Tagesflucht nach Österreich
Ein Stadtbild-Trip nach Wien in einem verspäteten Zug der Deutschen Bahn macht mal wieder deutlich: Deutschland ist dysfunktional, wahnsinnig und zum Weglaufen.
Der Autor dieses Artikels wollte sich ein Bild machen. Ein Stadtbild sozusagen. Und so trieb es ihn nach Wien. Wie geht der kleine Nachbar mit den Verwerfungen der modernen Zeit um? Hat auch er mit starken Veränderungen im Stadtbild zu kämpfen, von denen Aktivisten aus NGOs und Presse in Deutschland behaupten, dergleichen habe es in deutschen Städten so nicht gegeben? Sie übersehen dabei allerlei: marode Bausubstanz, darbenden Nahverkehr, nach Pfandflaschen suchende Rentner, mehr Bettel auch in Wohnbezirken, herumlungernde Gruppen migrantischer junger Männer und überall Verwahrlosung und Müll. Im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts hat sich das Stadtbild durchaus verändert — als der amtierende Bundeskanzler das neulich kurz anriss, erntete er viel Wut. Aber nicht etwa, weil er selbst, seine Partei und die seit Jahrzehnten von der politischen Klasse favorisierten Ökonomen, Experten und sein ehemaliger Brotgeber BlackRock dafür eine eklatante Mitverantwortung tragen — nein, weil er etwas ansprach, das im Grunde alle sehen, alle spüren, was aber nach allgemeiner Vorstellung in einer bestimmten Funktionskaste des Staates nicht aufs Tapet kommen sollte.
Vom Staat subventionierte Aktivisten und von staatlichen Zwangsbeiträgen finanzierte Journalisten taten sich schnell zusammen, um Friedrich Merz scharf zu kritisieren. Er klinge wie einer aus der AfD — oder schlimmer noch: wie Goebbels. Mit dieser mit Mitteln der Ratio nicht erschließbaren Debatte um das deutsche Stadtbild im Gepäck, begab ich mich auf Reisen ins Österreichische.
Wien, Wien, nur du allein …
Der ICE meiner Wahl kam um eine Stunde verspätet an den Frankfurter Hauptbahnhof — die Bahn entschuldigte sich gewohnt blutleer, man habe den Zug noch nicht bereitgestellt, hieß es lapidar. Alle, die wir am Bahnsteig warteten, hatten wohl zu spontan gebucht und damit die Bahn auf dem falschen Fuß erwischt. Mit reichlich Verspätung in Wien angekommen spukte mir das Stadtbildgetöse immer noch im Kopf herum. Was ging eigentlich vor in diesem Land, dessen Grenzen ich etwa drei Stunden zuvor passiert hatte? Führen andere Völker auch solch groteske Debatten? Oder sind nur die Deutschen so saublöd? Man muss ja die Ansicht von Merz nicht teilen, von mir aus kann man sagen, er übertreibe — was sicher nicht objektiv ist, aber Meinungsfreiheit heißt auch, dass man Selbsttäuschung als Meinung präsentieren darf —, aber ihn gleich als Nachfolger der Nationalsozialisten einzuordnen: Schämt man sich denn gar nicht, so zu übertreiben? Und ist das nicht auch eine Relativierung des Nationalsozialismus?
Ich entschloss mich am Folgetag die Stadt Wien mit dem hiesigen Nahverkehr zu erschließen. Nicht nur dort, wo Touristen zuweilen zu finden sind, sondern auch ein wenig die Außenbezirke zu karriolen, um ein wenig Stadtbild zu inhalieren. Vorausgesetzt, der Nahverkehr funktioniert — das tat er so gut, dass es dem deutschen Pendler fast die Luft abschneidet. Er war mehr oder weniger pünktlich, Verspätungen erfolgten um ein, zwei Minuten.
