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Apokalypsen des Kapitals

Apokalypsen des Kapitals

Die Zombifizierung des Kinos erweist sich als illustrativ-visionäre Vorausdeutung des Marktradikalismus.

Zur Zombifizierung des neoliberalen Subjekts

Die Faszinationskraft der biblischen Apokalypse ist ungebrochen. Erinnern wir uns: Johannes von Patmos, der jüdische Prophet und Anhänger Jesu von Nazareth, empfängt an einem Sonntag in ekstatischer Trance plötzlich eine Stimme, die ihm zuredet. Das Ende der Zeit sei nah. Johannes glaubt in der für ihn göttlichen Stimme den toten und wiederauferstandenen, also zombifizierten Jesus zu erkennen – indes nicht in menschlicher, sondern in furchteinflößender Gestalt. Gott, so die Stimme, werde einen Kampf gegen die finsteren Mächte des Bösen führen, ein großer kosmischer Krieg stünde bevor, der das gesamte Universum zerstören werde, „letzlich aber werde Gott siegen, die Bösen in den Pfuhl des ewigen Feuers hinunterstoßen und die Gerechten in sein Reich führen.“

Es folgen rauschhaft überbordende Visionen – ein geschlachtetes Lamm neben dem Thron Gottes, vier Schwerter schwingende apokalyptische Reiter zu Posaunenklängen stürmen heran, künden von Hungersnöten, Pest, Massenmord unter Menschen. Vier Engel treten hinzu, dann schwenkt die Szene zum himmlischen Thron zurück, von wo ein Stern herunterfällt, „um Riesenheuschrecken mit menschlichen Gesichtern und wehendem Frauenhaar ans Licht treten zu lassen: eine Armee von Monstern und Führung Abbadons, des Engels des Abgrunds.“ Es folgen eine hochschwangere Frau, ein siebenköpfiger roter Riesendrache, der darauf lauert, den Fötus der Frau, sobald geboren, zu fressen. Im Himmel bricht Krieg aus. Erzengel Michael und sein Gefolge bekämpfen siegreich den Drachen und dessen Engel, der „zornentbrannte Drache wirft sich daraufhin auf die Frau und alle ihre Kinder, die auf der Erde geblieben waren.“

Der kosmische Krieg verschärft sich, sieben Engel im Himmel gießen jeweils eine goldene Schale mit Gottes Zorn auf die Erde. Babylon fällt, die Bewohner verfluchen Gott im Todeskampf. „Auf dem Höhepunkt der Schlacht erscheint Jesus als göttlicher Krieger auf einem weißen Pferd und führt die Heerscharen der Engel aus dem Himmel heraus in den Kampf.“ Satan wird in den Abgrund gestoßen, der Drache in Ketten gelegt, danach richtet Jesus die Welt: Die Menschen, die gottestreu waren bis in den Tod, werden zum Leben erweckt und regieren die Erde tausend Jahre – und alle, die andere Götter verehrt, Mord oder verbotene sexuelle Handlungen begingen, „werden für alle Ewigkeit in den feurigen Pfuhl geworfen. Die Getreuen Gottes dagegen dürfen ein neues Jerusalem betreten, das vom Himmel herabsteigt und in dem Christus und sein Volk tausend Jahre lang triumphal herrschen.“

Ohne hier theologisch zu sehr ins Detail zu gehen, lässt sich resümieren, dass sich in diesen grausigen Visionen eine radikalisierte Antwort auf die brutale Herrschaft des römische Reiches zu erkennen gibt – man denke nur an die Christenverfolgungen im Jahr 64, die Zerschlagung einer Revolte in Judäa durch das römische Militär zwei Jahre später oder die Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels im Jahr 70: Über eine Million Juden wurden hierbei getötet, tausende gekreuzigt, verbrannt oder von Hunden zerfleischt. Es ist durchaus möglich, dass Johannes Augenzeuge dieser Vernichtung war, als Albtraum im kollektiven Gedächtnis seiner Zeit dürfte sie jedenfalls tief verankert gewesen sein.

