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Das andere Österreich

Das andere Österreich

Bewältigen wir endlich die Vergangenheit — oder überwältigt sie uns?

Jeder einzelne Mensch ist ein elementarer Bestandteil der Zeitgeschichte — einschließlich der 815 Millionen Menschen, die derzeit auf aller Welt Hunger leiden. Die unwillkürliche Handlung eines einzigen Individuums auf diesem Planeten könnte das Rad der Weltgeschichte herumreißen. Damit aber die Menschen sich als Bestandteil der Zeitgeschichte begreifen können, bedarf es eines tieferen Verstehens historischer Zusammenhänge, wie sie an unseren Schulen leider nicht vermittelt werden.

Wenn sich so viele Individuen wie nur möglich ihres historischen Umfeldes bewusst werden, wird sich der Geist der Geschichte — meinetwegen auch Hegels Weltgeist — selbst begreifen können. Dies kann nur geschehen unter der Bedingung, dass unsere vergangene Geschichte eines Jahrhunderts voller Kriege aufrichtig und ehrlich aufgearbeitet und genauso weitergegeben wird. Es darf also, um mich eines der dummen Sprüche Churchills zu bedienen, nicht länger hingenommen werden, dass Geschichte von „Siegermächten“ geschrieben und von Ahnungslosen gelehrt wird. Abgesehen von der Tatsache natürlich, dass Kriege niemals Sieger hervorbringen — wohl aber Profiteure.

Nach dem verheerenden Brand der Weltkriege und dem Kalten Krieg als Draufgabe, in dem allein schon 40 Millionen Menschen — größtenteils Zivilisten — den Tod fanden, geht im Unbewussten der Völker ein dunkles Schuldgefühl umher. Die historische Wahrheit über diese Greueltaten wird aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, an deren Stelle „offizielle“ Wahrheiten treten und oftmals sogar ein undurchdringliches Totschweigen und Leugnen. — Eine klassische Verdrängungsneurose also, würden Psychoanalytiker sagen, wenn die Menschheit auf der Couch läge.

Nun steht auch das beginnende 21. Jahrhundert bereits wieder im Schatten von Kriegen — und dies umso mehr, als die Schrecken und Greuel der beiden Weltkriege offenbar schon weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Schon sind wiederum 4 Millionen Menschen — größtenteils Zivilisten — in den jüngeren Kriegen ums Leben gekommen, eine Reihe von Ländern und Regionen wurden mutwillig zerstört. In Osteuropa treiben sich ungestört paramilitärische Gruppen und Nazi-Freiwilligenbataillone herum. Weiterhin wird das Massenbewusstsein mit psychologischen Methoden manipuliert, und die gegenwärtigen Kriege um Rohstoffe und Pipelines werden in „humanitäre Einsätze“ und „Friedensmissionen“ umgelogen. In allen Nachrichtensendungen und Talkshows kann man förmlich dem neurotischen Verdrängungsmechanismus einer geschichtslosen Menschheit bei der Arbeit zuschauen.

Erinnerungen aus Österreich

An dieser Stelle möchte ich einen Vergleich anstellen mit meiner eigenen Schulzeit in den 1970er- und 80er-Jahren in Österreich, dieser „Versuchsstation des Weltuntergangs“ nach Karl Kraus. Da lernten wir schon über die Geschichte der Habsburger Monarchie eigentlich nur Mythen, indessen die Adelsgeschlechter ihre Titel niemals wirklich abgelegt hatten. Ein untrügliches Zeichen, dass in Österreich noch nicht einmal die Geschichte der Monarchie aufgearbeitet war. Geschweige denn die beiden Weltkriege oder das Trauma der österreichischen Neutralität nach Kriegsende.

Die Neurose der österreichischen Seele im Hinblick auf die Monarchie äußert sich darin, dass jedes Jahr ein als Kaiser Franz Joseph verkleideter Laiendarsteller mit einer ebenso verkleideten Kaiserin Sissi und deren Gefolge als Kaiserzug in Bad Ischl einmarschiert, wie eine unbewusste Ritualhandlung an genau dem Ort, wo der österreichische Monarch „nach reiflicher Überlegung“ — siehe „Manifest An meine Völker“ — den Ersten Weltkrieg erklärte, der 10 Millionen Tote forderte. Manche Lehrkräfte erklärten uns offenherzig, dass sie uns nur ganz oberflächlich in Geschichte unterrichten konnten, vermutlich aus Rücksicht gegenüber den politischen Lagern, jedoch mit dem Hinweis, dass wir unser Wissen durch das Lesen von Büchern außerhalb der Schulzeit erweitern konnten.

