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Abriss statt Fassadenreparatur

Abriss statt Fassadenreparatur

Wenn die Jugend eine Zukunft will, muss sie das vergiftete Weltbild unserer Zivilisation niederreißen und sich ein neues erschaffen.

Im Internet, auf dem Buchmarkt und in den Massenmedien werden im Angesicht wachsender Verunsicherung der Öffentlichkeit viele bizarre Phänomene sichtbar. Neben allerlei Verflachungen und bis zur Debilität reichenden Albernheiten gehört dazu eine starke Polarisierung rund um eine drastische Frage: Jene nämlich, ob sich das System der Zivilisation auf dem großartigen Weg in eine goldene Zukunft befindet oder ob es kurz vor einer nicht mehr zu verhindernden, selbstverursachten Apokalypse steht. Auf der intellektuellen Ebene werden diese zwei gegensätzlichen Lager überwiegend von Leuten fortgeschrittenen Alters mit starkem Sendungsbewusstsein angeführt, welche um die Aufmerksamkeit der verunsicherten Massen buhlen. Dabei sind sie beide nur noch sich gegenseitig antreibende Kräfte einer fatalen Spirale aus Naivität und Handlungsunfähigkeit.

Zu den exponiertesten Vertretern der Optimisten und jeden Tag tausendfach zitiert, gehören der 64-jährige Harvard-Professor Steven Pinker und der 2017 im Alter von 68 Jahren verstorbene Professor für internationale Gesundheit Hans Rosling. Ihre im Jahr 2018 erschienenen Weltbestseller „Neue Aufklärung“ und „Factfulness“ werden von vielen einflussreichen Prominenten wie etwa Bill Gates gepriesen.

Unter Darlegung zahlreicher Quellen und Statistiken erklären die beiden Autoren, dass sich die Situation der Menschheit trotz enormer Vergrößerung der Population besonders in den letzten Jahrzehnten stetig verbessert habe. In der Gegenwart sei daher alles so gut wie nie zuvor: Der materielle Wohlstand einschließlich der Verfügbarkeit von Nahrung breche alle Rekorde, die Kindersterblichkeit sei ebenso auf einem historischen Tiefstand wie die Zahl der Toten durch Hunger, Infektionskrankheiten und Kriege.

Bildung und Demokratisierung erreichten jedes Jahr neue Höchstwerte, die Menschen würden älter und gesünder, während ein stetig wachsender Anteil der Weltbevölkerung Zugang zu den Segnungen von immer vielfältiger werdenden modernen Technologien habe. Und die Zivilisation werde es schaffen, alle künftig aufkommenden Probleme zu lösen, vor allem durch neue Technologien sowie Fortschritte in Wissenschaft und Forschung.

Der Blick in die Werke von Pinker und Rosling macht allerdings eine frappierende Naivität sichtbar. So nehmen die beiden Autoren die sich weit abseits jeglicher regulärer ökologischer Prozesse bewegenden Geschwindigkeiten und Dynamiken der gefeierten Entwicklung offenbar nicht wahr, wodurch auch ihre Zukunftsprognosen zur windigen Spekulation verkommen. Vor allem aber bezieht sich fast alles, was in ihren Thesen vorkommt, auf Verbesserungen, die ausschließlich dem Menschen zugute kommen.

Währenddessen hat sich — ebenfalls innerhalb nur weniger Jahrzehnte — auf der anderen, von den beiden Professoren weitestgehend ausgeblendeten Seite der Medaille, also dort, wo es nicht um die Menschen selbst geht, sondern um die anderen Lebensformen und die gesamte nichtmenschliche Natur des Planeten, ein Zerstörungsprozess vollzogen, der schon jetzt ohne Übertreibung als rasend schnell beschleunigende Katastrophe definiert werden kann. Er besteht aus vielen verschiedenen, ineinander verflochtenen Komponenten, die allesamt teure Preise der rasanten Erhöhungen des materiellen Lebensstandards der Menschen sind.

Die mit großem Abstand bekannteste, tatsächlich aber nur eine unter den vielen Komponenten der Katastrophe, liegt in den vom Menschen durch Gasemissionen sowie durch Eingriffe in die irdische Vegetationsdecke ausgelösten Veränderungen des globalen Klimas. Viele Experten sehen bereits den Beginn einer Spirale der Selbstverstärkung, vor allem weil die bisherige Aufheizung die nördlichen Permafrostböden zum Schmelzen gebracht habe und dadurch sehr große Mengen CO2 und Methan freigesetzt würden (1).