Diese Schreckensvision und radikale Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Ausgestoßene im Angesicht einer traumatisierenden Kriegserfahrung wird vor dem historischen Hintergrund über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart hinein lesbar und wirksam als insgeheimes Gravitationszentrum westlicher Kultur. Mit der Entstehung des Kapitalismus im 16. Jahrhundert übernimmt hierbei schrittweise der Markt als Oikodizee die Vollstreckerfunktion des göttlichen Willens. „Die Verbindung“, so Fabian Scheidler, „von Apokalyptik und Kapitalismus ist heute von geradezu unheimlicher Aktualität.“

Die krisenverschärfende Reichtumskonzentration unserer Zeit ist nicht nur das Ergebnis einer unherhörten Machtakkumulation, sondern vor allem der in den 1970er Jahren beginnenden, seither sukzessiv gesteigerten fiskalischen Umverteilung von unten nach oben – also von den Arbeits- zu den Kapitaleinkünften. Es ist in der Tat eine zynische Pointe der apokalyptisch-kapitalistischen Geschichte, dass die Endzeitvision „totaler Macht über die Schöpfung usprünglich einem Impuls der Revolte gegen die Macht entsprang.“

Die ewiggleiche Rede von der Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen hat seinen Ursprung demnach in genau dieser apokalyptischen Offenbarungsperspektive der Zukunft als futurum perfectum – als richtende Zerstörung. Das Ende der Offenbarung unserer Zeit entwirft die Zukunft als enthüllende, entblößende und im Sinne der Kapital-Eliten gestaltbare, also kontigente Größe. In dieser Hinsicht wird auch klar:

Je realer die Apokalypse am Horizont unserer absehbaren Zukunft aufscheint, desto stärker müssen wir ihr misstrauen, denn im Kern zielt das Bild der Zukunft als Katastrophe stets darauf, kritisches Denken zu beenden und ein phobokratisches Regime struktureller Macht- und Kapital-Überakkumulation – also der Umverteilung von den Prekarisierten zu den Vermögenden – irreversibel gegen Widerstände zu immunisieren.

Der neoliberale Marktradikalismus der Gegenwart riskiert weltweit durch diese perverse Spaltung der Volkswirtschaften nicht weniger als endogene Desintegrationen finalen Zuschnitts – eine Formulierung, die sich, beunruhigend genug, schlicht als Bürgerkrieg übersetzen lässt. Es ist vor diesem Hintergrund bezeichnend, dass sich Politik und Medien bei Ausbruch der schweren Weltwirtschaftskrise seit 2008 zur Verschleierung der wahren Krisenursachen stets apokalyptisch gefärbten Jargons zu bedienen wussten – als seien ihre Phantasien den cineastischen Blockbustern der 1970er Jahre enstprungen:

Zur Omnipräsenz solcher angstinduzierenden, im medialen Dauerfeuer verbreiteten Begriffe wie Katastrophe, Apokalypse, Untergang, montierte man Bilder mit starkem Assoziativpotential zu Naturkatastrophen wie Ströme, Strudel, Wellen, Fluten, Erdbeben, schwarze Löcher, stürzende Kometen – und nicht zuletzt kursierte medial ab 2011 der Begriff des Eurogeddon mit wenig subtiler Anspielung auf die Offenbarung des Johannes.

Doch ging die Tendenz zur metaphorischen Verschleierung der wahren Krisenursachen sogar noch weiter: Dich Cheney, ehemaliger US-Vizepräsident, verglich im Januar 2009 den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 mit 9/11. Die Kapital-Eliten setzten im engen Interessenverbund mit herrschender Politik weltweit alles daran, von der strukturellen Überakkumulation abzulenken, die solche Krisen überhaupt erst entstehen lässt.

Die schleichende Revolution

Der Neoliberalismus zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass sich in seinen tieferen Absichten die ideologische Antwort auf die Nachfrage-Restriktion zu erkennen gibt. Dies hat Herbert Schui, Mitbegründer der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, in Anlehnung an den von Marx einst diagnostizierten, tendenziellen Verfall der Profitrate (dem der Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage vorausgeht), präzise beschrieben, denn dieser Verfall trifft den empfindlichsten Nerv des Kapitalismus:

„Wenn die Unternehmen angesichts der nun niedrigeren Profitrate ihre Investitionen einschränken, muss über die Investitionen politisch entschieden werden. Diese Entscheidung kann dann nicht mehr länger den einzelnen, privaten Unternehmen überlassen bleiben. Damit ist die Eigentumsfrage gestellt. Schließlich müssen die Eigentumsverhältnisse so verändert werden, dass die Investitionsentscheidungen und die Wahl des Produktionsstandortes tatsächlich Sache der Politik sind und nicht abhängen von den Renditeerwartungen der privaten Unternehmen. Damit muss sich zwangsläufig der öffentliche Produktionssektor, der Bereich des Politischen allgemein vergrößern. Es versteht sich von selbst, dass Demokratie die beste Staatsform ist, die bestehenden Machtverhältnisse zu verändern. Dies einfach deswegen, weil die Mehrheit der Bevölkerung für Lohn arbeitet, oder, wenn noch jung, für Lohn arbeiten wird, oder Lohnempfänger war und nun eine Altersrente bezieht.“