Es war seltsam genug, dass man dazu angehalten wurde, sich „echtes“ Wissen außerhalb der Schule anzueignen, denn schließlich sollte es doch Aufgabe der Schulen sein, dieses zu vermitteln. Etwas Ähnliches erlebte man auch im Staatsbürgerkunde-Unterricht, wo die Funktionsweise des Staates in trockenen Schemata gelehrt wurde, ohne auf die Problematik des politischen Lebens einzugehen. Ich erinnere mich eines Staatsbürgerkunde-Lehrers, ein strammer Reservist des Bundesheeres, der uns überhaupt nur abenteuerliche Schwänke über die italienische Irredenta servierte.

Nun gab es damals zweierlei Lektüre zur österreichischen Monarchie. Man konnte durchaus schon Autoren finden, die sich kritisch mit dieser Vergangenheit auseinandersetzten, nicht ohne zugleich die „bleibenden Leistungen der Habsburger“ entsprechend zu würdigen. Andere Dinge musste man sich in der Literatur zusammensuchen. So erfuhr man in Stefan Zweigs Novelle „Buchmendel“ eher beiläufig, dass es im Ersten Weltkrieg ein österreichisches Konzentrationslager bei Graz/Thalerhof gegeben hatte, dessen Insassen aufgrund der Lagerbedingungen wie die Fliegen starben. Als Kriegsdienstverweigerer wurde man schon anno 1914 an die Wand gestellt.

Auf der anderen Seite gab es Autoren, welche aus den Kaisern eine wahrhafte Heiligengeschichte machten, deren kitschigste Momente sogar noch in die offizielle Geschichtsschreibung eingingen bis hin zu dem Punkt, wo die Österreicher größtenteils selbst an jene Mythen glaubten, die man den Touristen in Schönbrunn zu erzählen pflegte. Obwohl sich zwischen beiden Auslegungen ein schier unüberwindlicher Graben befand — innerhalb der politischen Parteien standen sich in jenen Jahren oft noch persönliche Gegner aus den Zeiten des Bürgerkriegs 1934 gegenüber —, wurden die beiden Wahrheiten anstandslos nebeneinander geduldet und im Buchhandel reichhaltig angeboten. Man konnte selbst entscheiden, welchen der beiden „Wahrheiten“ man folgen wollte.

Es schien uns damals selbstverständlich, dass die Wahrheit aus vielen Facetten besteht und absolute Wahrheiten selbst in den wertvollsten Büchern nur selten zu finden waren.

Heute dagegen wird mit aller Macht nur eine einzige „offizielle“ Wahrheit zum Zeitgeschehen und zur jüngeren Vergangenheit zugelassen: die Geschichtsrevisionen der Transatlantiker.

Wer nur ein wenig von der offiziellen Wahrheit abweicht, riskiert seine Anstellung und Reputation. Immer mehr werden die Menschen ihrer eigenen — unbekannten — Geschichte entfremdet, vom allgegenwärtigen Sog der Propaganda in die eigene Geschichtslosigkeit hinabgespült zu den Wassern des Lethe.

Es herrscht immer noch Krieg und Hunger auf der Welt, und nichts haben wir gelernt.

Wie könnte die Menschheit jemals ihre historischen Aufgaben lösen, wenn nicht endlich offen über die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und des Kalten Krieges gesprochen wird? Wenn nicht offen über Krieg und Kapitalismus gesprochen werden darf? — Das heißt, den Kapitalismus darf man schon kritisieren, aber nicht die Notwendigkeit seiner Vorherrschaft in Frage stellen. — Wie kann es sein, dass sich nur sogenannte „alternative“ Medien mit Themen wie dem Zwischenfall von Tonkin und dem Vietnam-Krieg oder anderen Kriegsverbrechen der NATO-Mächte beschäftigen, und die Autoren sich deswegen sogar als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnen lassen müssen?