Ebenfalls mit rasanter Beschleunigung vollzieht sich die Vernichtung der artenreichsten Naturflächen in den gemäßigten und tropischen Zonen. So wurde zum Beispiel innerhalb von 30 Jahren weit mehr als die Hälfte des über Millionen Jahre gewachsenen Urwaldes auf der 1.700 Kilometer langen Insel Sumatra vernichtet, und die Zerstörung der Reste schreitet zügig voran (2). Derweil erreichen auch die Abholzungen im Amazonasbecken, dem größten zusammenhängenden Regenwaldgebiet der Erde, stetig neue Rekorde (3).

Weitere direkte Folgen des eskalierten Konsumwohlstandes sind stark zunehmende Kontaminationen der Erdoberfläche einschließlich der Gewässer etwa mit Pestiziden (4, 5), Mikroplastik (6), Salzen (7) und Medikamenten (8) sowie massive Reduzierungen des Oberflächen- und Grundwassers (9, 10). In der Gesamtheit sind nach einer Veröffentlichung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2018 über 75 Prozent der globalen Landfläche geschädigt, und bis 2050 könne die Degradation auf 90 Prozent der Böden ansteigen (11).

Und dann gibt es als kausale Folge all dessen eine drastische Dezimierung freilebender Tiere und Pflanzen, deren Dimensionen allerdings mangels Datenmaterials gar nicht überschaut werden können. Die 2019 erschienene und erste weithin anerkannte empirische Erhebung zur Entwicklung der globalen Biomasse der Insekten kam auf einen gegenwärtigen jährlichen Schwund von 2,5 Prozent — womit sich der größte und im ökologischen Gefüge wichtigste Teil des Tierreiches bereits in einer echten Kollapssituation befinden würde (12).

Neben den hier aufgezählten, noch recht bekannten Komponenten der Katastrophe gibt es viele weitere, darunter solche, die in der breiteren Öffentlichkeit kaum oder gar nicht wahrgenommen werden. Dazu gehören die Zerstörungen der tieferen Strukturen des globalen ökologischen Gefüges durch die Landwirtschaft — einschließlich eines absehbaren Zusammenbruches der zivilisatorischen Nahrungsgrundlage. Weil sich mit der Nahrungsmittelproduktion große Geldmengen generieren lassen, führte ein Geflecht aus Konzernen weite Teile des Sektors in die Intensivlandwirtschaft. Und was dort seit wenigen Jahrzehnten geschieht, könnte man mit dem zügigen Ausquetschen einer Zitronenhälfte vergleichen.

Die Parameter bestehen etwa in der drastischen genetischen Erosion praktisch aller wichtigen „Nutzpflanzen“ (13, 14) und der steigenden Abhängigkeit sämtlicher hochgezüchteter „Nutzorganismen“ von Pestiziden und Medikamenten, was sich unter anderem an deren globalen Absatzmengen erkennen lässt (15).

Für den Zeitraum einiger Jahrzehnte sorgte dieses Ausquetschen tatsächlich für einen enormen Anstieg der global generierten Nahrungsmenge. Mittlerweile werden allerdings — trotz zunehmender Intensivierung — Abflachungen der Produktionsmengen beobachtet. Nach den Statistiken des Internationalen Getreiderates IGCS wird 2019 das fünfte Jahr in Folge sein, in dem die globale Gesamternte der Getreide stagniert (16). Den von Pinker und Rosling ins Feld geführten Rückgang des Hungers gibt es schon jetzt nicht mehr — in den letzten vier Jahren sind die globalen Hungerwerte wieder angestiegen, wobei auch klimatische Verwerfungen, Bodendegradation und andere Komponenten zusammenspielen (17).

Und während die ausgequetschten „Nutzorganismen“ ihre genetische Vielfältigkeit und Stabilität verlieren, drängen auch noch ihre uralten parasitären Gegner mit immer neuen Extremformen in die so ganz neu entstandenen Nischen hinein. Dabei entwickeln sie immer schneller Resistenzen sowohl gegen die verbliebenen Widerstandskräfte der „Nutzorganismen“ als auch gegen die zu deren Unterstützung eingesetzten Chemikalien. Die aktuellen Beschreibungen erstrecken sich bei den „Nutzpflanzen“ etwa von ungewöhnlich starken Rostpilzen (18) über ebensolche Bodenpilze und bei „Nutztieren“ von den Influenzaviren über zahlreiche multiresistente Bakterien, die ihre neuen Eigenschaften über Artgrenzen hinweg austauschen.

