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Brücken statt Mauern

Brücken statt Mauern

Ossis und Wessis können ihre Fremdheitsgefühle überwinden, indem sie sich ihre Geschichten erzählen. Exklusivabdruck aus „Aufgewachsen in Ost und West“.

Geschichten können Brücken bauen

Vierzig Jahre gab es Deutschland praktisch zwei Mal. 28 Jahre lang standen sich die beiden Staaten schwer bewaffnet gegenüber. Die innerdeutsche Grenze trennte nicht nur Ost und West, sondern auch viele Familien. Sie prägte Schicksale.

Dann kam — vor 30 Jahren — die Wiedervereinigung. Seitdem wurde viel Geld investiert in den „Aufbau Ost“, seitdem reisen alle Bürger im vereinigten Deutschland ungehindert nach hüben und drüben und wählen Volksvertreter aus einer langen Liste von Parteien in die Parlamente.

Und doch bestehen noch immer gravierende Unterschiede zwischen Ost und West, mitunter vertiefen sie sich auf neue Weise.

Zahlreiche Statistiken belegen das: Die Arbeitslosenrate ist in Ost deutlich höher als in West (1). Umgekehrt verhält es sich mit der Vermögensverteilung: Das private Pro-Kopf-Vermögen ist im Westen mehr als doppelt so hoch wie im Osten.

Nur 2,8 Prozent aller heutigen hohen Entscheidungsträger wuchsen im Osten auf (2). Dass die Kanzlerin aus Ostdeutschland kommt, wirkt da schon fast wie ein Ausrutscher in der jüngeren Geschichte. Tatsache ist, dass Ostdeutsche auch in den neuen Bundesländern nur selten viel zu sagen haben.

Auch menschlich blieb man sich bisweilen fremd. Die vielen Jahre der Zweistaatlichkeit, die unterschiedlichen Erfahrungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft prägten die Bürger in Ost und West, und diese Prägungen sind es, die gegenseitiges Verstehen noch immer erschweren, ja manchmal sogar verhindern.

Auf beiden Seiten gibt es Vorurteile. Und Medien, die ebenfalls weitgehend von westdeutsch sozialisierten Akteuren besetzt sind, pflegen und fördern diese häufig. Die emotionale Spaltung des Landes scheint ihnen geradezu am Herzen zu liegen, vielleicht ja auch, weil sich damit Schlagzeilen und „Klicks“ generieren lassen. „Ossi“-Schelte, manchmal gar -Häme kann verspüren, wer medial immer wieder über die „Rückständigkeit der Ostdeutschen“ belehrt wird. Dies bleibt nicht ohne Folgen: Auch im Osten existieren entsprechende Pauschalurteile den Westdeutschen gegenüber. Selten fallen sie positiv aus.

Warum also dieses Buch? Genau darum: Weil Politik und Wirtschaft den einst zwangsweise angestoßenen Prozess der deutschen Wiedervereinigung und des Zusammenwachsens nicht weiterbringen können.

Einander näherbringen kann uns nur die Kultur, die Literatur, die Tradition des Erzählens, des Zuhörens und des sich Erklärens. Hier ist jeder und jede Einzelne gefordert.

Wir — die Herausgeber dieses Buches — machen gerade im jetzigen Jubiläumsjahr die Erfahrung: Wo Menschen sich füreinander öffnen, Neugier zeigen, zuhören, nachfragen und von eigenen Erfahrungen berichten, da kann aus Unkenntnis Verständnis werden. Man stellt fest: Persönliche Schilderungen von glücklich Erlebtem und unglücklich Erlittenem helfen, Brücken zu bauen und eigene wie fremde Grenzen zu überwinden.

Wer engagiert und offen erzählt, wer aufrichtig zuhört, der bestreitet nicht länger, dass es individuelle Wahrheiten gibt, dass menschliches Leben, Lieben und Leiden ohnehin nur subjektiv erlebt werden kann und dass dieses subjektive Erleben Parallelen oder zumindest Ähnlichkeiten kennt, sich also der Zuhörer im Erzähler wiederfindet und dann plötzlich nur ein kurzer Satz zu sagen ist, nämlich: „Mensch, das kenn ich auch!“ Wo diese fünf Worte fallen, ist Annäherung und gegenseitiges Verstehen nicht nur möglich, sondern bereits geschehen.