Wie ich in Wien den Zweiten Golfkrieg erlebte

Als im November 1989 die Berliner Mauer gefallen war, glaubte man diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs an eine Periode echten Friedens und das Ende des Kalten Kriegs. Immerhin — der leidgeprüften Menschheit war man eine solche „Friedensdividende“ schuldig.

Bis zuletzt hatten die US-Geheimdienste dem amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus vorgelogen, wie stark und gefährlich der Russe noch immer sei, um das einträgliche Geschäft mit dem Wettrüsten und den atomaren Sprengköpfen am Laufen zu halten, bis eines schönen Tages das geschah, was sie alle insgeheim befürchtet hatten, nämlich die Auflösung der Sowjetunion mitsamt dem Warschauer Pakt und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, Comecon, in ihre Bestandteile. Im Dezember 1989 kehrte auch Chile nach der blutigen Pinochet-Diktatur zur Demokratie zurück.

Da standen nun die Kalten Krieger vor den Scherben ihrer Geopolitik — und der Friede wollte ausbrechen!

In den USA wurde schon darüber deliberiert, ob man NATO und CIA als obsolete Relikte aus dem Kalten Krieg nicht auflösen und das Geld für die Rüstung nicht lieber sozialen Zwecken zuführen solle. Im CIA-Hauptquartier in Langley wurden Führungen für Schüler veranstaltet. In meiner Heimatstadt Wien und in ganz Europa verspürten die Menschen auf den Straßen ein vorher nie gekanntes Gefühl der Erleichterung, eine heute kaum noch zu beschreibende Leichtigkeit des Daseins, und es gelang uns damals tatsächlich, die Rüstungsausgaben europäischer Länder um 20 Prozent zu senken. Doch es sollte anders kommen. Letztendlich scheiterten unsere Weltenlenker an der kniffligen Frage, wie man den Weltfrieden erhalten könne, ohne die Rüstungskonzerne damit zu schädigen.

Im Sommer 1990 marschierten Truppen des irakischen Machthabers Saddam Hussein im Emirat Kuwait ein, bei dem der Irak mit 30 Milliarden US-Dollar in der Kreide stand. Die Schulden gingen auf den Ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak zurück. Zwei Wochen zuvor war Saddam Hussein in Bagdad noch seitens der US-Botschafterin April Glaspie versichert worden, dass sich die USA niemals in „innerarabische Streitigkeiten“ mischen würden. Das war eine Falle gewesen, denn nun spielte US-Präsident George W. Bush der Ältere den Empörten und drohte ihm mit Krieg. Die UNO stellte dann ein Ultimatum bis zum 15. Jänner 1991 um die irakischen Streitkräfte abzuziehen.

Im September des Jahres 1990, beim Gipfeltreffen in Helsinki mit dem russischen Präsidenten Michail Gorbatschow, legte Bush senior noch ein Schäuflein nach, indem er sein berüchtigtes Wort von der „Neuen Weltordnung“ sprach. Ebenso hatte Gorbatschow im Juni 1990 in höchster Perestroika-Stimmung von einer neuen Weltordnung gesprochen. Meinten beide dieselbe Sache? Jedenfalls wollte auch Gorbatschow russische Militäreinheiten zur Lösung der Golfkrise bereitstellen.

Hussein hatte eine Antwort darauf: „Jener, der die Sowjetunion repräsentiert, sollte sich daran erinnern, dass inzwischen alle Politiker Zweifel an der Rolle der Sowjetunion als Supermacht hegen, besonders da die USA begonnen haben, allein die Macht in der Welt zu übernehmen“ (1). — Was Putin nachträglich als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ deutete. Er meinte nicht das Ende der Sowjetunion, sondern den unweigerlichen Aufstieg des US-Imperialismus. — Doch über derlei Erklärungen ging man als unbekümmerter Zeitungsleser leichtfertig hinweg, ohne auch nur im Geringsten deren historische Tragweite einzuschätzen. Es war ja doch nur Politikergeschwätz.

Inzwischen setzte Saddam Hussein durch die Annexion Kuwaits die OPEC unter Druck — Kuwait und Irak verfügten damals zusammen über ein Viertel der Weltölreserven. Ende August 1990 brachte Österreichs Bundespräsident Kurt Waldheim hundert österreichische Geiseln aus dem Irak nach Hause, nachdem er in einem „unsolidarischen Alleingang“ mit Hussein verhandelt hatte. Dieser sei auf eine militärische Auseinandersetzung vorbereitet, berichtete Waldheim.

