Was auf Deutschland im Moment auf keinen Fall zutrifft: Ein Wirtschaftswunder. Die Ökonomie darbt, die Energiepreise setzen nicht nur den Bürgern zu, sondern erschweren den Unternehmen die Auftragslage — gerade auch den mittelständischen Betrieben. Über 120.000 Insolvenzen gab es im letzten Jahr in Deutschland. Insolvenzen — oder Betriebsurlaub, wie der letzte Wirtschaftsminister, durch und durch kein Schwachkopf, so wird gemunkelt, einst im politischen Talk kundtat. Die Arbeitslosenquote steigt leicht an, was aber freilich auch — in Anlehnung an jenen Minister — an der Urlaubsfreudigkeit der Transferleistungsbezieher liegen könnte.
Kurz und gut: Wirtschaftswunder ist gerade nicht. Vielleicht ist das ja der Grund, warum zuletzt davon so rege gesprochen wurde. Angeschoben durch einen Tweet des Auswärtigen Amtes. So postete jedenfalls der X-Praktikant des Außenamtes:
„Es waren Menschen aus der Türkei, die das Wirtschaftswunder möglich gemacht & Deutschland mit aufgebaut haben. Heute ist die #Türkei ein wichtiger strategischer Partner, sowohl innerhalb der NATO als auch der G20.“
Für diese Zeilen erntete das Ministerium einen Shitstorm. Denn was in dem Tweet behauptet wird, trifft so einfach nicht zu. Wer das nun richtigstellen will — ganz genau, Sie ahnen es schon! —, der muss mal wieder mit rechten Kräften im Bunde stehen. Denn wer die Lebensleistung von Gastarbeitern nicht unhinterfragt abnickt und wer ihnen die Wertschätzung versagt, auch wenn diese Lebensleistung nicht in dem Umfang geleistet wurde, wie nun behauptet wird, der ist wirklich nicht mehr zu ertragen in diesem Land der gefühlt Guten und Aufrichtigen.
Wann war das Wirtschaftswunder eigentlich?
Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen in diesem Text meine persönliche Geschichte aufdränge. Denn wenn es um Gastarbeiter geht, denen man nicht genug Anerkennung zollt, dürfte es für Menschen, die noch halbwegs bei Fragmenten ihres Verstandes sind, schwierig werden, mir etwas vorzuwerfen. Warum? Weil ich Sohn eines spanischen Gastarbeiters bin. Mein Vater kam 1962 nach Deutschland. Er landete in Ingolstadt, verdingte sich bei Audi — später auch bei anderen Unternehmen, denn er blieb im Lande, die meisten seiner Landsleute trieb es zurück in die Heimat. Was ein Gastarbeiterleben bedeutet, kann ich recht gut einschätzen. Ich lebte schließlich mit einem unter einem Dach. Ob das nun so ein schlimmes Schicksal war, weiß ich nicht — oder doch: Es gibt sicher schlimmere Lebenserfahrungen.
So ganz kam er nie an in Deutschland — und nebenher verlor er noch seine Heimat. Jedes Jahr fuhren wir nach Nordspanien, in die Stadt, in der er geboren wurde. Er blühte dort aber nicht auf, sondern wunderte sich stark, wie fremd ihm nun auch der Ort seiner Herkunft wurde. Das Spanien, das er seinerzeit verlassen hatte, gab es schlicht nicht mehr. Alle die ihm wichtig waren, lebten ihr Leben weiter — und wenn er zurückkam, war er plötzlich der Außenseiter, der sein Umfeld für das Ausland verlassen hatte.
Keine Anerkennung für Gastarbeiter erübrigen: Dieser Vorwurf klappt bei mir schon mal nicht. Mein Vater bezog in den Jahren, in denen er in Deutschland lebte — bis zu seinem Tode im Jahr 1999 — niemals Sozialleistungen. Er arbeitete im Grunde den gesamten Tag: Nicht, weil er das Wirtschaftswunder voranbringen musste, das eh längst vorüber war, sondern weil er uns — seinen Söhnen — ein besseres Leben ermöglichen wollte. Morgens oder nachmittags ging er zur Schicht in den Betrieb und nachmittags oder morgens setzte er in Heimarbeit zusammen mit meiner Mutter Lichtschalter zusammen. Denen, die kritisch auf den Tweet des Außenamtes reagierten, nun Rassismus oder Chauvinismus zu unterstellen, ist also gelinde gesagt eine generalisierende Frechheit. Man muss die Lebensleistung der türkischen Gastarbeiter in Deutschland wahrlich nicht schmälern, um dennoch festhalten zu können: Das Außenministerium vermischt hier Dinge kontrafaktisch und ahistorisch.
