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Das Grundrecht auf Geburtshilfe

Das Grundrecht auf Geburtshilfe

Seit November diskutieren Medien und Politik, was uns eine professionelle Geburtsbegleitung wert ist.

Mit Maske und schwerem Hebammenkoffer geht es in den sechsten Stock eines Altbaus in Stuttgart-West. Es ist der zweite Wochenbettbesuch. Giulia Castellani hat bereits die erste Schwangerschaft der Familie begleitet. Während der Vater das ältere Kind mit Waffelbacken beschäftigt, erkundigt sich die Hebamme nach dem Wohlbefinden von Mutter und Baby. Giulia war bei der Geburt nicht dabei, da die Familie ihr zweites Kind in einer Klinik zur Welt bringen wollte.

Für die Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft und die Wochenbettbetreuung ist die Hebamme zuständig. „Freiberufliche Hebammen beschränken sich oft auf die Vor- und Nachsorge. Hausgeburtshebammen sind in Deutschland eine Seltenheit“, sagt Giulia. Vor fünf Jahren hat sie ihre Ausbildung am Klinikum Stuttgart abgeschlossen. Es folgten zweieinhalb Jahre als angestellte Hebamme in einer Frauenklinik und erste Schritte in die Freiberuflichkeit. Heute ist Giulia Castellani Inhaberin der Partnergesellschaft Hebammenpraxis Freya in Stuttgart. Sie betreut zeitgleich 50 Frauen — von der achten Schwangerschaftswoche bis zum Ende der Stillzeit.

Angestellt versus freiberuflich

„Angestellte Hebammen arbeiten in Kliniken im Schichtsystem“, sagt Giulia. Die Vergütung sei ein Hungerlohn und stehe nicht im Verhältnis zur Verantwortung für zwei Menschen: Mutter und Kind. „Durch den chronischen Hebammenmangel haben Vollzeit-Hebammen in Kliniken nach rund sechs Monaten um die 200 bis 400 Überstunden“, sagt Giulia. „Das hält kaum jemand mehrere Jahre durch, deshalb reduzieren viele Hebammen ihre Tätigkeit im Kreißsaal und arbeiten daneben freiberuflich – entweder allein oder als Teil eines Teams.“ Giulia hat sich für die Partnergesellschaft entschieden, da hier Krankheitsausfälle und Urlaubstage leichter überbrückt werden können.

Der Grund, weshalb freiberufliche Hebammen häufig keine Hausgeburtsbegleitung übernehmen, seien nicht nur die hohen Kosten für die Berufshaftpflichtversicherung. Dafür gäbe es Unterstützung. Es sei vielmehr die Dauerrufbereitschaft. „Die Kinder fragen ja nicht, ob ich gerade Zeit habe, wenn sie auf die Welt kommen“, sagt Giulia. „Ich muss als Hausgeburtshebamme immer bereit sein — das passt mit einem eigenen Familienleben oft nicht zusammen.“ Durch den Hebammenmangel, der in der Covid-Krise noch zugenommen hat, ist die Work-Life-Balance ein großes Thema. Giulia sagt: „Ich habe gelernt, Nein zu sagen.“ Nachdenklich fügt sie aber hinzu, dass dadurch Frauen indirekt gezwungen werden, in der Klinik zu gebären, weil sie keine Betreuungshebamme für eine Hausgeburt finden.

Bei der Stuttgarter Familie wurde es am Ende eine Geburt auf dem Weg zur Klinik. „Da aber die Plazenta erst im Krankenhaus kam, ist es aus juristischer Sicht eine Klinikgeburt“, sagt Giulia. „Ja, und das muss sogar in der Geburtsurkunde nochmal geändert werden“, so die Mutter. Deutsche Bürokratie.

Hausgeburt versus Klinikgeburt

Die Hebamme versteht, warum sich die meisten Frauen für eine Klinikgeburt entscheiden. „Das suggeriert der Schwangeren ein hohes Sicherheitsgefühl. Sie kann ohne intensive Geburtsvorbereitung entbinden und die Krankenkassen übernehmen alle Kosten.“ Nachteil: Die chronische Unterbesetzung ermöglicht nur selten eine Eins-zu-eins-Betreuung. Dadurch komme es häufiger zu Schmerzmittelgabe und medizinischen Eingriffen. „Aus logistischen Gründen werden Geburten zu Lasten der Gebärenden beschleunigt“, sagt Giulia. „Wenn die Spätschicht fünf Frauen in den Wehen hat und weiß, in einer Stunde kommt eine einzige Hebamme für die Nachschicht, dann muss was passieren.“

2021 kamen in Deutschland 96 Prozent aller Kinder in Kliniken zur Welt. Zu viele, findet Giulia. Die Frauen sollten frei und gut informiert entscheiden können, wo sie gebären wollen. Nur für Risikoschwangere komme allein eine Klinikgeburt infrage.

Eine Hausgeburt ermöglicht die selbstbestimmte Entbindung in einem gewohnten Umfeld und mit einer vertrauten Hebamme. „Werdende Mütter, die sich auf eine Hausgeburt vorbereiten, eignen sich detaillierte Kenntnisse über den Geburtsvorgang an und fühlen sich dadurch sicherer“, sagt Giulia. Ein Teil der Rufbereitschaftspauschale muss privat gezahlt werden. Für die Hebamme sei eine Hausgeburt mit höherer Verantwortung verbunden. „Da muss man fit sein“, sagt Giulia.