Damit der US-Kongress von der Notwendigkeit eines Krieges gegen den Irak überzeugt werde, kam es am 15. Oktober zur berühmten „Brutkastenlüge“ — in jenen Tagen bedurfte man in den USA zum Kriegführen noch der Zustimmung der Senatoren und des Parlaments. Mit Tränen in den Augen berichtete ein Mädchen aus Kuwait den Kongressabgeordneten, dass sich irakische Soldaten in einem Spital an Säuglingen vergangen, und diese brutal aus ihren Brutkästen gerissen hätten. Eine Erfindung der PR-Agentur Hill & Knowlton, deren Kriegspropaganda von der Regierung Kuwaits bezahlt wurde. Das Mädchen stellte sich später als Tochter des kuwaitischen Botschafters in New York heraus, die niemals als Krankenschwester in einem Spital gearbeitet hatte. Die Abstimmung im US-Senat verlief trotz der Schmierenkomödie mit 52 zu 47 Stimmen für den Krieg nur denkbar knapp, nicht alle Senatoren hatten sich von den falschen Frauentränen beeindrucken lassen.

Einen ersten „Sündenfall“ leistete sich in dem Zusammenhang die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die noch weitere Zeugen für diese Lügengeschichte gefunden haben wollte. In Oslo wurde am gleichen Tag angekündigt, dass Gorbatschow den Friedensnobelpreis erhalten sollte, und in Südafrika entschloss sich Präsident Frederik de Klerk das Apartheitsgesetz aufzuheben.

Nun soll man nicht glauben, dass wir damals in den Zeitungen fortwährend die Schlagzeile „Hussein lässt Babys in Kuwait ermorden“ gelesen hätten, wie das heute bestimmt der Fall wäre, jedenfalls war die Kriegspropaganda in Westeuropa noch weniger aufdringlich. Weil sich einzelne Beamte der UNO trotz allem für eine diplomatische Beilegung des Konflikts stark machten, konnte man in deutschen und österreichischen Printmedien noch durchaus sachliche und ausgewogene Analysen finden, die Medien arbeiteten noch nicht in diesem Modus der Gleichschaltung wie heute.

So stellte zum Beispiel Michael Schwelien von der „Zeit“ im September 1990 die besorgte Frage: „Heizt das Fernsehen die Golfkrise an, oder ersetzt es einen Krieg?“ Schwelien geißelte die ideologische Nachlässigkeit seiner Berufskollegen von CNN mit gerunzelter Stirne:

„War es richtig, jene beiden Auftritte Saddam Husseins ungeschnitten und unredigiert zu bringen, bei welchen der irakische Diktator die verängstigten Kinder von Geiseln streichelte und für die das Nachrichtenmagazin Newsweek die Kurzformel ,Horrorshow‘ fand? Ist die kontinuierliche Live-Berichterstattung über die Krise am Golf der Diplomatie zu- oder abträglich? Ist es nicht unverantwortlich, dem Tyrannen und seinen Sprechern immer wieder Gelegenheit zu geben, über die Satelliten und die Kabelnetze von CNN der Weltöffentlichkeit seine Propaganda einzuhämmern? Helfen die Medien bei der Suche nach friedlichen Lösungen, oder heizen sie ein? (...) Was empfindet man, wenn man sein Bestes gibt, um einem Diktator und einem Terroristen zu helfen, Propagandaerklärungen zu verbreiten? Wo sind die Grenzen?“ (1)

Insgesamt aber wurden die folgenden Monate von der Öffentlichkeit als spannungsgeladene Periode intensiven Ringens um Frieden wahrgenommen, nicht so sehr als Vorbereitungszeit für einen Krieg.

Unvergessen bleibt mir der 17. Jänner 1991, an welchem der Zweite Golfkrieg gegen den Irak um 3:00 Uhr Ortszeit begann, nachdem US-Präsident George Bush seinen Streitkräften den Befehl zur Operation „Desert Storm“ gegeben hatte. Ausreichend mit bunten Bildern und technischen Daten versehen konnte man das Waffenarsenal der USA in der Morgenausgabe des frisch gegründeten Wiener „Standard“ bewundern, damals ein Blatt für „Intellektuelle“, sodass man glaubte, einen Rüstungskatalog in den Händen zu halten — die Preise standen nicht dabei.