Wien strotzt bekanntermaßen durch erhabene Architektur — außerhalb des Stadtkerns sieht es anders aus. Dort findet man Mietskasernen, die es auch in deutschen Städten geben könnte. Und ja, nicht jeder Stadtteil sieht wie aus dem Ei gepellt aus. Manche Bereiche wirken weniger einladend als der 8. Bezirk. Aber auch diese Orte, das fiel schnell auf, wirkten nicht völlig verwahrlost.
Der Müll lag auch nicht einfach nur herum — und Herumlungern auf öffentlichen Plätzen: Fehlanzeige! Was man außerhalb der Stadtmitte nicht antraf: Bettelei. Im Stadtkern ist sie aber freilich Thema — wenn auch überschaubar.
Gruppen migrantischer junger Leute, die ich beispielsweise in Frankfurt in vielen Bereichen immer wieder antreffe — und die immer wieder auch durch laute Artikulation bis hin zu Aggression auffallen —, konnte ich so nicht feststellen. Handy- und Dönerläden gab es, wenn auch nicht an jeder Ecke. Kurz gesagt, das Stadtbild Wiens unterscheidet sich eklatant von denen Berlins, Kölns oder Frankfurts. Natürlich könnte man einwenden, dass das nur eine subjektive Betrachtung ist — stimmt natürlich. Ich kenne weder Zahlen noch Statistiken, den Vorwurf muss ich mir gefallen lassen. Aber muss man andererseits, um ein Stadtbild zu erfassen, mathematisch werden? Es ist ja eine Beschau, ein visueller Check.
Am Abend traf ich mich mit jemandem, den man getrost als regierungsnah, als Insider bezeichnen könnte. Er kennt die Abläufe in der österreichischen Politik sehr genau. Wir sprachen über allerlei Politisches — und ich wollte wissen, ob man in Österreich diese Debatte wegen Merzens Stadtbild-Äußerung mitbekommen habe. Tatsächlich sei das der Fall, sagte er mir, schaute mich dabei aber ratlos an.
In Österreich laufe auch nicht alles vorbildlich, wenn es um Migration und Integration gehe, fuhr er fort. Er nannte Wiener Bezirke, in denen es schlimmer sei. Ob ich dort war, vermochte ich in dem Moment nicht einzuschätzen. Aber alles in allem, so schloss er, scheint es schon so, dass man in Österreichs Städten bemühter war, der Bevölkerung allzu große Brüche zu ersparen — ob er das für Deutschland so sah, thematisierte er nicht weiter.
Ich glaubte jedoch, dass er das so meinte. Im Hinterkopf hatte ich in dem Moment, dass ich in Kürze wieder zurück muss in jenes Land, in dem der Wahnsinn mit dem Chaos um die allgemeine Aufmerksamkeit rangelte.
Die Bahn als Sinnbild des kranken deutschen Mannes
Am Morgen darauf wollte ich nochmal den Prater sehen, dort wo Holly Martins auf Harry Lime traf, also die Schauspieler Joseph Cotten auf Orson Welles in Carol Reeds »Der dritte Mann« — ich begebe mich deswegen in die Tiefen des Wiener U-Bahn-Verkehrs. Auf der Rolltreppe hinab fallen mir Plakate auf — nun ja, digitale Werbeflächen, aber es so zu schreiben, mir graust vor so wenig Analogem in dieser Welt —, Werbung für Deutschland. Man soll in deutsche Städte kommen, darauf Fachwerkhäuser unter einem aufhübschenden Farbfilter. Ich lache laut auf, die Frau vor mir schaut belustigt zu mir herauf. Ich frage mich: Ist das ein Witz? Eine Truman-Show und ich bin der Hauptdarsteller? Will mich der Regisseur der Roberto-Show wieder für die Rückkehr begeistern? Anspruch und Wirklichkeit: Auf diesem Plakat, auf dieser Digitalwerbung klafft beides so weit auseinander, dass es mir in dem Moment den Atem verschlägt. Das präsentierte Stadtbild, nun ja: die, die dann erwartungsvoll nach Deutschland kommen werden, dürften ziemlich enttäuscht werden. Mir erzählte mal ein Japaner, dass viele seiner Landsleute regelrecht traumatisiert seien, wenn sie nach ihrem Deutschland-Trip nach Hause zurückkämen: In Japan mache man den Urlaubswilligen den Mund wässrig, Deutschland sei ein märchenhaftes Land — und dann bekämen sie vor Ort Stadtbilder zu sehen, die blankes Entsetzen hervorrufen.
