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Autokratie statt Demokratie

Autokratie statt Demokratie

Das Beispiel Frankreich zeigt: Die europäischen Staaten beerdigen die Demokratie.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem damit einhergehenden unrühmlichen Ende einer noch unrühmlicheren Systemalternative begann der kalte Wind der adjektivlosen Marktwirtschaft in Ost und West gleichermaßen zu blasen. Der soziale Ausgleich schien den Herrn der kapitalistischen Verwertung nicht mehr notwendig. Und seit das chinesische Produktivitätswunder den transatlantischen Hegemon herausfordert, wird dem Diktum vom "Bestehen im globalen Wettbewerb" alles untergeordnet.

Die vergangenen 20 Jahre lang glaubten die herrschenden Kapitalgruppen mit dem Vehikel der Demokratie fortfahren zu können, nannten es jedoch vorsichtshalber "liberale Demokratie" oder "konstitutionellen Liberalismus", um ungeliebte Wahlsieger als illiberale Populisten brandmarken zu können. Doch bald war offenkundig, dass immer weniger Menschen im transatlantischen Großraum den Versprechungen des (Neo)Liberalismus glauben mochten. Sinkender Wohlstand, steigende Arbeitslosigkeit und die Aussicht, weiteren technischen Rationalisierungen ungeschätzt zum Opfer zu fallen, bewirkten einen enormen Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber den politischen und medialen Durchhalteparolen der Propagandisten des Liberalismus.

Statt eines von manchem Systemkritiker prognostizierten harten Bruchs mit den parlamentarisch-demokratischen Gepflogenheiten hin zu diktatorischen Zuständen, scheint sich allerdings ein schleichender Umbruch in Richtung einer autokratischen Herrschaftsform zu vollziehen. Auf suprastaatlicher Ebene der Europäischen Union existiert ohnehin keine den bürgerlichen Parlamentarismus konstituierende Gewaltenteilung, erheben sich in Brüssel doch nationale Exekutiven (Ministerpräsidenten und Minister) als EU-Rat zu einer supranationalen Legislative. Sie bestimmen dort über die Zusammensetzung der EU-Kommission, ohne dafür von irgendjemandem gewählt oder beauftragt zu sein. Nun ziehen nationale Handlungsträger nach und werfen Grundprinzipien der Demokratie über Bord.

Selbstherrschaft – Autokratie – ist ein seit der griechischen Antike gut eingeführtes Regierungsmodell. Aktuell erlebt es in semiperipheren Ländern wie der Türkei oder der Russischen Föderation eine neue Blüte.

Das vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan durchgeführte und in seinem Sinne gewonnene Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 soll dem Land Ende 2019 ein Präsidialsystem aufdrücken, das sehr weitgehende Vollmachten des Präsidenten beinhaltet. Russland wiederum kann als informelle Autokratie bezeichnet werden, in der der Kreml politisch die Fäden zieht und die Duma mehrheitlich von der präsidentiellen Partei "Einiges Russland" bestimmt wird.

Mit dem Wahlsieg Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten könnte die Autokratie nun auch im Zentrum zur neuen Herrschaftsform werden. Frankreich bietet dafür ein ideales Umfeld. Sein administrativer Zentralismus und sein politisches Präsidialsystem benötigen nur ein paar entsprechende Impulse, um der bislang gewohnten parlamentarischen Demokratie den Todesstoß zu versetzen. Dazu kommt der seit November 2015 bereits fünf Mal verlängerte Ausnahmezustand, der ohnedies bei Bedarf jede nicht genehme politische Regung unterdrücken kann.

Macrons soziale Basis ist schwächer, als das Wahlresultat vom 7. Mai 2017 mit 66% Zustimmung glauben macht, wie Winfried Wolf in seinem Rubikon-Beitrag "Der Sieg von Macron wird die Krise der EU vertiefen" ausgeführt hat. Als erste Wahl sahen ihn zwei Wochen zuvor nur 24% der Franzosen. Wesentlich stärker als im Volk ist der 39-Jährige im Bankensektor und bei französischen und deutschen Konzernen verankert. Eine politische Partei, deren Mitgliedern er gegenüber verantwortlich wäre, weiß er auch nicht hinter sich. Von sozialer Kontrolle befreit, kann er sich seinem Reformvorhaben widmen, sprich: der von der fixen Idee des alternativlos betrachteten globalen Wettbewerbes betriebenen neoliberalen Agenda.

Parlamentarische Störungen soll es dabei nicht geben, weswegen Macron gerade eine Liste williger Mitarbeiter von einem extra dafür bereitgestellten Team durchleuchten lässt, von denen die für Macrons Agenda Nützlichsten als zukünftige Abgeordnete fungieren sollen. 19.000 Willige haben sich auf seinen Aufruf hin gemeldet. Die Brauchbarsten unter ihnen dürfen dann nach den französischen Parlamentswahlen dem Autokraten im Elysee-Palast die parlamentarische Mauer machen. Ob der Coup aufgeht, mit dem nicht nur die Sozialisten, sondern auch die Bürgerlichen zerquetscht werden könnten, wird sich erst an den beiden Wahltagen vom 11. und 18. Juni weisen. Das französische Mehrheitswahlrecht bietet jedenfalls gute Chancen hierfür.