Den Nachmittag dieses Tages verbrachte ich mit meiner damaligen Freundin in einem jüdischen Kaffeehaus in der Wiener Innenstadt, das wir regelmäßig besuchten wegen seiner ruhigen Atmosphäre. Das Lokal war für Stammgäste an dem Tag nicht wiederzuerkennen. Aus einem kleinen Fernsehgerät, das auf dem Ladentisch aufgestellt war, dröhnten die Ansprachen aus Washington, und in ihren Live-Berichten waren die öffentlich-rechtlichen Medien schon ganz auf die Kriegshandlungen eingestellt.

Mit unseren jüdischen Freunden konnten wir uns nicht mehr verständigen, weil sie allesamt den Krieg gegen den Irak befürworteten und dieses auch in erregten Worten zu erkennen gaben. — Am nächsten Morgen sollte Israel mit 39 irakischen Scud-Raketen angegriffen werden. Damit wollte Hussein den Israelis einen Krieg aufzwingen, um die Koalition seiner Gegner zu zerbrechen, weil die arabischen US-Verbündeten niemals gemeinsam mit Israel in den Krieg gezogen wären. — Spätnachts zu Hause verfolgten wir auf verwackelten Fernsehbildern die ersten Luftangriffe des US-Militärs. Man sah grelle Explosionen und brennende Ölfelder. Meine Freundin hatte zu weinen begonnen. In diesen Stunden wurde klar, dass aus den Hoffnungen auf Weltfrieden wohl nichts werden würde. Aber ich möchte diese anderthalb Jahre, in denen wir fest an den Frieden geglaubt hatten, nicht missen.

Die Entstehung des postfaktischen Zeitalters

In einem halben Jahrhundert konnte inzwischen die Realität dermaßen verzerrt und verbogen werden, dass aus John Lennons friedlicher Utopie — „And the world will be as one“ — das marktradikale Eine-Welt-Projekt entstehen konnte, und der Krieg wieder zur Ökonomie des Alltags wurde. Die transatlantische Umwertung der Werte dringt in den letzten Winkel unserer Kulturen. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit werden alle unsere Begriffe in ihr Gegenteil verkehrt. Krieg ist Frieden, und aus kapitalistischen Ausbeutern werden wohltätige Philantropen.

Doch je mehr unbequeme Wahrheiten aus unserem Bewusstsein verdrängt werden, umso größer wird das Unbehagen im kollektiven Unbewussten. Die Manipulation der Massen, die psychologischen Tricks über Jahrzehnte hin konnten nicht ohne psychische Folgen im Volkskörper bleiben.

Psychischer Druck entsteht auch durch den marktradikalen Kahlschlag der Sozialsysteme, durch die Angst vor sozialem Abstieg und Altersarmut und vor dem steigenden Leistungsdruck. Es gäbe kein Burn-Out-Syndrom im heutigen Umfang, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht verschlechtert hätten. Immer weniger Menschen können von ihrem Einkommen leben, während die Forbes-Liste der Milliardäre immer länger wird und zwischen beiden Phänomenen offenbar ein Zusammenhang besteht.

Die menschliche Psyche antwortet darauf mit wilden Verschwörungstheorien und hysterischen Schuldzuweisungen, die aber eine mit Sachkenntnis und Nüchternheit aufgearbeitete Zeitgeschichte verhindern.

Leider füllte sich das Internet nicht mit „Schwarmintelligenz“ sondern mit Emotionen und Paranoia. Die Menschheit neigt zur allgemeinen Irrationalität, zur Realitätsverweigerung und läuft jedem Rattenfänger nach. In Österreich leiden 30 Prozent aller Stellungspflichtigen an relevanten Beeinträchtigungen ihrer Psyche, wie jüngst der Chef des heerespsychologischen Dienstes verlautbarte — obschon: Für gewisse Stabsärzte haben wohl auch harmlose Pazifisten einen Dachschaden.