Diese Zeitrafferevolution der Parasiten, welche bisher fast nur in Fachkreisen thematisiert wird (19), könnte sich sehr bald als das meistunterschätzte Thema überhaupt erweisen — mit Folgen, die jene des Klimawandels weit überholen.

Die Feststellung der laufenden ökologischen Katastrophe hat nichts mit Pessimismus zu tun. Ein solcher würde so aussehen, wie es im Internet das Lager der tatsächlichen Pessimisten massenhaft an den Tag legt: nämlich zu propagieren, dass es keine Chance mehr gebe, den finalen Kollaps abzuwenden.

Eine Situation also, die sich mit einer solchen gleichsetzen ließe, bei der man plötzlich einen bisher übersehenen, riesigen Kometen entdeckt, welcher genau auf die Erde zuschießt und schon in Kürze das hiesige Ökosystem mitsamt allen Menschen vernichten wird, ohne dass irgendeine noch so kleine Chance besteht, dies zu verhindern.

In einem solchen Szenario wäre die Feststellung der Unabwendbarkeit der finalen Apokalypse kein Pessimismus. Der Komet wird einschlagen und alles zerstören, die Chance, dies abzuwenden, liegt bei Null. In der tatsächlichen Situation hingegen geht es aber nicht um einen riesigen Kometen. Sondern es geht um die kausalen Folgen unserer eigenen Entscheidungen und Handlungen. Und trotz der enormen Dynamik und des weit fortgeschrittenen Stadiums des Geschehens lässt sich solide darlegen, dass es sogar jetzt noch Chancen zur Verhinderung der finalen Apokalypse geben muss.

Der Grund ist einfach: Die Bahn des Kometen könnte tatsächlich überhaupt nicht mehr beeinflusst und verändert werden. Der Geist der Menschen hingegen ist unzweifelhaft in der Lage, eine graduelle Änderung seiner Handlungen und somit quasi der Bahn des „künstlichen Kometen“ herbeizuführen. Und weil rein theoretisch sogar alle Menschen die Entscheidung zu solch weitreichenden Verzichten etwa in Bezug auf Konsum und Fortpflanzung treffen könnten, dass der Einschlag nicht oder zumindest stark verzögert und abgeschwächt stattfindet, muss es eben auch die entsprechenden theoretischen Chancen geben.

Nun ist es in der Gegenwart so, dass die Nachfrage in sämtlichen Bereichen des schädlichen Massenkonsums immer schneller ansteigt, während die Gesamtpopulation weiter anwächst. Der Großteil der Menschheit strebt mit zunehmender Kraft nach jenem Luxus oder zumindest jenem materiellen Standard, der seit Jahrzehnten besonders von den „hochentwickelten“ Ländern Europas und den USA als sonnenartiges Ziel der menschlichen Existenz vorgegeben wurde. Und dort, bei den materiell wohlhabendsten Beispielgebern des zivilisatorischen Lebensstils, fallen jedes Jahr weitere Grenzen des Konsums. Während die letzten intellektuellen Ressourcen im naiven Tanz der Optimisten und Pessimisten sinnlos umherwirbeln, platzen die riesigen Supermärkte aus allen Nähten, Flüge, Schuhe, Fleisch und Pflanzenöl werden spottbillig, die Flachbildfernseher immer größer, man braucht jedes Jahr ein neues Smartphone und so weiter und so fort.

Es lässt sich also zusammenfassen, dass es einerseits die letzten Chancen im physischen Sinne zwar tatsächlich geben muss, dass sich die Menschheit aber andererseits mit sehr hoher Geschwindigkeit von der möglichen Ergreifung derselben weg und sogar immer weiter beschleunigend in die entgegensetzte Richtung bewegt.

Somit kann gefolgert werden, dass, falls es jetzt noch praktisch umsetzbare Chancen auf eine Wende gibt, diese in den Köpfen der Menschen liegen müssen und dass sie jetzt nur noch im Sinne einer sehr radikalen geistigen Notbremsung bestehen können. Außerdem lässt sich die wahrscheinlichste Position des wirksamsten Bremshebels ausmachen: Dort nämlich, wo der kausale Kern der Katastrophe liegt, also in Europa und den USA.