Dann war es so weit: Rückreise in das Land, aus dem wir alle gut und gerne flüchteten. Alles war pünktlich am sehr sauberen Wiener Hauptbahnhof. Der deutsche ICE fuhr punktgenau ab, die Zwischenhalte in anderen österreichischen Städten wurden ebenfalls nach Fahrplan erreicht. Dergleichen erlebt man innerhalb Deutschlands nicht.
Als ich vor einigen Monaten aus Belgien zurück nach Deutschland wollte, gestattete sich der ICE auf belgischem Boden eine derartige Pünktlichkeit, die einen ins Staunen brachte. Kaum auf deutschem Staatsgebiet jedoch, noch vor Aachen, dann der totale Stillstand: Personen im Gleisbett — der Klassiker. Fast eine Stunde kostete diese Pause, die sich dann, bis an meinen Zielort, zu einer fürstlichen Verspätung potenzierte.
Nicht anders, kaum dass wir Österreichs Grenzen hinter uns ließen. Zwischenhalt Passau: Plötzlich ging nichts mehr. Nach einer Weile eine Durchsage: Die Türen der letzten drei Waggons gingen nicht mehr zu. Man müsse den ganzen Zug abschalten und neu starten. Das würde dauern. Tat es dann auch: Eine Stunde lang verbrachten die Fahrgäste so in Passau. Danach klappte die Technik wieder — man hätte uns vermutlich an jenem niederbayerischen Bahnhof vor die nicht schließenden Türen gesetzt, falls man es nicht geregelt bekommen hätte.
Mir ist klar, dass diese Geschichten von einer Deutschen Bahn, deren Dienstleistung völlig im Eimer ist, kaum noch der Rede wert sind. Zu oft liest man dergleichen, die Verspätungen sind nicht mal mehr legendär, sondern nur die triste Normalität. Die Statistiken zeigen deutlich, dass immer weniger Züge pünktlich ankommen. Wenn Sie in einem Zug sitzen wollen, der keine Verspätung hat, sollten Sie sich in einen jener Züge schleichen, die ausfallen — denn die werden in der Verspätungsstatistik gar nicht erst erfasst. Jeder ausfallende Zug rettet der DB also die Statistik. Mein Bericht vom Zugfahren will auch auf was gänzlich anderes hinaus: Deutschland ist ein völlig dysfunktionales Land — man merkt das sofort, nachdem man das Land betreten hat. Und der nationale Bahnbetrieb ist das ausgewiesene Sinnbild für dieses Land, in dem alles vollkommen aus dem Ruder läuft: Die Wirtschaft ebenso wie die Debatten, das Alltagsleben nicht viel anders als das Stadtbild. Man spürt das sehr deutlich, wenn man sich einige Tage aus dem Land herauszieht und dessen Diskussionen und Fehlfunktionen nicht ertragen muss.
Ein Land aus dem wir gut und gerne abhauen
Jeden Tag versuchen Aktivisten und Journalisten, Politiker und Wirtschaftslegionäre, den Menschen im Lande einzuhämmern: Deutschland ist ein Zuwanderungsland — und Migration beschenkt uns alle. Wenn das Außenamt — wie neulich berichtet — türkische Gastarbeiter zu den Konstrukteuren des Wirtschaftswunders erklärt, dann könnte man das als freundliche Geste bewerten, denn natürlich waren es auch die Hände fleißiger Türken, die hierzulande Wohlstand geschaffen haben. Historisch richtig ist das jedoch nicht: Die Gastarbeiter kamen nach Deutschland, nachdem die Wirtschaft wieder in der Spur war — in ein zerrüttetes, ein zerklüftetes Land hätten sie nicht kommen müssen, denn oftmals kamen sie selbst aus Landstrichen, die nicht anders aussahen. Die Aussicht, in einer intakten Industrie einen Arbeitsplatz zu ergattern, förderte die Bereitschaft, Heimat und Familie hinter sich zu lassen. Worauf das Außenamt aber eigentlich mit dieser Geschichtsklitterung hinauswollte: Es wollte den Bürgern narrativ klarmachen, dass Deutschland seither ein Zuwanderungsland ist — und dass diese Zuwanderung allen nur Vorteile verschaffte.