Zu den Ursachen des Postfaktischen zählt auch die Rolle der (pseudo-)politischen Parteien in allen Farben als bloße Verwalter der marktwirtschaftlichen Realität. Auf die komplexen und dringenden Probleme unserer Zeit stehen immer nur drei Lösungsvorschläge „alternativlos“ zur Auswahl: noch mehr Privatisierung, Steuersenkung — für Reiche — und aggressiver Sozialabbau. Die offensichtliche Zwecklosigkeit demokratischer Wahlen, einen grundlegenden Wandel der Politik herbeizuführen, entlarvt die (wirtschafts-)liberale Fassadendemokratie, in der wir dazu verdammt sind, unerbittlich und beständig Geld aus dem Nichts heranzuschaffen — die einen auf dem Computerbildschirm, die anderen auf der Straße.

Es wird sich hoffentlich bald herumgesprochen haben, dass auch die derzeit so erfolgreichen Rechtsparteien bestens mit den Wirtschaftseliten vernetzt sind und genau die gleichen marktradikalen Wirtschaftsprogramme auf Lager haben wie alle anderen Parteien.

Jedoch ist der sogenannte Rechtspopulismus lediglich die Kehrseite der marktradikalen Medaille — nach Horkheimer: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Wie gut sich der Wirtschaftsliberalismus mit dem Faschismus verträgt, zeigte das Experiment der Pinochet-Diktatur 1973 bis 1989 in Chile, wo die marktradikalen Chicago-Boys unter ihrem Chefökonomen Milton Friedman ihre zynischen Theorien am lebenden Menschen erprobten. Hitler und Mussolini zählten zu den besten Kunden der Wall-Street-Banken —nachzulesen bei Antony C. Sutton, dessen Bücher von Zbigniew Brzeziński in „Between two ages“ empfohlen werden.

Gleichzeitig eignet sich aber die klassische Rassismuskeule trefflich als Kampfmittel, um jedem politischen Gegner und Andersdenkenden aufs Haupt zu schlagen und einen scheinbar moralischen Sieg davonzutragen, der nach Selbstgerechtigkeit stinkt. Damit lenkt man bevorzugt von unliebsamen Fragen oder auch vom eigenen politischen Versagen ab. Der „Kampf gegen Rechts“ wird oft ebenso scheinheilig geführt wie der angebliche „Krieg gegen Terrorismus“ zur Durchsetzung geopolitischer Ziele.

Brzeziński, der rücksichtslose Vordenker des „Amerikanischen Jahrhunderts“ und Kalter Krieger bis zuletzt auf einem mit Blut besudelten Schachbrett, rühmte sich noch Ende der 1990er-Jahre, die Sowjetunion in Afghanistan in die Falle gelockt und zu Fall gebracht zu haben. Die al-Qaida-Kämpfer — Mudschaheddin — rund um Osama bin Laden, die von der CIA in Afghanistan schwer bewaffnet und mit Druckwerken aus den USA indoktriniert worden waren, nannte Brzeziński ein „paar verwirrte Moslems“ (2). Aber auf diesen Haufen von Verwirrten geht das gesamte heutige Terrorismusproblem zurück.

Verschwörungstheoretiker glauben nicht an Zufälle? Wie denn auch, wenn man von PR-Agenturen wie Hill & Knowlton oder der „Atlantik-Brücke“ und dergleichen jahrzehntelang manipuliert wird! Eine gewisse Rolle mag der Zufall in historischen Abläufen schon spielen, aber auf der Grundlage von bloßen Zufällen kann es nun einmal keine sinnstiftende Geschichtsforschung geben.

Das postfaktische Zeitalter haben sich die Mainstream-Medien — und deren Geldgeber — selbst geschaffen, durch die fortwährende Vergewaltigung des kollektiven Unbewussten. Indem sie die Menschen zwangen, ihre realitätsfernen Narrative zu verinnerlichen, an deren logischen Defiziten der gesunde Menschenverstand verzweifelt.

Es geht doch in unserer Wirklichkeit längst nicht mehr um Fakten — sondern allein um die Deutungshoheit.

Zu den Ursachen des Postfaktischen zählt auch eine rein nach marktwirtschaftlichen Interessen ausgerichtete Schulbildung gemäß der Bologna-Reform, die wesentliche Inhalte humanistischer Bildung vernächlässigt und kaum zum selbstständigen Denken ermutigt. Phantasie und Kreativität im Denken und Handeln werden überall abgewürgt. Für alles, was in unserem Leben nicht leistungs- oder gewinnorientiert ausgerichtet ist, oder nicht wenigstens der Selbstoptimierung dient, gibt es heute keine Existenzberechtigung mehr.