Dies ist in keiner Weise so gemeint, dass in diesen Ländern die größten geistigen Ressourcen lägen oder die Menschen in den anderen Regionen unfähiger seien. Sondern die Prägungen des aus Europa und den USA erfolgten gewaltsamen und ökonomischen Kolonialismus halten bis zum heutigen Tag die meisten anderen Regionen des Planeten fest im Griff. Das betrifft etwa den Bildungssektor. Die Schulen und Hochschulen aller Kontinente haben sich faktisch der Dominanz des nach der alles zermahlenden Geldmühle ausgerichteten westlichen Wissens unterworfen. Das alte traditionelle und oft sehr viel größere und tiefere Wissen anderer Kulturen über die Zusammenhänge der Natur hingegen ist dabei meist stark erodiert oder gar ausgelöscht worden. Und ähnlich ist es auch mit den weiteren physischen und psychischen Wirkungen des modernen Kolonialismus der letzten Jahrzehnte.

Die pflanzliche Intensivlandwirtschaft, die industrielle Massentierhaltung, die überbordenden Ernährungsgewohnheiten, die Abwendung der jungen Menschen vom naturnahen, materiell bescheidenen Landleben und das Streben hinein in den chaotischen Konsumrausch — all das hat seine Ursprünge in den USA und Europa. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass aktuell etwa in China viele Kopien dieser Prozesse größere Dimensionen annehmen als in den Ursprungsländern.

Aber wie sollte denn so eine radikale geistige Notbremsung funktionieren? Die Anstrengung des kollektiven Geistes hin zur Hervorbringung revolutionärer technischer Antworten kann es nicht sein. Zwar gibt es Projekte, die nützlich sind, um einzelnen Komponenten der Katastrophe entgegenzuwirken. Aber das kann nur symptomatische Wirkungen in Teilbereichen betreffen, die im Gesamtprozess von den anderen Komponenten überrollt würden wie von einer riesigen Tsunamiwelle. Dies würde zum Beispiel sogar für revolutionäre Erfindungen zur Erlangung sauberer Energie gelten. Und vor allem war und ist der Technikglaube ja sogar ein Hauptteil des destruktiven Gesamtprozesses.

Eine echte geistige Notbremsung kann nur auf einem einzigen, ganz anderen Weg funktionieren: Zunächst müsste das gesamte alte Weltbild der zivilisatorischen Menschheit abgerissen werden, so wie man es mit einem von Giften durchseuchten, alten Fabrikgebäude tut.

Und unmittelbar danach müsste auf dem gesäuberten Grundstück ein ganz neues, diesmal aber mit der Realität übereinstimmendes Weltbild aufgebaut werden. Die zur Umsetzung notwendwendigen Schritte sind so drastisch und weitreichend, dass die meisten der heutigen — fest in den Schienen des alten Weltbildes fahrenden — Entscheidungsträger etwa in den Massenmedien und der Politik damit weit überfordert wären.

Aus kognitiven, ja sogar neurologischen Gründen können nur ganz junge Menschen zu einer solchen radikalen geistigen Zäsur in der Lage sein. Deswegen sowie aufgrund eines in ihnen noch besonders stark brennenden Überlebenswillens liegen die letzten Chancen der Menschheit und auch der anderen Lebensformen in einer neuen Jugendbewegung, die alles in den Schatten stellen müsste, was es bisher an geistigen Revolutionen gab.

Zur Verdeutlichung der Notwenigkeit des Abreißens des alten, vergifteten Weltbildes schaut man sich am besten mal dessen Eckpunkte an. Diese wurden während den vergangenen Jahrhunderten auf noch älteren zivilisatorischen Fundamenten errichtet und dann hauptsächlich in Europa und den USA ausgebaut. Die verschiedenen Teile lassen sich durch den immer gleichen gemeinsamen Nenner identifizieren: Es geht stets um eine abgrundtiefe, schwerkranke Arroganz des zivilisierten Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen und der gesamten Natur — also der realen Welt. Diese psychopathische Arroganz äußert sich in einer weitläufigen Struktur aus bizarren Verdrehungen der Realität, um sich selbst als etwas über allen anderen Dingen Stehendes darzustellen.