Die Wahrheit ist aber vielleicht etwas anders gelagert: Deutschland ist kein Zuwanderungsland, es ist ein Abwanderungsland: 268.167 Deutsche haben ihr Land 2023 verlassen. Ab dem Jahr 2016 sprangen die Zahlen für deutsche Auswanderer nach oben. Im Jahr 2001 verließen noch 109.507 Menschen mit deutschem Pass ihre Heimat. Was Menschen aus Deutschland heraustreibt, lässt sich dieser Tage auch in einem Buch nachlesen, dessen Herausgeber Ullrich Mies ist. Bezeichnender Titel: »Deutschland — Auswandern aus einem kranken Land«. Darin enthalten sind die Geschichten von 18 Menschen, die Deutschland den Rücken gekehrt haben — kaum einer verließ Deutschland wegen des vermeintlich schlechten Wetters, wie es immer wieder in sogenannten Reality-Dokumentationen wie »Goodbye Deutschland!« verbreitet wird.
Vielen Menschen graut es einfach nur noch von der Dysfunktionalität von Land und Leuten in Deutschland. Sie suchen das Weite, weil sie für dieses Land im Herzen Europas kaum noch Hoffnung erkennen können. Der Wahnsinn scheint strukturell zu sein, die Infrastruktur bröckelt nach und nach, Deutschland lebt von der Substanz und ist ideologisch so aufgeladen, dass es konstruktive Debatten gar nicht mehr geben kann, die vielleicht dazu angetan wären, dem Land neue, dringend benötigte Impulse zu verleihen.
Die Sehnsucht nach der Ferne trieb die Deutschen freilich immer an — Urlaub statt Arbeit: Wer wollte das nicht? Aber frappierend sind die Berichte derer, die nun aus dem Urlaub zurück in die Heimat kommen: Erstaunlich oft vernimmt man, dass im Ausland öffentliche Plätze sauberer seien, man fühle sich sicherer und ja, sogar in Italien, das lange für Schlendrian und bella figura statt Funktionstüchtigkeit stand, hat nun einen Bahnbetrieb vorzuweisen, der Deutsche vor Neid erblassen lässt.
268.167 Deutsche, die 2023 ihr Land verlassen haben: Viel ist das freilich nicht. Das sind lediglich 0,4 Prozent aller Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Gleichwohl kann sich die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland mittlerweile vorstellen, auszuwandern. Die Gründe, die die Befragten einer YouGov-Umfrage angaben, sind durchaus mannigfaltig — weisen aber in dieselbe Richtung: Sie spüren, dass in ihrem Land etwas in die falsche Richtung läuft. Das Stadtbild einerseits — aber auch der Umstand, dass man über dieses Stadtbild noch nicht mal mehr sprechen darf, ohne sofort in die Nachkommenschaft des Nationalsozialismus eingeordnet zu werden. Die belgische Polizei warnte während der Europameisterschaft 2024 die belgischen Schlachtenbummler vor dem Zombieland, dem Frankfurter Bahnhofsviertel, in dem ich dann arg verspätet ankam: Dort darbte wie gewohnt das Elend, überall Erbrochenes, Uringeruch, jemand hat dort drüben sein Drogenbesteck vergessen — Bettelbanden positionierten sich mal wieder und lugten nach wehrlosen Opfern. So viel Stadtbild konnte ich nicht aushalten: Ich schloss also die Augen und stellte mir vor, ich sei in Wien oder Brügge oder sonst wo — und ja, durchaus, wenn man nicht hinsieht, kann man es hier schon halbwegs aushalten. Augen zu und durch.