Und Herbert Schui benennt deutlich die vier Kernpunkte der schleichenden neoliberalen Revolution, die die Kapital-Eliten in konzeptioneller Kontinuität seit den frühen 1970er Jahren verfolgen, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen: (1) demokratische Mehrheitsentscheidungen im Rahmen politischer Institutionen sind sukzessiv zu ersetzen durch marktorientierte Verfahren; (2) Ziele wie Vollbeschäftigung und soziale Gerechtigkeit werden ersetzt durch das Ziel individueller Freiheit an Märkten; (3) alle müssen das materielle Ergebnis der Marktwirtschaft akzeptieren und sich ihm unterordnen – sonst wäre die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung gefährdet; (4) um jeden Zweifel an diesem Marktradikalismus auszuschalten, „ist alles menschliche Verhalten grundsätzlich als das Ergebnis von individuellen Nutzenkalkülen zu erfassen. Dieser Programmpunkt ist wichtig, damit das Politische eliminiert wird und das Gesellschaftliche solange zurechtgestutzt wird, bis es sich einzig auf einem umfassenden Markt äußert.“

Demokratie als institutionell und rechtsstaatlich verankerte, echte Volksherrschaft erweist sich für den Neoliberalismus als blanke Horrorvorstellung – so fürchtete Friedrich August von Hayek stets nichts so sehr wie eine „totalitäre Demokratie“ oder „plebiszitäre Diktatur“. Hinter diesen überdeutlich vernehmbaren demokratiefeindlichen Ressentiments steht die langfristige Absicht, sowohl das Investitionsmonopol als auch den alleinigen Anspruch auf den volkswirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt gegen alle erdenklichen Mitbestimmungsansprüche abzudichten und gemeinwohlorientierte oder wirtschaftsdemokratische Tendenzen hermetisch unter Kontrolle zu halten. Das aber bedeutet im Umkehrschluss für den Widerstand auch: Ohne Demokratisierung des Investitionsmonopols wird der neoliberale Krisenkapitalismus nicht transformierbar sein.

Die Verkehrung von Leben und Tod

Es gehört zum unausweichlichen Schicksal radikaler Avantgarden, dass sie schnell veralten. Auch die Ästhetik des Splatterfilms ist inzwischen im Mainstream der Minderheiten angekommen – man denke exemplarisch nur an Steven Spielbergs Saving Private Ryan (1998) oder Mel Gibsons The Passion Of The Christ (2004).

Gilles Deleuze und Felix Guattari behaupteten in ihrer legendären antikapitalistischen Kampfschrift Anti-Ödipus (1972) sogar, der einzige moderne Mythos zeige sich in Gestalt der Zombies. Doch warum fasziniert uns diese Ekel-Ästhetik der gewaltsamen Öffnung, Verstümmelung und Zerstückelung menschlicher Körper immer wieder neu? Wie kommmen Regisseure auf die Idee, das Körperinnere zur leitenden Ikonographie eines Films zu erheben? Und wie weit darf die mediale Darstellung körperlicher Gewalt gehen, ohne der Zensur zum Opfer zu fallen? Wozu all die ausgestochenen Augen, durchbohrten Köpfe, zersägten Arme und Beine, die Fontänen von Kunstblut, die freigelegten Hirne und Eingeweide?

In Produktionen etwa von George A. Romero, Wes Craven, Tobe Hooper, David Cronenberg und John Carpenter wird die Kamera nicht selten zum voyeuristischen Endoskop: Nur das Innere des menschlichen Körpers scheint – jenseits subtiler Psychologie – von gesteigertem Interesse. Die jüngeren Debatten über den Erfolg des torture porn im Zuge der kommerziell erfolgreichen Reihen Saw und Hostel zeigen zudem die ungebrochene Popularität dieses Genres, das seit den frühen 2000er Jahre eine deutliche Revitalisierung erfährt.