Das Wirtschaftswunder ist für jeden Menschen, der in Deutschland aufwuchs, ein Begriff. Es ist ein Mythos — das daniederliegende Land rappelte sich auf und wuchs zu einer Wirtschaftsmacht heran. Die Deutschen, die die entbehrungsreichen Jahre des Krieges und der Nachkriegszeit erlebt hatten, konnten sich einen solchen Aufschwung nicht mal im Traum ausmalen. Wann aber dieses Wirtschaftswunder stattfand, ist nicht klar umrissen.
1948 schon, als die Währungsreform über Nacht ein neues Angebot in die Schaufenster der Geschäfte „zauberte“? Oder doch erst etwas später mit Anfang der Fünfzigerjahre, als die jährlichen Wachstumszahlen zweistellig wurden? Und wann endete es letztlich? Erst 1973, als der Ölpreisschock die Nachfrage abwürgte und Arbeitslosigkeit wieder zu einem Problem machte? Oder schon Mitte der Sechzigerjahre, als das Wachstum darbte und sogar erstmals ins Minus ging wie im Jahre 1967?
Postkoloniale Mythen
So oder so: Die ersten Wirtschaftswunderjahre kamen ohne Gastarbeiter aus. Erst 1955 kam es zum ersten Anwerbeabkommen — mit Italien. 1960 folgten weitere Länder, darunter Spanien. 1961 gab es ein solches Abkommen mit der Türkei. Die Italiener bildeten die größte Gruppe der Gastarbeiter. Um die 2,6 Millionen überquerten den Brenner, um bei den Tedeschi zu arbeiten. Türkische Gastarbeiter kamen, trotz des frühen Zeitpunktes des Anwerbeabkommens, recht spät nach Deutschland. Dazu schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung (Bpb):
„Die Anwerbung der türkischen Gastarbeiter setzte erst relativ spät — Ende der 1960er-Jahre — mit vollem Tempo ein. Von 1968 bis 1971 verdreifachte sich die Zahl der türkischen Arbeitnehmer (von 152.900 auf 453.100). Anfang 1972 lösten die türkischen Gastarbeiter die Italiener als stärkste Gruppe ab. “
Das heißt wiederum, dass es schon Gastarbeiter aus der Türkei in Deutschland gab, als man noch in den Wirtschaftswunderjahren steckte. Dass es aber ausgewiesen die Türken waren, die das „Wirtschaftswunder möglich gemacht haben“, wie das Außenamt postete, ist maßlos übertrieben und geschichtlich einfach nicht haltbar.
Übrigens nur am Rande: Die eben erwähnte „Bildungszentrale“ schreibt Gastarbeiter stets in Anführungszeichen — diese Striche, die das Wort einrahmen, sind Beleg für den Drang nach politischer Korrektheit. Wobei eines klar auszumachen ist: Diese Korrektheit mag sich politisch dokumentieren, fachlich führt sie häufig zu Inkorrektheiten. Am Beispiel jenes Posts, der dann auch noch verteidigt wird, nachdem einige User bei X die Faktenlage darlegten und die KI des Netzwerkes namens Grok anwarfen, die den Kritikern mehrheitlich recht gab, zeigt sich das recht klar. Laut Grok lag die Ursache des Wirtschaftswunders in der Währungsreform, die türkischen Gastarbeiter kamen erst, als die Wirtschaft längst im Wachstumsmodus lief. Gastarbeiter in Anführungszeichen zu setzen: Auch das ist eine Form, die der historischen Betrachtung nicht guttut, denn letztlich wurden diese Leute — wurde mein Vater — unter diesem Label angeheuert. Den Begriff im Nachhinein mit Strichen zu entschärfen: Darf man jemandem, der das tut, eine Kompetenz zutrauen, die sich mit historischen Ereignissen wertfrei befasst? Was wiederum in die Frage mündet: Soll Geschichtswissenschaft moralisch aufgeladen sein?
Diese Anführungszeichen reihen sich ein in eine Latte von Interpretationen von Geschichte, die heute die Öffentlichkeit erstürmen wollen — und teils schon erstürmt haben. Der ehemalige SPD-Bildungs- und spätere Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern Mathias Brodkorb, hat dazu ein stichhaltiges wie lesenswertes Buch geschrieben. Name: „Postkoloniale Mythen. Auf den Spuren eines modischen Narrativs. Eine Reise nach Hamburg und Berlin, Leipzig, Wien und Venedig“. Beredt kündet der Autor von den Vorkommnissen in vornehmlich deutschsprachigen Volkskundemuseen und wie dort die postkoloniale Geschichtswissenschaft — die im Kern keine Wissenschaft, sondern Haltung ist — um sich greift. Sie tut das inklusive Ablasshandel, bei dem die deutschen Besucher eines solchen Museums Münzen gegen ihr schlechtes Gewissen springen lassen können, womit man dann die Rückgabe von Artefakten in afrikanische Ursprungsländer finanzieren möchte. Ein Rundgang durchs Volkskundemuseum unserer Zeit offenbart eine Geschichte, in der der Kolonialismus immer mit derselben Geschichte dargebracht wird: Afrika war ein intakter Kontinent, bis die Weißen kamen und die Sklaverei einführten. Aber weder waren es die Europäer alleine, die den Zugriff auf Afrika innehatten — die Araber waren schon vorher da — noch erfanden sie die Sklaverei dort. Im Gegenteil, argumentiert Brodkorb, die Sklaverei schafften die Europäer letztlich ab — natürlich waren sie vorher aber auch in diesen Handel involviert. Das bedeutet in letzter Instanz nämlich nicht, dass der Kolonialismus ein faires System war. Aber wenn man ihn schon historisch einordnen will — und Museen haben einen solchen Auftrag ja durchaus —, dann sollte dies faktenbasiert geschehen.
