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Das Fehlurteil

Das Fehlurteil

Der Marokkaner Mounir el Motassadeq wurde Opfer der Justiz.

Mounir el Motassadeq, 44 Jahre alt, Ehemann und Vater von drei Kindern wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht wegen vermeintlicher Beihilfe zu einem vielfachen Mord zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er soll, laut Anklage, seinen Freunden, darunter Mohammed Atta, Marwan Alshehhi und Ziad Jarrah, bei der Ausführung der Anschläge des 11. September 2001 geholfen haben. Zur Zeit seiner Verhaftung war el Motassadeq Elektronikstudent in Hamburg.

Statt die eher komplizierte Verfahrensgeschichte seines Falles detailliert darzustellen, werde ich mich daher auf das Urteil des OLG Hamburg aus dem Jahr 2005 konzentrieren, das sinngemäß dem Urteil des Jahres 2007 entspricht.

Mounir el Motassadeq wurde wegen zwei Straftatbeständen angeklagt und später verurteilt: zum einen wegen Beihilfe zu vielfachem Mord in Verbindung mit 9/11 und zum anderen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung um Mohammed Atta. Ich werde mich in erster Linie mit dem ersten Anklagepunkt, Beihilfe zu vielfachem Mord, befassen.

Zunächst möchte ich zwei Hauptziele eines Strafverfahrens erläutern. Diese fasste N. Gerd Wenner in seiner Schrift „Die Aufklärungspflicht § 244 Abs. 2 [der Strafprozessordnung] StPO“ zusammen:

„Ziel jeglichen Urteils ist Wahrheit und Gerechtigkeit. [...] Voraussetzung für ein gerechtes Urteil ist die richtige Feststellung des Sachverhaltes; jede auf einem falschen Sachverhalt fußende Schlussfolgerung muss zwangsläufig zu einem fehlerhaften Ergebnis führen.
§ 244 Abs. 2 StPO gebietet die Erforschung der Wahrheit. Die Vorschrift schreibt nicht eine bestimmte Handlung vor, sondern legt ein Ziel fest. Solange man noch nicht dort angelangt ist, gebietet die Vorschrift weitere darauf hingerichtete Tätigkeit.
Insbesondere aus § 160 Abs. 2 StPO folgt die Pflicht [auch] des Staatsanwaltes zur Erforschung der Wahrheit. Er ist demnach verpflichtet, alle belastenden und entlastenden Umstände zu ermitteln. Diese Pflicht trifft die Staatsanwaltschaft auch für die Hauptverhandlung. Sie hat damit die gleiche objektive Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit wie das Gericht.“

Beihilfe zu einer Straftat ist ein eigenständiger Straftatbestand, §27 StGB. Zum Straftatbestand „Beihilfe“ erklärte der Bundesgerichtshof, BGH, in seinem Urteil vom 16. November 2006:

„Nach § 27 Abs. 1 StGB macht sich als Gehilfe strafbar, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe leistet. Nach ständiger Rechtsprechung [...] ist als Hilfeleistung in diesem Sinne grundsätzlich jede Handlung anzusehen, die die Herbeiführung des Taterfolges durch den Haupttäter objektiv fördert oder erleichtert.“

Wie aus dem Straftatbestand „Beihilfe“ zu entnehmen ist, muss ein Gericht drei Elemente des Straftatbestands nachweisen, um die Beihilfe zu einer Straftat nachzuweisen: Erstens dass der Angeklagte zum Begehen einer rechtswidrigen Tat irgendeine Hilfe geleistet hat; zweitens dass durch die Beihilfe die Herbeiführung des Taterfolges durch den Haupttäter objektiv gefördert oder erleichtert wurde und drittens dass die Beihilfe mit dem Vorsatz geleistet wurde, die Straftat zu fördern oder zu erleichtern. Nur wenn diese drei Elemente nachgewiesen sind, ist der Straftatbestand der Beihilfe erfüllt.

Als ich 2003 über das Verfahren gegen Mounir el Motassadeq und über die haarsträubenden Äußerungen des Richters Albrecht Mentz las, wurde mir übel.

Vor der Urteilsverkündung soll der Richter gesagt haben, Mounir hätte die „wesentlichen Einzelheiten der [9/11] Verschwörung [seiner Freunde] gekannt und gebilligt. Damit nahm Mounir el Motassadeq den Tod von Tausenden Menschen in Kauf.“

Bei der Beurteilung des Falls berücksichtigten Richter Mentz und seine Kollegen nicht das oben unter zweitens aufgeführte Element des Straftatbestands „Beihilfe”, das heißt, es fehlt der Nachweis, dass die Freunde des Angeklagten die Haupttäter der Anschläge des 11. September 2001 waren. Waren Mounir el Motassadeqs Freunde, Mohammed El Amir, genannt Atta, Marwan Alshehhi und Ziad Jarrah, an dieser Haupttat überhaupt beteiligt?