Mit einem weltweiten Einspielergebnis von etwa 100-Millionen-Dollar dürfen Saw (2004) und Hostel (2005) als zwei der größten kinematographischen Franchise-Erfolge der letzten Dekade betrachtet werden. Dabei folgt das Strickmuster dieser kommerzialisierten Folterhöllen einem meist dünnen Handlungsfaden: Der Zuschauer nimmt Teil an einer Spurensuche nach blutrünstigen Killern, deren bestialische Taten in Splatter-Parallel-Montage in allen nur erdenklich unappetitlichen Details kulinarisch inszeniert werden – amputierte Zehen, aufgeschlitzte Bäuche, durchbohrte Gliedmaßen und ausgestochene Augen inklusive.

In seinem erfrischend unverkrampften Essay zum Terrorkino hat der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger eine instruktive Analyse des torture porn vorgelegt – einem weltweiten Kampfbegriff einer meist konservativen Presse, die hiermit ihrem gesteigerten Zensurbedürfnis Ausdruck verleiht. Der selten erklärungskräftige, indes kulturkritisch durchtränkte Generalverdacht: Im Geiste der Habitualiserungsthese gilt diesem Kritikerlager medial inszenierte Gewalt als schleichendes Gift, das den Zuschauer in letzter Konsequenz zur Nachahmung stimuliert.

Deshalb die oft mehr beschworene als reflektierte Parallele zum “Schund” oder “Porno”. Fatal nur: Es gehört zu den tiefen Geheimnissen einer massenmedialen Erregungskultur, dass sich die Jammerathleten und Untergangseuphoriker mit fadenscheiniger Moral gegen die Zumutungen ihres eigenen Nichtwissens immunisieren, weil die moralisch vermeintlich bessere Meinung sich mit ihren eigenen Argumenten bestätigen kann.

Stiglegger hingegen zeigt ideenreich und unideologisch, wie das Unheimliche, Monströse, Grausame zur beunruhigenden Konstante der Kinogeschichte avancieren konnte. Seine kinematographische Spurenlese führt ihn vom pornographischen Underground der “wilden” 1970er Jahre bis zum vorläufigen transzendenten Endpunkt des Autorenfilms der Gegenwart:

Man denke hier etwa an den skandalumwittertem Körperhorror in Lars von Triers Antichrist (2009), der bei seiner Uraufführung in Cannes nicht zuletzt wegen seiner drastischen Genitalverstümmelungen in unerbittlichen Großaufnahmen heftige Reaktionen freisetzte. Stigleggers Fazit: Angst, Ekel und Grauen seien elementare Empfindungen, die das Terrorkino weckt, und ohne eine Einfühlung in die Situation des Opfers ließen sich diese Gefühle kaum kultivieren. Deshalb könne von Abstumpfung des Publikums im Terrorkino kaum die Rede sein, vielmehr scheinen, gemessen am kommerziellen Zuspruch die Zuschauer geradezu die Attacke auf die Intimität des versehrbaren Körpers zu ersehnen. Es sei ein nicht selten masochistisches Vergnügen an der Verfallsästhetik, das der Terrorfilm entfalte.

Es seien Versuchsanordnungen, „in denen sich die Protagonisten physisch neu orientieren müssen. Es geht hier um ein verlorenes Körperbewusstsein, das in der Angst-, Schmerz- und Todeserfahrung zurückgewonnen wird.“ Resümierend wirft Stiglegger die instruktive Frage auf, inwieweit das Horrorkino seit den 1970er Jahren nicht zuletzt den realen Horror des neoliberal entfesselten Kapitalismus widerspiegelt, „dessen destruktiver Endpunkt die totale und willkürliche Verfügungsgewalt über die in Waren verwandelten Menschen ist.“ Das wahre Grauen steckt nicht in den Horrorfilmen, sondern in den sozialen Verhältnissen, denen sie entspringen.

Das Begehren der Zombies im Spätkapitalismus vom Kauf- zum Blutrausch führt uns George A. Romero in Dawn of the Dead (1978) drastisch vor Augen. Die Handlung: In den USA herrscht Notstand. Drei Männer und eine schwangere Frau sind auf der Flucht vor dem Heer der Untoten, die eine heimtückische Seuche befallen hat. Das Quartett findet zunächst Schutz in einem verwaisten Einkaufszentrum in Pennsylvania. Doch die Armee der Untoten rückt unaufhaltsam näher…

Romeros Botschaft: Die Ära der emanzipatorischen Hippie-Utopien ist tot, Pessimismus herrscht an allen Fronten, der Geist des no future weht durch den populärkulturellen Alltag, die traumatischen Gewaltexzesse des Vietnamkriegs beherrschten den medialen Bildervorrat dieser Zeit. Tom Savini, verantwortlich für die Special Effects, war in Vietnam als Kriegsfotograf aktiv und speiste seine Impressionen in die variantenreichen Gewaltdarstellungen des Films ein.