Er, der zivilisierte Mensch, ist also ganz großartig, ja sogar von einem genau zurechtgebogenen Gott auserwählt, die gesamte dingliche Welt zu unterwerfen und zu beherrschen. Nur er hat ein „Ich-Bewusstsein“, „freien Willen“ und „Vernunft“, und nur er kann wirklich frei sein. Er ist edel und ethisch weit über allen anderen Lebewesen stehend, was ja auch als „human“ bezeichnet wird. Das andere „Getier“ ist nur für ihn geschaffen und besteht aus einer Versammlung von bewusstlosen, instinktgetriebenen Kreaturen, die in der „grausamen Natur“ im bloßen „Fressen und Gefressenwerden“ ums nackte Überleben kämpfen.

Diese extreme Arroganz und Erniedrigung allen nichtmenschlichen Lebens ist das eigentliche Gift und der Kernmechanismus einer sehr schweren psychischen Erkrankung, die sich bis heute krebsartig in den gesamten kollektiven Geist der Menschheit ausgewachsen hat und von dort aus jede physische Überlebensfähigkeit abwürgt.

Die oben aufgezählten, eskalierenden Komponenten der laufenden Katastrophe hingegen, egal ob etwa Klimawandel, Bodendegradation oder Artensterben, sind nur Symptome des Endstadiums dieser Krankheit. Das ist vergleichbar mit einem ebenso schwer kranken Individuum, das nur noch um sich selbst drehend die realistische Wahrnehmung seiner Situation und damit seine Überlebensfähigkeit vollständig verloren hat. Es kann sich nicht mehr selbst ernähren, betreibt keine Körperpflege, zerstört sich blindlings mit allen greifbaren Stoffen zur Stimulanz seines neuronalen Belohnungssystems, achtet nicht mehr auf die Gefahren seiner Umgebung und geht schließlich an einer multikausalen Kombination dieser Komponenten zugrunde.

Um nun das alte, vergiftete Weltbild komplett abzureißen und durch ein realistisches Bild zu ersetzen, müsste sich die neue Jugendbewegung so tiefgehend wie möglich mit Feldern des Wissens ausstatten, die ihr in den Schulen nicht gelehrt wird, obwohl das Material im Fundus der Naturwissenschaften abrufbereit liegt.

Sie bestehen in Erkenntnissen etwa der Paläontologie, der biologischen Ökologie, der Evolutionsbiologie, den Kognitionswissenschaften sowie aus Dokumentationen zu dem alten Wissen der früheren jagenden und sammelnden Kulturen, die im Zuge des europäischen Kolonialismus mit Waffengewalt ausgelöscht wurden. In den ungenutzten Teilen des potenziellen Wissens, welche vielfach größer sind als die mickrigen Lerninhalte der gegenwärtigen Schulen und Hochschulen, liegt alles bereit, was es zum Neuaufbau eines wirklich stabilen und gesunden Weltbildes braucht — einschließlich einer natürlichen Ethik, die sämtliche zivilisatorischen Religionen, Philosophien und Ideologien sinnlos werden lässt.

Ein ganz zentraler und auf der psychischen Ebene sehr wichtiger Bereich des Abrissprozesses läge in dem Entlarven der Falschheit angeblicher kognitiver Exklusivitäten des Menschen, die rund um solche Begriffe wie „Vernunft“ und „Ich-Bewusstsein“ konstruiert wurden. In dem oft über viele Jahrtausende gesammelten Wissen der von der Zivilisation vernichteten Jäger- und Sammlerkulturen gab es so etwas nicht. Sondern dort kristallisierte sich über die Kontinente hinweg stets die grundsätzliche Gleichheit des eigenen Geistes zu jenem der anderen Tiere heraus. Und man achtete sehr genau darauf, dass gerade die jungen Menschen ob ihrer oberflächlichen menschlichen Stärken nicht in den gefährlichen Trugschluss der eigenen Erhabenheit geraten. Solche Arroganz führt in der realen Natur zügig zum Tod.

Reflektiert man nun die Konstrukte der Zivilisation gegen den aktuellen Stand der Neurowissenschaften, so fallen sie tatsächlich in sich zusammen wie angestochene Luftballons — während sich das Bild der Jäger und Sammler als korrekt erweist. Es ist empirisch vielfach und stabil rekonstruiert worden, dass alle Wirbeltiere seit fast einer halben Milliarde Jahre die grundsätzlich gleichen Endhirne, Zwischenhirne, Mittelhirne, Hinterhirne und Nachhirne besaßen wie wir heutigen Menschen, womit die bekannten organischen Grundlagen dessen umfasst sind, was allgemein als Bewusstsein gilt (20). Und die Gleichheit betrifft besonders weitreichend auch das mesolimbische Belohnungssystem (21), welches die Glücksgefühle hervorbringt.