Gefühle statt Fakten
Längst sind auch die Geschichtswissenschaften zu einem gefühligen Feld verkommen, auf dem man nur mit Haltung bestehen kann. Wenn die Fakten gegen das Bauchgefühl verstoßen, wenn man sich davor fürchtet, dass unliebsame Realitäten Menschen kränken und verletzen könnten, dann entscheidet man sich dazu, den Verlauf der Geschichte zu glätten oder umzudeuten.
Es mag ja nett gemeint sein, wenn das Außenministerium den türkischen Menschen in Deutschland Wertschätzendes mitteilen möchte. Aber es ist weder die Aufgabe dieses Ministeriums noch ist es ein Gebot von Seriosität, die Wirklichkeit von einst so zu kneten, dass am Ende etwas herauskommt, was so nicht geschehen ist.
Dennoch fanden sich unzählige Verteidiger dieser ministeriellen Fehldeutung. Politiker, Medienleute und NGO-Propagandisten rührten natürlich mit und versuchten, alle, die diese Deutung der Dinge beanstandeten, in die rechte Ecke zu manövrieren. Krone der ahistorischen Verteidigerphalanx: Sawsan Chebli, SPD-Politikerin, die gerne ihren Migrationshintergrund zum Argument erklärt und auch nicht davor zurückschreckt, die sogenannte „weiße Mehrheitsgesellschaft“ zu verhöhnen, zu beschimpfen und für per se rassistisch zu erklären. Sie postete ein Bild von Berlin 1945 und schrieb dazu, dass ihre Familie „aus diesen Trümmern eine Metropole gebaut“ habe. Eine Metropole war Berlin jedoch lange vorher. Und ihre Familie kam erst 1970 asylsuchend nach Deutschland. Anders gesagt: Geschichtsklitterung mit Geschichtsklitterung zu kontern, das mag mancher als mutig betrachten — ahnungslos ist es aber allemal. Darin schwingt die ganze Haltung mit, denn eines sollen die Deutschen verstehen: Ohne die Gastarbeiter und Asylsuchenden hätten sie es in ihrem Land nie wieder zu was gebracht — da steckt immer auch Critical Race Theory mit, die besagt: Das System ist weiß und ausbeuterisch und missbraucht Menschen von Farbe. Hier greift Ideologie Raum — eine, die Geschichte einfach zu einer Identitätsfrage umfunktioniert, die jeder subjektiv beantworten kann. Denn Objektivität, auch das mahnen manche Apologeten dieser Critical Race Theory an, sind wie Vernunft und Mathematik weiße Herrschaftsinstrumente, die man überwinden sollte.
Wir leben nun also in einer Gesellschaft, in der es per Sprechakt möglich ist, sein Geschlecht umschreiben zu lassen. Jeder kann alles sein: Mann, Frau oder irgendwas dazwischen oder darüber — Männer setzen sich Hundemasken auf, wedeln mit dem Schwanz und fühlen sich wirklich als Vierbeiner, die ihrem Herrchen treu zu Füßen liegen. Alles machbar, alles ganz normal in diesen Zeiten. Und weil das noch nicht reicht, kann man nun jede Wirklichkeit auflösen, nicht nur die biologische. Warum nicht auch die historische? Man kann sich freilich täuschen, wie das Ministerium — kann etwas falsch wahrnehmen und weitergeben. Aber dass der Irrtum dann noch wie etwas Geheiligtes verteidigt wird, lässt tief blicken in diesem Trieb nach Umdeutung und Neuinterpretation. Denn eines darf offenbar nicht sein: Die Trümmerfrauen waren keine weißen Frauen aus Deutschland, die ersten Arbeitskräfte des Wirtschaftswunders waren keine Deutschen und später weißen Europäer, zumal aus dem Land des Verbündeten, aus Italien: Haltung zeigen heißt hier wohl, eine Quote für Migranten und Gastarbeiter aus anderen Teilen der Erde einzuführen — und wenn das gegen die Realität steht, ist das zwar doof, aber nicht weiter tragisch. Geschichte ist das, was wir fühlen. Wenn das die Wahrheitsliebenden kränkt, haben sie keinen Anspruch auf Rücksichtnahme, wie alle anderen Gruppen, die gekränkt werden: Sie sollen sich dann einfach zusammenreißen.
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