Die Zombies avancierten in diesem Klassiker plakativer Kapitalismuskritik zum Spiegel der amerikanischen Gesellschaft: die shopping mall als Universal-Metapher kannibalischen Konsums. Als echte Bedrohung erscheint das Heer der Armen, exkludiert aus der Welt des Warenfetischismus, zum Untoten erklärt, um es vernichten zu können: we must stop the killing or loose the war – lautete folgerichtig das kritische Motto des Films. In einem Interview bekannte Romero lakonisch: „Für mich waren die Zombies immer Sinnbilder der Revolution: Eine Generation frisst die andere auf.“

Das kapitalismuskritische Leitmotiv der Zombifizierung des neoliberalen Subjekts lässt sich also nicht erst in der Gegenwart erkennen, sondern geht bereits auf die frühen 1970er Jahre zurück: „Die wilden amerikanischen Horrorfilme im Allgemeinen und die Zombiefilme nach George A. Romeros 'Dawn of the Dead' im Besonderen reflektieren sehr genau den gesellschaftlichen Bruch nach Vietnam und hinein in die reaktionäre und neoliberale Phase der Wirtschaftspolitik.

Die Erzeugung von überflüssigen, von sozial 'untoten' Menschen gehörte zu diesem System, es entstand ein neues globales Subproletariat, deren Vertreter in der Tat im sozialen Sinn weder leben noch sterben können. Von den Vertretern der alten bürgerlichen Mittelklassen werden sie daher als 'Parasiten' empfunden, von ihrer eigenen Sicht aus können sie nur Ausgestoßene sowohl der materiellen wie der moralischen Welt sein.

Ihr Schrecken beginnt damit, dass die Gesellschaft sie, wie die furchtbaren Backwood-Kannibalen des 'Texas Chainsaw Massacre', einfach vergessen hat. Sie haben tatsächlich in der Hölle des Neoliberalismus keinen Platz und verwandeln sich in jenen 'Street Trash', vor dem der Mensch der 'anständigen Mitte' die größte Furcht hat: Kontaminiert zu werden, einer von denen zu werden, das Karriere- und Anpassungs-Subjekt ebenso radikal zu verlieren.“

Zieht man zudem die Entfaltung des Bösen in der Literaturgeschichte der Moderne ins Kalkül der Betrachtung, fällt auf, dass der metaphernreiche Grausamkeitsluxus der postmodernen Kultur auf Quellen und Habitusmuster hinweist, die weit in die europäische Kulturgeschichte zurückreichen. Um 1800 ereignete sich nicht weniger als die programmatische Abkopplung der Kunst – und besonders der Literatur – von den Direktiven der Moralität. In seiner Studie zur Ästhetik des Bösen zeigt Peter-André Alt, wie im breiten Spektrum der europäischen Literatur – von Goethe und Baudelaire über Shelley und Stoker bis zu Freud, Kafka, Littell und Ellis – an den Platz einer zweiwertigen Logik von Gut und Böse neue Leitbegriffe treten.

Das Böse gewinnt jetzt seine Kontur in völlig neuartigen komplexen Arrangements: „Trieb, Monotonie, Langeweile, Ekel, Aggression, Ich-Spaltung, Selbstliebe und Selbsthaß”, so Alt, „positionieren sich ab 1800 in der neuen Wissenschaft vom Menschen als Nachbarkategorien des Bösen, deren Bedeutung nicht selbständig, sondern über Relationen geregelt wird. Es gehört zu den Effekten des sich am Beginn des 19. Jahrhunderts ausformenden anthropologischen Denkens, daß es eine systemartige Verknüpfung der unterschiedlichen Spielarten einer gegenrationalen Welt zu begründen sucht.”