Die meisten Spezies besaßen und besitzen überdies wesentlich feinere Sinne und viel höhere Anteile jener Gehirnregionen, die für die bewusste Wahrnehmung und Verarbeitung der Sinnesreize zuständig sind. Der Mensch verfügt zwar über eine relativ hohe Ausprägung des Abstraktionsvermögens, welches auf der organischen Ebene — mit der relativ stark ausgeprägten Hirnrinde — wie eine größere Festplatte verantwortlich ist für unsere Schriften und Technologien. Ansonsten aber weist alles auf eine im Vergleich zu vielen anderen Tierarten nur relativ schwache Bewusstseinsintensität und somit geringes Erlebnisbewusstsein hin.

Mit dem Abriss der künstlichen Konstruktionen rund um die vermeintlichen kognitiven Exklusivitäten käme die neue Jugendbewegung nun schon mal in die Position zur Anerkennung der Gleichheit der anderen Tiere. Und als nächstes käme ein sehr harter Brocken, der sich in der Mitte des arroganten Weltbildes befindet und sogleich weite Teile der Kernursache bildet: Nämlich die Tatsache, dass die gesamte Landwirtschaft und somit das Fundament der Zivilisation auf einer grundsätzlichen Widernatürlichkeit beruht.

Schon Charles Darwin hatte sehr klar und deutlich dargelegt, dass es so etwas wie die Zucht im Sinne der Lenkung der Evolution zum vorrangigen Nutzen des Manipulators in der Natur nicht geben kann. Da diese zentralen Teile seiner Aussagen zu unbequem waren, wurden sie genauso aus dem Kanon des zivilisatorischen Bildungssystems ausgeklammert, wie man es mit dem sehr vielfältigen Wissen der Jäger und Sammler und auch jenem früherer Agrarkulturen tat. Dieses Wissen drehte sich im Grunde um eine ganze Struktur aus Naturgesetzen, die von der Zivilisation ignoriert und somit nicht in die Lehrpläne aufgenommen wurden. Erst wenn man es will, findet man ihre Mechanismen auch in Erkenntnissen der ökologischen Wissenschaften zu Symbiose und Parasitismus. Das Wissen ist also auch jetzt noch nachholbar.

Mit dem Abriss der ausgedachten kognitiven Exklusivitäten des zivilisierten Menschen, dem Erkennen der bisher unbeachteten Gesetzmäßigkeiten der belebten Natur und dem offenen Anerkennen der eigenen Widernatürlichkeit fallen sogleich auch die wirren Konstrukte der „grausamen Natur“ in sich zusammen. Und dann kommt die Realität zum Vorschein: Die Erde war seit jeher ein Ort der freien Entfaltung, des großen Abenteuers und des bewussten Genusses all dessen. Die Zivilisation hingegen war von Beginn an auf der Grundlage der lebenslangen Versklavung anderer Tiere und Pflanzen aufgebaut. Um diese quasi zutiefst unehrenhafte Tatsache ausblenden oder kompensieren zu können, wurden all die psychopathischen Ideen der eigenen Großartigkeit und Gutheit hervorgebracht und zu einem immer wirreren und giftigeren Weltbild zusammengebastelt.

Junge Menschen, die diese Zusammenhänge nach einer echten Aufklärung begriffen haben, die also nun wissen, dass der Planet Erde seit Hunderten Millionen Jahren ein Ort der freien Entfaltung von Lebewesen war, die genauso ein Bewusstsein hatten, wie sie selbst eines haben, und die sich entsprechend ihren evolutionären Merkmalen frei entfalteten, müssen nicht mehr über den Sinn des Lebens sinnieren. Ihr neues Weltbild ist nicht nur um Dimensionen größer als jenes ihrer Eltern, in welchem neben arrogantem Scheinwissen aus Religion und Philosophie nur noch die Mathematik eine wichtige Rolle spielte. Sondern es ist auch stabil und unerschütterlich positiv.

Die neue Leitlinie wird in einer tiefen Bescheidenheit liegen, weil die innerste Bestrebung darin besteht, die nun erkennbare, großartige und schöne Natur als eigene Existenzgrundlage so gering wie irgend möglich zu stören und sich an ihre Gesetzmäßigkeiten anzupassen.

Alle der oben aufgezählten Komponenten der Katastrophe werden sich durch diese gesunde Haltung genauso zügig zurückbilden und schließlich austrocknen wie die Symptome des einst schwer erkrankten Individuums, wenn es durch Entfernung der Kernursache der Psychose seine Lebensfähigkeit zurückerhält.