An Universitäten wird längst kein Wert mehr auf tiefere Einsichten und höhere Bildung gelegt, die zur bloßen Ausbildung degradiert wird, zu einer Ware, die man den Studierenden in dementsprechend kleinen Portionen weitergibt. Kritik an den herrschenden Lehrmeinungen soll gar nicht erst aufkommen. Pierangelo Maset spricht in diesem Zusammenhang von der „geistigen Gleichschaltung der Lehrenden und Lernenden“ oder einem „Geistessterben“ (3).

Die Unabhängigkeit der Forschung und sogar die Freiheit der Lehre sind durch fortschreitende Privatisierung bedroht. Zunehmend verschwindet die einstmals hochstehende Allgemeinbildung der Menschen — weil es außerhalb der marktradikalen Doktrin keine Fakten mehr geben darf? Zur materiellen Verarmung in unserer Gesellschaft gesellt sich nun auch die geistige. Schon jetzt geht unter Soziologen die Rede von einer „verlorenen Generation“.

Unerwünschte Meinungen und historische Zusammenhänge werden verdrängt. In der Öffentlichkeit ist der uns umgebende Kreis der akzeptierten Meinungen und Fakten in den letzten dreißig Jahren spürbar enger geworden, und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, werden alle die verdrängten Tatsachen und Sachverhalte pauschal als „Verschwörungstheorien“ verächtlich gemacht.

Keine Verschwörungstheorie ist jedoch, dass mächtige Gremien wie der „US-Council on Foreign Relations“ oder der „Round Table of Industrialists“ in Brüssel — die nachweislich einen weit größeren Einfluss auf den Gang der Weltgeschichte oder auf unsere Gesetzgebung ausüben als selbst unsere nationalen Parlamente —, noch ehrgeizige Pläne haben.

Friedrich Merz, der aktuelle Vorsitzende der NATO-unterstützten „Atlantik-Brücke“, führte in einem Vortrag im Jahr 2016 aus:

„Trotz aller Unterschiede bleibt (US)-Amerika die größte Demokratie der Welt.“ (Anmerkung RM: Dies ist übrigens Indien, nicht die USA!) „Und zugleich die einzige verbliebene Weltmacht, die in der Lage ist, an jedem Ort der Welt, mit militärischer Präsenz eine Sicherheitsgarantie auszusprechen. Europa hat die historische Klugheit besessen, das eigene Territorium durch den Nordatlantikvertrag mit Amerika zu verbinden. Europa muss daher erneut die Klugheit aufbringen, zusammen mit Amerika die Welt im 21. Jahrhundert zu gestalten. (...) Eine solche transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (gemeint war TTIP) ist eine, wenn nicht die entscheidende strategische Antwort der Europäer auf die großen Herausforderungen im globalen Wettbewerb“ (4) — er meint damit die Aushebelung von sozialen Standards, Umweltauflagen und Arbeitsrechten, die im Sinne des „Freihandels“ weltweit gegeneinander ausgespielt werden.

Der Mann hat seinen Brzeziński brav auswendig gelernt wie ein Pfarrer seinen Katechismus. Zumal Brzeziński schon vor Jahren der Europäischen Union eine Rolle als Weltmacht in Aussicht gestellt hatte. In diesen stählernen Worten eines eingefleischten Transatlantikers riecht es nach Krieg und Pulverdampf für die Zukunft. Die NATO-Mächte wollen die Welt beherrschen, sie wollen das neue Jahrhundert gestalten und sind keinesfalls bereit, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen.

Man kann heute schon ohne Übertreibung sagen, dass ausgewogene und qualitativ hochstehende Berichterstattung fast nur noch in den vielgeschmähten „alternativen“ Medien zu finden ist. Die Pharisäer und fahrenden Schrotthändler des Mainstreams jammern vom verlorenen „Vertrauen“ der Öffentlichkeit in die Medien. Es geht hierbei nicht um Fehler, die passieren. Wie auch sonst bei Büchern oder wissenschaftlichen Publikationen — es ist alles kritisch zu hinterfragen, selbst in die besten Medienprodukte können sich Fehler einschleichen. Es geht hier um die Glaubwürdigkeit der Medien insgesamt, die durch einen unreflektierten Copy&Paste-Journalismus nicht gerade größer wird. Wie die vollkommene Gleichschaltung der Presse funktioniert, können wir derzeit in der Türkei beobachten, aber auch in unseren Ländern sorgen NATO-Denkfabriken für ähnliche Ergebnisse.