Parallel zu George A. Romeros Zombie-Ästhetiken hat Elfriede Jelinek spätestens seit ihrem Opus magnum Die Kinder der Toten (1995) in radikaler Verkehrung von Leben und Tod episch und dramatisch eine Poetologie des untoten Subjekts entwickelt und verfeinert – und sich dabei in programmatischen Äußerungen immer wieder auf die schwarze Romantik, den Gothic Horror und den Horror- und Splatterfilm berufen und in ihrem eigenen Werk detailversessen erprobt. Bei Jelinek fungiert das untote Subjekt als Träger und Gedächtnisraum der ewigen Wiederkehr des Verdrängten, ihre avantgardistisch anspielungsreichen Hyper-Texte umkreisen nicht selten mit gehässigem Tonfall die kapitalistisch-heteronormativen, biopolitischen – in letzter Konsequenz: faschistoiden – Verwertungslogiken allen menschlichen Lebens.

In der Rückschau auf die Untoten-Ästhetiken Romeros und Jelineks lässt sich konstatieren: Die Untoten der Gegenwart sind die Prekarisierten, Arbeitslosigkeit und Krankheit sind behaftet mit dem Stigma des Produktivitätshemnisses, Self-Tracking wird zum Werkzeug neoliberaler Selbstoptimierung – der menschliche Körper avanciert in der ökonomischen Totalverwertung zur Bio-Aktie, die entweder Rendite verspricht, oder aussortiert, sprich: exkludiert wird. Das nackte Leben wird zur Quelle des Profits:

Deutsche Versicherungskonzerne und Krankenkassen bieten ihren Kunden bereits Self-Tracking-Bonusprogramme an und orientieren sich dabei am Vorbild der US-amerikanischen United Healthcare, die ihren Kunden Boni zuspricht, wenn diese tägliche eine Mindestanzahl gegangener und erfasster Schritte nachweisen können. Oder: Das britische Gesundheitsministerium schlug Ärzten vor, ihren Patienten zur Vorsorge (!) Self-Tracking zu „verschreiben“. Oder: Die Europäische Kommission will Self-Tracking propagieren, um so Einsparungen in den Gesundheitsbudgets der Mitgliedstaaten in der Größe von mehreren hundert Milliarden Euro zu erreichen.

All dies natürlich begründet mit dem immer wiederkehrenden Fetisch der Effizienzsteigerung: „In diesen Äußerungen wird deutlich, dass das über die eigene biologische Wahrnehmungsgrenze hinaus informierte Subjekt des kybernetischen Kapitalismus durchaus nicht zufällig ensteht, sondern durch pädagogische und biopolitische Interventionen hervorgebracht wird.“

Die granulare Guerilla-Dissidenz

Aus diesen Entwicklungen des Self-Trackings werden sich in naher Zukunft neue Effizienz-Zwänge und Verwertungs-Dynamiken ergeben. Man darf hierbei nie vergessen, dass im Finanzmarktkapitalismus Wachstum und Profit dauerhaft nur zu erzielen sind, wenn wirklich alle Bevölkerungsgruppen – neben den schrumpfenden Mittelschichten vor allem auch die Prekarisierten (zum Beispiel über teure Studienkredite) – über den Verschuldungsmechanismus in die neoliberalen Ausbeutungsketten integriert werden.

Dies hat Christian Marazzi am Beispiel der globalen Sub-Prime-Immobilien-Krise mit unerbittlicher Klarheit formuliert: „Seit der Krise der sogenannten New Economy in den Jahren 2000 bis 2002 erlebt der Immobilienmarkt in den USA eine ungeheure Expansion. Bereits 2001 sind die Preise in diesem Sektor sehr hoch, so hoch, dass Analysten schon 2002 von einer Blase sprechen. Doch dank der Verbriefung der Subprime-Darlehen gelingt es, die Krise im Immobiliensektor bis zum Platzen der Blase 2007 aufzuschieben. Die Expansionsdynamik des Subprime-Marktes macht deutlich, dass Wachstum und Profit im Finanzkapitalismus entscheidend davon abhängen, neben der Mittelklasse die Armen zu mobilisieren.

Um funktionieren zu können, muss dieser Kapitalismus gewissermaßen auf das nackte Leben setzen, auf Menschen, die keinerlei Garantien vorzuweisen haben und nichts einbringen können als sich selbst: Das nackte Leben wird in eine unmittelbare Quelle des Profits verwandelt.

Bei der Verbriefung von Hypothekendarlehen geschieht dies durch stochastische Berechnungen, mit deren Hilfe die Wahrscheinlichkeit ausfallender Schuldentilgung, bezogen auf die Gesamtbevölkerung 'kalkulierbar' und damit vernachlässigbar wird. Tatsächlich offenbart sich die der Kalkulation zugrundeliegende Finanzlogik als zynisch: Die aus einem Pool von Hypothekendarlehen gebildeten, von Investmentbanken zusammengestellten verbrieften Kredite werden nach dem Subordinationsprinzip, das heißt entsprechend dem mit ihnen verbundenen Ausfallrisiko gruppiert.