Wie rasant dieser Heilungsprozess verlaufen könnte, lässt sich am Beispiel der sofort als oberste Priorität erkennbaren Abschaffung der extremen Perversion der industriellen Massentierhaltung erkennen. Diese hat nicht nur den Geist der Menschen zerstört, sondern auch die physische Katastrophe maßgeblich angeheizt. Ein Drittel der globalen Ackerflächen werden zur Produktion von Futtermitteln für die Intensivtierhaltung verwendet und oft mit besonders hohen Dosen an Pestiziden und Dünger kontaminiert (22).

Auch die aktuellen Abbrennungen im Amazonasbecken geschehen zum größten Teil durch Spekulation auf einen erwarteten Anstieg des Bedarfes an solchen Futtermitteln. Insgesamt lassen sich mindestens 15 Prozent der klimaschädlichen Emissionen auf industrielle Massentierhaltung zurückführen (23). Mit diesem Beispiel schließt sich also der Kreis zwischen der echten geistigen Aufklärung und der aus ihr entwachsenden physischen Überlebensfähigkeit.

Jetzt ist allerdings doch noch eine Frage offengeblieben: Wie soll denn so etwas überhaupt praktisch, also konkret möglich sein, dass plötzlich die Jugend innert kürzester Zeit eine geistige Revolution und eine ganz neue Aufklärung entfacht, welche das alte, von tödlicher Arroganz vergiftete Weltbild abreißt? Sollen sie vielleicht zu Terroristen werden, Bomben legen, das System mit Gewalt zerstören?

Der beste und wirklich realistische Ansatz liegt woanders. Sucht man ihn quasi mittels eines systematischen Ausschlussverfahrens, dann kristallisiert er sich genau dort heraus, wo man auch landet, wenn man die Wurzeln der Begriffe verfolgt.

Das vergiftete Weltbild wurde ja in der Zivilisationsgeschichte systematisch „gebildet“, und so etwas braucht ein „Bildungssystem“. In diesem wurden über Jahrhunderte die toxischen Einzelteile in die Köpfe der Kinder gepresst, während man sie vom Begreifen der wichtigen Teile der Realität abhielt. Man ließ sie also stundenlang das dümmliche Geschwätz über den erfundenen Gott pauken und das sinnlose Geschwurbel der hochverehrten Philosophen auswendig lernen. Und um sie zu willfährigen Sklaven der alles zermahlenden Geldmühle zu dressieren, lenkte man die übrig gebliebenen Reste ihrer geistigen Ressourcen möglichst tief in die für das eigentliche Überleben nutzlose Mathematik hinein.

Der Hebel zum Überleben versteckt sich also im Bildungssystem. Das ist aber nicht so gemeint, dass man da jetzt mal darüber diskutieren sollte, wie man dieses System verbessern könnte. Sondern die letzte Chance liegt in einem radikalen Boykott und im Aufbau einer Alternative innerhalb kürzester Zeit. Das, was gerade in der momentan noch sehr braven und thematisch stark beschränkten „Fridays for Future“- Bewegung bereits leicht aufblitzt, müsste sich so ausweiten, dass mindestens ein kleiner zweistelliger Prozentteil der Schüler und Studierenden für zunächst ein Jahr jeglichen Unterricht verweigert. Ab dieser Größenordnung wäre es den politischen Handlangern der Geldmühle nicht mehr möglich, die Bewegung mit Repressalien zu unterdrücken — auch wenn sie es sicher mit aller Kraft versuchen würden.

Und in dieser Zeit müsste ein alternatives Bildungsprogramm aufgebaut werden, das sich genau auf die Vermittlung und Umsetzung der vom vergifteten Bildungssystem verweigerten Anteile der Realität konzentriert. Die Lehr- und Projektfächer lägen dann also in dem Abriss des alten Weltbildes, der Entlarvung der vermeintlichen kognitiven Exklusivitäten, der Anerkennung der Gleichheit der anderen Tiere und ihre praktische Befreiung aus der perversen Versklavung, der Nachholung des verlorenen Wissens über die Naturgesetze, dem Brechen der Macht der Konzerne, der radikalen Extensivierung der Landwirtschaft, dem Erlernen der Bescheidenheit und schließlich dem Wiederentdecken der Schönheit und Großartigkeit der Natur.