Die Waffelbäcker schauen kurz aus der Küche. Alles gut, nicken Giulia und die Mutter, das Baby ist eingeschlafen. Den Geburtsablauf und die Details liest Giulia im Geburtsbericht. Eine Checkliste wird abgearbeitet und alles sauber dokumentiert. Ob es um Geburtsverletzungen, Trinkverhalten, Wochenfluss, Nachwehen oder Nabelschnurpflege geht — Giulia ist für alle Fragen da. „Wir Hebammen geraten leicht in Vergessenheit, da wir nur kurz im Leben einer Familie präsent sind“, sagt Giulia „Aber es ist eine prägende Zeit.“

Gute versus schlecht Geburtsbegleitung

Die Geburt eines Kindes ist für jede anwesende Person ein eindrucksvolles Erlebnis. „Die Gebärende macht sich verletzlich und angreifbar. Das bedarf einer sensiblen Betreuung und ist sehr persönlich“, sagt Giulia. Viele Frauen seien sich gar nicht bewusst, wie sehr eine Schwangerschaft das Leben verändert und welch große Verantwortung sie tragen.

„Schwangere brauchen eine gute Beratung, danach aber eine möglichst wertfreie Schwangerschaftsbegleitung. Diese muss individuell auf die Bedürfnisse der Frau und auf die Familie angepasst sein. Vor allem das Sicherheitsbedürfnis der Schwangeren muss bedacht werden“, sagt die Hebamme. Das Geburtserlebnis kann für alle Personen durch Störfaktoren wie unbedachte Wortwahl, Hektik oder veraltete Standards negativ geprägt werden. Das kann zu zwischenmenschlichen Konflikten führen. Der Franzose Michel Odent, Arzt und Autor des Buches Die sanfte Geburt, bringt es auf den Punkt: „Es ist nicht egal, wie wir geboren werden.“ Giulia ist überzeugt, dass die Geburt den späteren Charakter und die Psyche des Kindes beeinflusst.

Nach Gewichtskontrolle mit der Hebewaage und einer kurzen Nabelpflege verabschiedet sich Giulia. Es geht zurück in die Praxis für den nächsten Termin, eine Vorsorgeuntersuchung. Neben einer Tasse Tee ist Zeit für ein kurzes Gespräch über Politik.

Politik versus Realität

Am 20. Oktober 2022 veröffentlichte Gesundheitsminister Karl Lauterbach seine Pflegereform. Im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz würden demnach ab 2025 im Pflegebudget nur noch die Kosten für qualifizierte Pflegekräfte berücksichtigt. Medizinisches Fachpersonal wie Hebammen, Physio- oder Ergotherapeuten müssen von den Krankenhäusern anderweitig finanziert oder die Arbeitsplätze abgeschafft werden. Ulrike Geppert-Orthofer, Präsidentin des deutschen Hebammenverbandes, nahm sofort Stellung: „Das Gesetz hat katastrophale Auswirkungen auf die klinische Geburtshilfe und gefährdet die Versorgung von Frauen und Kindern in bisher ungekanntem Maße.“ Es dürfe auf keinen Fall passieren, dass die Geburtshilfe privatisiert werde. „Es sollte vielmehr ein Grundrecht sein“, sagt Giulia.

In den letzten zwei Jahren hätten viele Kolleginnen den Beruf an den Nagel gehängt, da sie unter den staatlichen Maßnahmen nicht arbeiten konnten oder wollten. Für Hebammen gelten weiterhin Maskenpflicht und Abstandsregelung. „Digitale Wochenbettbetreuung ist nicht möglich. Wir müssen Mutter und Kind direkt anschauen.“ Die derzeitige Situation nennt Giulia dramatisch. Sie vermisst Wertschätzung und Anerkennung ihrer Arbeit. „Das ist ein Schlag ins Gesicht.“ Die Politik vermittelt, dass Hebammen ersetzbar sind. Aber Hebammen haben das Vorrecht bei der Geburtshilfe. Das Hebammengesetzbuch schützt den Beruf, indem gesetzlich vorgeschrieben ist, dass bei jeder Geburt eine Hebamme anwesend sein muss. Seit 2016 gehört die Hebammenkunst zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Die Jura-Studentin und Mutter Michelle Franco startete auf der Online-Plattform Change.org eine Petition, um die Hebammen zurück ins Pflegebudget zu holen. Über 1,6 Millionen Menschen haben bereits unterschrieben. Der Gesundheitsminister ruderte zurück und sichert inzwischen zu, dass Hebammen im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz unter „sonstige Berufsgruppen“ berücksichtigt werden und nicht aus den Pflegebudget fallen. Eine offizielle Mitteilung der Bundesgesundheitsministeriums dazu fehlt allerdings noch. Es wäre ein wichtiger Schritt, aber Giulia wünscht sich Zuschüsse, eine gesetzliche Eins-zu-eins-Betreuung und Klinikstrafen bei schlechten Personalschlüsseln. Auch Physiotherapeuten und andere medizinische Fachkräfte gehören zurück ins Pflegebudget. „Wie soll denn eine Frau nach einem Kaiserschnitt ohne Physiotherapie aufstehen?“

Die Diskussion läuft — die Petition läuft. Und die Arbeit der Hebamme geht weiter. Morgen wird Giulia Castellani noch einmal in den sechsten Stock des Stuttgarter Altbaus steigen. Nachschauen, ob alles gut klappt. Der Familie Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. „Dafür sind wir Hebammen doch da.“


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „‚Geburtshilfe sollte ein Grundrecht sein‘“ bei Freie Akademie für Medien und Journalismus.


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