahrheit:

Millionen Syrer stehen am Rand des Verhungerns. Die Aufhebung der Sanktionen hat daran wenig geändert. Warum? Weil Hunger hier nicht primär eine Frage internationaler Politik ist, sondern das Resultat einer tödlichen Kombination aus Naturkatastrophe, zerstörter Infrastruktur und ökonomischem Zerfall.

Die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten hat das Land getroffen; Flüsse sind zu Rinnsalen geschrumpft, Brunnen versiegt, die Weizenernte ist um fast 40 Prozent eingebrochen. Aus einem Land, das einst als Kornkammer der Region galt, ist ein Hungerstaat geworden. Auch wenn Getreide importiert wird — es bleibt für Millionen unbezahlbar. Die syrische Währung ist kollabiert, Grundnahrungsmittel kosten inzwischen das Vielfache des früheren Preises.

Die Landwirtschaft ist in Trümmern, Bewässerungssysteme sind kaputt, Mühlen stillgelegt, Stromnetze marode. Der Krieg hat nicht nur Häuser und Städte zerstört, sondern die gesamte Produktionsbasis des Landes. Sanktionen aufzuheben, heißt nicht, diese Infrastruktur wieder aufzubauen. Es bedeutet lediglich, dass Syrien theoretisch Handel treiben könnte, praktisch aber fehlen die Kapazitäten, um Nahrung zu produzieren oder bezahlbar zu importieren.

Hinzu kommt die politische Realität: Korruption durchzieht die Behörden, Milizen kontrollieren Märkte und setzen Hilfsgüter als Druckmittel ein. „Loyalität gegen Nahrung“ ist in vielen Regionen die Regel. Internationale Organisationen wie das Welternährungsprogramm schlagen Alarm: 14,5 Millionen Syrer sind auf Hilfe angewiesen, Millionen stehen am Rand einer Hungersnot. Und das, obwohl die Sanktionen aufgehoben sind.

Das zeigt, Hunger ist in Syrien nicht mehr das Ergebnis äußerer Blockaden, sondern die Folge eines zerstörten Landes, einer kaputten Wirtschaft und einer politischen Klasse, die unfähig oder unwillig ist, für ihre Bevölkerung zu sorgen. Die Schlagzeilen aus Brüssel und Washington ändern nichts an den leeren Tellern von Damaskus, Aleppo oder Homs.

Sudan: Hungersnot als Schlachtfeld

Im Sudan ist Hunger noch unmittelbarer zur Waffe geworden. Seit 2023 zerreißt ein Bürgerkrieg das Land. Panzer, Drohnen und Raketen bestimmen die Schlagzeilen. Doch abseits der Fronten geschieht ein Verbrechen, das in seiner Wirkung nicht weniger tödlich ist: Hungersnot wird gezielt eingesetzt, um Menschen zu kontrollieren.

In Nord-Darfur und anderen Regionen haben die Vereinten Nationen (UN) offiziell Phase fünf, also Hungersnot, ausgerufen. Millionen Menschen sind betroffen, bis zu 25 Millionen könnten in den kommenden Monaten in den Abgrund stürzen. Milizen zerstören Felder, brennen Märkte nieder, blockieren humanitäre Konvois. Nahrung wird zur Waffe: Wer sie kontrolliert, kontrolliert die Bevölkerung. Wer sie verweigert, treibt Menschen in Flucht oder Tod.

Hilfsorganisationen berichten von Konvois, die an Checkpoints aufgehalten oder geplündert werden. Von Vorräten, die auf Schwarzmärkten landen, während Kinder verhungern. Von Preisen, die explodieren, während ganze Lagerhäuser in den Händen von Kriegsparteien liegen. Hunger ist im Sudan kein Nebeneffekt, er ist Methode.

Und wie in Gaza oder Syrien gilt auch hier: Es gibt nicht nur „einen Schuldigen“. Beide großen Kriegsparteien nutzen Hunger als Waffe. Für die Zivilbevölkerung bedeutet das eine permanente Geiselhaft, in der jedes Brot, jede Schüssel Wasser zu einer Frage von Leben und Tod wird.

Die Heuchelei des Westens

Während Millionen Menschen in Gaza, Syrien und Sudan ums Überleben kämpfen, investieren die westlichen Staaten Milliarden in Aufrüstung. Für neue Drohnensysteme, Raketenprogramme oder Munitionspakete sind binnen Stunden Gelder da.

Für Brot, Milchpulver oder Medikamente fehlt es angeblich an Mitteln. Es ist der moralische Offenbarungseid einer Weltordnung, die Panzerlieferungen vor Kinderleben einordnet.

Die Sprache der Politik tarnt das Verbrechen. Es heißt „Zugangsbeschränkungen“ statt Blockade, „operative Herausforderungen“ statt verhinderter Hilfslieferungen, „Sicherheitsbedenken“ statt gezielter Tötungen an Aid-Sites. Worte werden benutzt, um die Realität zu verwischen, und währenddessen sterben Menschen.

Der gemeinsame Nenner: Hunger als System

Ob im belagerten Gaza, im ausgetrockneten Syrien oder im zerrissenen Sudan: Hunger ist kein Unfall — er ist systematisch und bewusst herbeigeführt, instrumentalisiert, verwaltet. Von Staaten, die blockieren. Von Milizen, die plündern. Von Regimen, die ihre Macht über Lebensmittel verteilen. Und von einer internationalen Gemeinschaft, die wegsieht oder gar mitmacht.

Es gibt keine Entschuldigung mehr. Wir wissen, was passiert. Wir sehen die Bilder, wir lesen die Berichte. Die Frage ist nicht, ob Hunger verhindert werden könnte. Die Frage ist, ob wir es wollen.

Die Anklage

Die Geschichte wird nicht auf die Protokolle internationaler Konferenzen schauen, nicht auf die Gipfelerklärungen oder die diplomatischen Spitzfindigkeiten. Sie wird auf die Gesichter der Kinder blicken, die heute verhungern. Und sie wird fragen: Warum habt ihr das zugelassen?