Mit der ersten Tranche, der untersten, ist das höchste Risiko verbunden, die mittlere stellt ein geringeres Risiko dar, während sich die obere, in der sich ältere und bessere Vermögenswerte (super senior und senior genannt) finden, als sicher ansehen ließe. Die obere Tranche wird durch die anderen geschützt, sodass die untere Tranche den exponiertesten Teil der verbrieften Hypothekendarlehen repräsentiert, diejenigen nämlich, die zuerst platzen. Das Dach über dem Kopf hängt somit ab von mathematischen Risikomodellen, in denen das Leben von Menschen keinerlei Bedeutung hat und die Armen gegen die weniger Armen ausgespielt werden. Das soziale Recht auf Wohnung wird dem privaten Profitstreben untergeordnet.

Das alles im Übrigen mit Unterstützung akademischer Wirtschaftswissenschaftler, die in all diesen Jahren ihre wissenschaftliche Kompetenz und Integrität der Finanzwirtschaft angedient haben. Der Finanzkapitalismus funktioniert aufgrund der Erwartung eines permanenten und 'unendlichen' Steigens der Immobilienpreise. Ohne solche (auch inflationsbedingt) steigende Preise wäre es nicht möglich, die mehr oder weniger Mittellosen einzubinden. Das wiederum ist notwendige Bedingung, um weiterhin Profite realisieren zu können.“

Die brutale Herrschaft der Finanzmarktlogik erzeugt auf diese Weise in allen volkswirtschaftlichen Sektoren künstliche Knappheit durch Privatisierung – im Immobiliensektor durch Zwangsvollstreckung bei privater Insolvenz – mit der Folge der Prekarisierung (Zombifizierung) von Millionen privater Haushalte. Es sei, so Marazzi, ein Kommunismus des Kapitals, bei dem der Staat sich den Interessen der Finanzsowjets (Banken, Versicherungen, Investment- und Hedgefonds) unterwerfe und so die Diktatur des Marktes über die Gesellschaft errichte.

Wie lässt sich im Angesicht dieser bedrohlich fortgeschrittenen ruinösen Dynamik verschärfter Ausbeutungsketten eine Umdrehung, eine Revolution – oder: Gegenrevolution – der realen Machtverhältnisse im Sinne einer Ethik des gewaltlosen Widerstands denken? Eine mögliche, empirisch bereits identifizierbare Alternative sei als Sondage künftiger politischer Konfliktformen in groben Umrissen anhand eines Filmbeispiels skizziert.

Es handelt sich hierbei um das Konzept der granularen Guerilla-Dissidenz. Der Dokumentarfilm Democracy - Im Rausch der Daten (2015) des Regisseurs David Bernet zeigt eindrücklich, wie sehr persönliche Daten bereits zu einer heiß umkämpften Profit-Ressource avanciert sind - zum Öl des 21. Jahrhunderts, wie es im Film einer der Interview-Partner formuliert. Der Kampf um ein neues europäisches Datenschutzgesetz ist ab Januar 2012 entbrannt, Bernet begleitet vor allem EU-Kommissarin für Justiz, Bürgerschaft und Grundrechte, Viviane Reding, und den jungen Grünen-Abgeordneten Jan Philipp Albrecht bei ihrer Arbeit an der Gesetzes-Novelle, die jede Form des Datentransfers schützen soll – natürlich treten Unternehmer-Lobbyisten, findige Beratungskanzleien und Aktivisten auf, sie alle versuchen ihre je eigenen Interessen durchzusetzen.

Albrecht wird mit hauchdünner Mehrheit zum Berichterstatter gewählt, seine Funktion: Vom EU-Parlament nominiert, soll er in dessen Auftrag den Gesetzesvorschlag der EU-Kommission mit Vertretern anderer Fraktionen prüfen und schließlich dem Plenum einen überarbeiteten Gesetzesvorschlag vorlegen. Jan Philipp Albrecht gibt im Film zu Protokoll, diese Funktionen sei nicht ohne Risiko – jemand von der Kommission habe ihm gesagt, wenn er tatsächlich Berichterstatter werde, solle er sich Personenschutz besorgen. Und er fügt, nicht ohne desillusionierten Unterton hinzu: Die EU gleiche einem Tanker, der nur durch Gewichtsverlagerung gelenkt werde. Zudem beleuchtet der Film instruktiv das komplexe Macht-Geflecht zwischen Kommission, Rat, Parlament und Lobbyismus, der schließlich im Januar 2013 ein extremes Ausmaß angenommen hat:

Als der sogenannte Albrecht-Report erscheint, gehen bis März 2013 über 4000 Änderungsanträge zur geplanten Gesetzes-Novelle ein – ein bis dahin neuer Rekord in der Geschichte der EU-Gesetzgebung. Danach scheinen die weiteren Verhandlungen in den sogenannten Shadow Meetings festgefahren, als im Juni 2013 plötzlich hektische Bewegung an allen Verhandlungsfronten aufkommt: Edward Snowden hatte veröffentlicht, dass die Internet-Big-Player (Google, Facebook, Apple, Microsoft) dem NSA Zugang in das Innerste ihrer Kommunikationssysteme eröffneten, was Snowden mit der lakonischen Bemerkung quittiert, die Demokratie sei in ernster Gefahr.

Das demokratische Freheitsverständnis der Big-Player lasse sich auf die Formel reduzieren: Du bist frei, zu tun, was wir dir sagen.

Die Prism-Enthüllungen bewirken schließlich im November 2013 eine erfolgreiche Abstimmung und somit einen Erfolg für den Albrecht-Report – am 12.03.2014 bestätigt die Vollversammlung des Parlaments den Datenschutzentwurf mit 95 Prozent Ja-Stimmen, das neue EU-Datenschutzgesetz ist seit 25.05.2016 in kraft und ab 2018 wirksam.

Welche Erkenntnis lässt sich hieraus ableiten? Ohne die granulare Guerilla-Dissidenz und die Enthüllungen eines Edward Snowden wären die Datenschutz-Interessen der EU-Bürger niemals auch nur halbwegs angemessen berücksichtigt worden. Im Film sieht man sehr deutlich, wie sehr diese Veröffentlichung die Kapital-Lobby zunächst erschüttert hat – und wie schnell sie sich plötzlich kompromissbereit zeigte, wenigstens in fundamentalen Grundsätzen auf die berechtigten Bürgerinteressen hinsichtlich des Schutzes personenbezogener Daten einzugehen.

Ein kleiner, wenn auch vorläufiger Sieg im Namen demokratischer Mitbestimmung, lanciert durch granularen Widerstand von außen. Daraus lässt sich für die absehbare Zukunft zum weiteren Widerstand gegen neoliberale Kapitalinteressen viel ableiten – mindestens aber folgende Lehren sind denkbar: Erstens – kein Widerstand gegen Kapitalinteressen ohne Aufbau einer wirksamen Gegenöffentlichkeit. Zweitens – keine Änderung der Machtverhältnisse ohne Analyse der Taktiken und Strategien des politischen Gegners samt angemessen intelligenter Konfliktreaktion hierauf. Drittens – Affekte sind wichtig, Humor ist Trumph, wer nicht lachen kann, ist nicht ernstzunehmen, schließlich, mit Herbert Schui: Opposition ist nicht verhärmt.

Der Horror der Apokalypse sollte uns nicht davon abhalten, aus cineastischer Gewalt zu lernen, wie sich gewaltfrei für die Sache der Demokratie kämpfen lässt. Noch ist Zeit – wieviel, entscheiden wir selbst.


Zitierte Literatur:

  • Pagels, Elaine: Apokalypse. München: C.H.Beck 2013.
  • Scheidler, Fabian: Das Ende der Megamaschine. Wien: Promedia 2015.
  • Schui, Herbert: Gerechtere Verteilung wagen! Hamburg: VSA 2009.
  • Stiglegger, Marcus: Terrorkino. Berlin: Bertz + Fischer 2010.
  • Metz, Markus/Seeßlen, Georg: Wir Untote! Berlin: Matthes & Seitz 2012.
  • Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen. München: C.H.Beck 2010.
  • Marazzi, Christian: Verbranntes Geld. Zürich: diaphanes 2011.
  • Schaupp, Simon: „Wir nennen es flexible Selbstkontrolle.“ Self-Tracking als Selbsttechnologie des kybernetischen Kapitalismus, in: Duttweiler, Stefanie/Gugutzer, Robert/Passoth, Jan-Hendrik/Strübing, Jörg (Hg.): Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Bielefeld: transcript 2016, S. 61-86.


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