Keineswegs. Zumindest gab es und gibt es dafür nicht die geringsten Beweise. Ihre Namen stehen auf keiner beglaubigten Passagierliste. Niemand hat sie in den Flughäfen gesehen. Weder wurden ihre Leichen noch Leichenteile an den Absturzstellen der mutmaßlich gekaperten Flugzeuge gefunden noch identifiziert. Wann und wo sie ermordet wurden, bleibt ein Staatsgeheimnis der USA.

Das Desinteresse des Gerichts – der Staatsanwaltschaft, des Richters und der Verteidigung – an der Aufklärung der Haupttat offenbarte sich im schriftlichen Urteil: Von den 368 Seiten werden der Haupttat gerade einmal vier Seiten gewidmet. Und diese liefern nicht die geringsten Beweise, dass Mounirs Freunde an den Anschlägen beteiligt waren.

Da die Beweislage gegen el Motassadeq so dünn war, versuchte Richter Mentz ihm eine antisemitische Gesinnung anzudichten. Das war zwar für einen Schuldbefund der Beihilfe belanglos, aber erfolgreich bei der Verschleierung der gerichtlichen Unterlassungen.

Die antisemitische Unterstellung war wie ein „gefundenes Fressen“ für die deutschen und US-amerikanischen Medien.

Weil das Gericht es unterließ, eine konkrete Beziehung zwischen dem Gehilfen und den Haupttätern des 9/11 nachzuwiesen, ist diese Unterlassung eine Rechtsbeugung. Die Strafverteidiger des Angeklagten, darunter Gerhard Strate, Ladislav Anisic und Udo Jakob, haben auf diese Verletzung des Strafrechts nicht hingewiesen und verrieten damit ihren Mandanten. Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsbeugung seinerseits stillschweigend gebilligt.

Hier ging es aber um viel mehr als um die Freiheitsberaubung eines Unschuldigen und die Bestrafung seiner Familie, sondern auch um eine Verhöhnung der Opfer des Massenmordes vom 11. September. Sie haben ein Anrecht auf Wahrheit und Gerechtigkeit, dazu zählt auch die Bestrafung der wahren Täter.

Durch ihr Urteil haben die Juristen in Hamburg zu den völkerrechtswidrigen Einsätzen der Bundeswehr beigetragen: Mitglieder des Bundestages verwiesen auf das Urteil des OLG Hamburg, um den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu rechtfertigen. Journalisten bezogen sich auf das Urteil, um el Motassadeq und seine Freunde als Kriminelle zu diffamieren.

Mounir el Motassadeq beteuerte während des gesamten Verfahrens seine Unschuld. Er bestritt, von irgendwelchen kriminellen Plänen seiner Freunde gewusst oder etwas geahnt zu haben. Kein Wunder, denn seine Freunde hatten nichts mit 9/11 zu tun.

Der Bundesgerichtshof lehnte im Jahre 2014 el Motassadeqs Antrag auf vorzeitige Haftentlassung mit einer Begründung ab, die stutzig macht:

„Die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung kann derzeit unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden [...] Angesichts der außergewöhnlichen Schwere des in seinen Dimensionen in der neueren Geschichte einmaligen Terroraktes, in dessen Vorbereitung der Verurteilte sich hat verstricken lassen, lässt das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit derzeit eine bedingte Haftentlassung des Verurteilten daher nicht zu.“

Die Richter des BGH – Jörg Peter Becker, Jürgen Schäfer und Margret Spaniol – haben mit diesem Urteil den Ruf ihres Amtes und ihre richterliche Pflicht schwer verletzt.

Das letzte Kapitel dieser unseligen Geschichte erschien im August 2018 in den weltweiten Medien. Deutsche, französische, britische, amerikanische und marokkanische Medien meldeten die Absicht der deutschen Behörden, el Motassadeq ab dem 15. Oktober insgeheim nach Marokko abzuschieben und ihm bis zum 90. Lebensjahr die Einreise nach Deutschland zu verbieten. Das lässt befürchten, wie schon im Fall Haydar Zammar realisiert, dass die Abschiebung nach Marokko dazu dienen soll, el Motassadeq aus Marokko nach Amerika zu verschleppen, um ihn dort endgültig zu beseitigen.

Wieder greifen Journalisten wie wilde Tiere den unschuldigen, friedlichen und wehrlosen el Motassadeq an und deutsche Juristen schweigen trotz der offensichtlichen Rechtsbeugung ihrer Hamburger Kollegen. Die deutsche Regierung bleibt el Motassadeq und seiner Familie Etliches schuldig: seine Rehabilitation, eine finanzielle Entschädigung, eine offizielle Entschuldigung und die strafrechtliche Verfolgung derjenigen, die an der vielfältigen Rechtsbeugung beteiligt waren.


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