An Inhalten würde es dem alternativen Bildungssystem also ganz sicher nicht mangeln. Wenn es mitten in Europa losbricht, dann wäre seine Außenwirkung so enorm, dass es sicher bald die Nachrichten in den globalen Massenmedien beherrscht — und zwar samt seinen Inhalten. Und solange diese Bewegung nicht — was die größte innere Gefahr wäre — von irgendwelchen Ideologien gekapert würde, sondern sich strikt an die Realität hielte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich schon innerhalb des ersten Jahres ein rasant anwachsender geistiger Schneeball entwickelt, der um den ganzen Planeten rollt. Da sich die meisten der jetzigen Eliten in Politik und Massenmedien ohnehin wie willenlose Fähnchen im Wind verhalten, werden sie bald merken, dass ihre bisherige devote Unterwerfung unter die Befehle der Geldmühle nachteilig wird. Dann werden sie sich schnell anpassen und sogar zügig zu Hilfskräften der neuen Aufklärung mutieren.

Dieser gesamte Prozess des Sturzes des alten und Aufbaues des neuen Bildungssystems wäre zunächst illegal und für die Pioniere mit einigen Risiken verbunden. Es bräuchte dazu auch nicht nur die streikenden Schüler und Studierenden als eigentliche treibende Kräfte in der Mitte des Schneeballes, sondern auch die treue sowie ebenfalls risikobereite Unterstützung durch dazu gewillte Professoren, Lehrer, Naturwissenschaftler und weiterer erwachsener Menschen. Aber wenn ein solches Projekt gelänge, dann könnte die Verhinderung der finalen Apokalypse — trotz des sehr weit fortgeschrittenen Stadiums der Krankheit — wahrscheinlich sogar jetzt tatsächlich noch möglich sein.



Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.sueddeutsche.de/wissen/kanada-permafrost-klimawandel-co2-1.4489525
(2) https://www.reuters.com/article/us-palmoil-indonesia-deforestation/palm-oil-from-indonesias-shrinking-forests-taints-global-brands-report-idUSKBN1K827N
(3) https://www.nytimes.com/2019/07/28/world/americas/brazil-deforestation-amazon-bolsonaro.html
(4) https://www.scinexx.de/news/geowissen/pestizid-cocktail-in-europas-boeden/
(5) https://www.scinexx.de/news/biowissen/verbotene-pestizide-europas-fluessen/
(6) https://pubs.acs.org/doi/10.1021/acs.est.9b02900
(7) https://www.scinexx.de/news/geowissen/versalzung-schluckt-2-000-hektar-land-pro-tag/
(8) https://e360.yale.edu/digest/concentrations-of-pharmaceuticals-in-freshwater-increasingly-globally
(9) https://www.tagesspiegel.de/politik/wasserknappheit-warum-die-wassernot-im-nahen-osten-zu-konflikten-fuehrt/23097300.html
(10) https://www.tagesspiegel.de/wissen/unterirdische-wasserknappheit-von-grund-auf-ausgetrocknet/24474644.html
(11) http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-4202_de.htm
(12) https://www.theguardian.com/environment/2019/feb/10/plummeting-insect-numbers-threaten-collapse-of-nature
(13) https://www.bfn.de/themen/landwirtschaft/agrarbiodiversitaet.html
(14) http://www.umweltinstitut.org/archiv/archiv-landwirtschaft/fachinformationen/biologische-vielfalt-in-der-landwirtschaft/die-sechste-ausloeschung.html
(15) https://de.statista.com/infografik/5108/weltweiter-umsatz-mit-pflanzenschutzmittel/
(16) https://www.igc.int/en/default.aspx
(17) https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/schneller-schlau/infografik-schneller-schlau-der-hunger-kehrt-zurueck-16016230.html
(18) https://www.zeit.de/2017/30/schwarzrost-pilz-weizen-berberitze-ug99
(19) https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/zukunft-der-pestizide-immer-schnellere-chemie-resistenzen-mindern-die-ernten-14708404.html
(20) https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/evolution-der-nervensysteme-und-gehirne/3758
(21) The vertebrate mesolimbic reward system and social behavior network: a comparative synthesis. O'Connell LA1, Hofmann HA, Institute for Cellular and Molecular Biology, University of Texas at Austin, USA. PMID: 21800319 DOI: 10.1002/cne.22735
(22) https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/fleisch-und-futtermittel.html
(23) https://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/tierprodukte-befeuern-globale-erwaermung


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