Oswald Spengler schrieb dazu:

„Ohne dass der Leser es merkt, wechselt die Zeitung und damit er selbst den Gebieter. Geld triumphiert auch hier und zwingt die freien Geister in seinen Dienst. Kein Tierbändiger hat seine Meute besser in der Gewalt. (...) Die Presse ist heute eine Armee mit sorgfältig organisierten Waffengattungen, mit Journalisten als Offizieren, Lesern als Soldaten. Aber es ist hier wie in jeder Armee: der Soldat gehorcht blind, die Wechsel in Kriegsziel und Operationsplan vollziehen sich ohne seine Kenntnis“ (5).

Doch unangenehme Wahrheiten lassen sich auf Dauer nicht verdrängen oder totschweigen, weder im Seelenleben des Einzelnen, noch im Kollektivbewusstsein der „Menschheitsfamilie“ (Daniele Ganser). In diesen Zeiten finden immer mehr Menschen den Mut, sich in Schrift und Gedanken der versäumten Aufarbeitung unserer Geschichte zu stellen, und die allzu einfachen Darstellungen der etablierten Medien zu korrigieren. Eine beträchtliche Anzahl von Frauen und Männern, Internet-Bloggern, Journalisten, Buchautoren und Akademikern, sogar SchülerInnen, haben die notwendige Arbeit übernommen, verdrängte historische Wahrheiten und Missstände ans Licht zu bringen, indem sie unermüdlich mittels „alternativer“ Medien aus den Ruinen unserer Postdemokratien berichten.

Ohne eine solche schonungslose Aufarbeitung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse und unserer historischen Versäumnisse brauchen wir nicht ins 21. Jahrhundert hinüberschauen. An dieser Stelle möchte ich etwa die Artikelserie von Peter Frey über „Die wahren Ursachen für die Teilung Koreas“ — im Rubikon veröffentlicht (6) — mit Bewunderung hervorheben. Dort wird Zeitgeschichte quasi in Zeitlupe geboten, die ein größeres Verständnis der Zusammenhänge ermöglicht. Kündigt sich etwa schon die „Gefahr eines weltweiten politischen Erwachens“ an, vor welcher Brzeziński im Jahr 2010 den „Council on Foreign Relations“ noch eindringlich gewarnt hatte?

Der ehemalige NATO-Offizier Ulrich Scholz sagte einmal:

„Wenn wir irgendetwas gelernt haben wollen aus unserer Vergangenheit, dann das: Krieg darf nie ein Mittel der Politik sein“ (7).

Warum laufen solche Interviews nicht im Hauptabendprogramm der Mainstream-Medien, sondern bloß in sogenannten alternativen Medien? Sind wir so tief gesunken, dass man heute als überzeugter Kriegsgegner keine Chancen hat, ins Fernsehen zu kommen? Da kann ich nur den alten Ovid auspacken und der liberalen Spaßgesellschaft zurufen: „Wehret den Anfängen!“

Fahrt fort, ihr mutigen Blogger und Historiker, mit eurer unterminierenden Arbeit, befreien wir die veruntreute Zeitgeschichte aus dem Schutt ihrer Mythen und Entstellungen. Doch halten wir uns an die Tatsachen. — Die Hand soll dem verdorren, der nicht die ganze Wahrheit schreibt!


Quellen und Anmerkungen:

(1) Nachrichten ohne Grenzen. Die Zeit, 21. September 1990.
(2) vergl. dazu Michel Chossudovky „Der inszenierte Terrorismus: Die CIA und Al-Qaida.“
(3) Pierangelo Maset; Geistessterben: Eine Diagnose. Radius-Verlag 2010
(4) Gastreferat Friedrich Merz, Vorsitzender Atlantik-Brücke, "Europa und USA - Je t'aime moi non plus" https://youtu.be/3FjhSFtYhtU
(5) Oswald Spengler. Der Untergang des Abendlandes II, 580 ff.
(6) https://www.rubikon.news/artikel/die-vereinten-nationen-als-kriegspartei
(7) In einem Interview mit Jasmin Kosubek; Der fehlende Part https://youtu.be/Z2JIvvIjIGA.


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