Begegnen, Erkennen und Verstehen, auch dies eine Erkenntnis unserer zurückliegenden Arbeit, beginnen nicht mit intellektuellen Geschichtsbetrachtungen, politischen Auseinandersetzungen oder wirtschaftlichen Vergleichen, sondern mit dem „Du“ und dem „Ich“.

Wer zuhören kann, stellt unweigerlich fest, dass Unterschiede bereichern und vorhandene Geschichtsbilder einander ergänzen können.

Und plötzlich verschwinden auch Narrative, die einen jahrzehntelang glauben ließen, dass es im Osten nur den bösen Stasi-Staat und im Westen nur „Freiheit statt Sozialismus“ gab. Derlei hohle Formeln verlieren ihr Gewicht und ihre Bedeutung, wenn man etwa erkennt, dass die Wiedervereinigung viele Ostdeutsche zur Leugnung ihrer biografischen Realitäten zwang und vice versa deutlich wird, dass sich hinter wohlgepflegten Buchenhecken des Wirtschaftswunderwestens oft familiäre Dramen abspielten, deren Nachwirkungen noch heute spürbar sind.

Einander wahrnehmen zu können, setzt freilich voraus, sich selbst wahrzunehmen, sich zu erkennen und zu sich und seinen Erfahrungen zu stehen. Dem mögen alle AutorInnen zustimmen, die an Aufgewachsen in Ost und West mitwirkten. Mitunter waren schmerzvolle, mitunter freudvolle Erinnerungen aufzufrischen und niederzuschreiben. Da und dort mögen gar Tränen geflossen sein.

Das vorliegende Buch begann mit einem Aufruf auf Rubikon.news und auf verschiedenen Autorennetzwerken. Die Resonanz war überwältigend. Das Stichwort „Verständigung zwischen Ost und West“ zog Menschen aus allen Teilen Deutschlands an. Sie folgten der Aufforderung, von persönlichen Erfahrungen zu einem von 23 Themenkomplexen zu erzählen.

Aufgewachsen in Ost und West zeichnet ein facettenreiches Bild der deutsch-deutschen Gesellschaft vom Beginn der fünfziger Jahre bis zum Jahr 1990. Diese Erinnerungen ermöglichen es den Lesern, einzutauchen in die damaligen Welten der Autorinnen und Autoren und festzustellen: Typologien — also: „typisch BRD“ oder „typisch DDR“ — helfen nicht, einander besser zu verstehen. Zuhören, Lesen und sich einlassen auf die erlebten Geschichten schon. Die vorliegenden Texte entstanden in der Hoffnung, dass in Ost wie West eben genau dieser kurze Ausruf erklingen möge: „Mensch, das kenn ich auch!“ Oder auch: „Das wusste ich noch gar nicht! Danke, dass du es erzählt hast.“

Um einen kurzen Einblick vorab zu geben, seien hier einige der vielen verschiedenen Inhalte benannt. Wir lesen von Frauen, die sich in der BRD selbstbewusst und gegen die Norm in Männerberufen behaupten oder von Jugendlichen in der DDR, die gegen die Dogmen ihrer Lehrer aufstehen, wir erfahren von Kindheitsträumen und verlorenen Illusionen, vom kargen Leben in der Nachkriegszeit oder von kulturellen Strömungen.

Manch westdeutscher Musikliebhaber wird Neues über die eigenständige Popkultur der DDR erfahren, und gleichzeitig teilten Jugendliche in Ost und West geradezu identische Erlebnisse.

Fast überall tun sich unerwartete Parallelen auf. Die Starrheit einer zentral gelenkten Planwirtschaft und ein konstant CDU-regiertes Dorf erzeugen im Leseerlebnis plötzlich ähnliches Empfinden.

Unser Dank gilt allen Frauen und Männern, die an diesem Buch mitwirkten und in aller Offenheit erzählten, was sie einst berührte und bis heute bewegt. Ihre Geschichten können Brücken bilden, Verständnis füreinander schaffen, aber auch den Leser ermuntern, es den Autoren gleichzutun und die eigenen Geschichten zu erzählen. Geschähe dies, um Menschen in Ost und West einander näher zu bringen, wäre das Anliegen dieses Buches mehr als erfüllt.

Katrin McClean und Torsten Haeffner
Hamburg und Einsiedeln, 17. Juni 2020



Quellen und Anmerkungen:

1) https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-10/vermoegensverteilung-einkommensungleichheit-deutschland-einkommen-vermoegen/seite-2
2) https://www.migazin.de/2015/01/21/ossi-diskriminierung-nicht-migranten-ostdeutsche/


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