Am 11. Mai trat der Sekretär des Macron'schen Wahlvereins "La Republique en marche", Richard Ferrand, vor die Presse und meldete den ersten Vollzug. 428 (von 577) KandidatInnen seien bereits ernannt worden. 95% von ihnen hatten bislang keine Erfahrung in der Nationalversammlung, verkündete er stolz, 77% waren überhaupt noch nie in irgendeiner politischen Mandatsfunktion. Mit anderen Worten: die Macron'schen Selektionskriterien bevorzugen politisch Ahnungslose. Wert wird hingegen auf das Reißverschlussprinzip zwischen Männern und Frauen gelegt. "In der großen Mehrheit sind (die Kandidaten) Unbekannte, Bürger, die Lust haben, sich politisch zu engagieren und die vom Komitee für die Selektion der Bewegung (Macron) dafür als kompetent eingeschätzt wurden", fasst die Tageszeitung "Le Parisien" den Vorgang zur Bestimmung der neuen Abgeordneten zusammen. Macron verkauft ihn als "Demokratie von unten", in Wahrheit wird damit eine Auswahl von Männern und Frauen getroffen, die, falls sie gewählt werden, einem Einzigen – Macron – ihre Position verdanken. Eine zugegeben kritikwürdige Parteiendemokratie wird durch pure Autokratie ersetzt.

Österreich zieht nach. Am 14. Mai 2017 gab die seit über 70 Jahren existierende große bürgerliche Partei, die konservativliberale ÖVP, ihren Geist auf. Selbstentmachtung war angesagt. So klar will das zwar niemand in der Partei sehen, aber das Eingeständnis, bei den kommenden vorgezogenen Wahlen im Oktober 2017 nicht mehr als ÖVP zu kandidieren, lässt keine andere Interpretation zu. Die autokratische Politwelle, die über Ankara nach Paris geschwappt ist, hat damit auch Österreich erreicht.

Ausgangspunkt für die völlige Neuaufstellung der Konservativliberalen war der überraschende Rücktritt des ÖVP-Parteiobmannes und Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner von allen Ämtern. Die Suche nach einem Nachfolger gestaltete sich kurz, aber – wie sich jetzt herausstellt – für die Partei schmerzvoll. Der erst 30-jährige Shooting-Star der ÖVP, Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz, übernahm in Windeseile die Zügel der Macht, tauschte jedoch dabei, um im Sprachbild zu bleiben, nicht nur die Pferde, sondern auch das Fuhrwerk aus. Konkret stellte er sieben Forderungen, um sich an die Spitze der ÖVP zu stellen.

Schon die erste Bedingung zeigt klar, dass es sich beim Führungswechsel nicht um einen bislang üblichen Vorgang handelt. Kurz forderte von den Granden der ÖVP nicht weniger als das Recht, mit einer eigenen Wahlliste antreten zu können. Mit anderen Worten, der Name ÖVP kommt am Stimmzettel zur Nationalratswahl gar nicht mehr vor. Nächstes Mal müssen die WählerInnen ihr Kreuz bei der "Liste Sebastian Kurz – Die neue Volkspartei" machen. Die Aufgabe der ÖVP, die als Partei bestehen bleibt, erschöpft sich in der Finanzierung des Kurz'schen Abenteuers und der organisatorischen Hilfestellung für die Personenliste.

Wirklich autokratisch geht es dann bei der Erstellung der Wahllisten zur Sache. Denn auch dabei hat sich Sebastian Kurz das volle Durchgriffsrecht zusichern lassen. Der dritte Punkt seines Forderungskataloges garantiert ihm nicht nur die alleinige Bestellung sämtlicher Kandidaten der Bundesliste, sondern auch ein Vetorecht bei den Landeslisten. Mit anderen Worten: die in sechs (von neun) Bundesländern regierende ÖVP hat bei den kommenden Nationalratswahlen nur mehr Vorschlagsrechte, wer auf der "Liste Kurz" aufscheinen darf.

Der aus der politisch linken Reichshälfte stammende Macron und der von rechts kommende Kurz haben eines gemeinsam: Sie wollen die Verantwortung politischen Strukturen gegenüber überwinden, um freie Hand für Maßnahmen zu haben, die ihnen von anderer Seite, von Seite des Kapitals, anempfohlen oder auferlegt werden. Ob sie selbst an diese Mission und ihre Alternativlosigkeit glauben oder nicht, ist dabei zweitrangig.


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