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Das Monster im Schrank

Das Monster im Schrank

Das Leiden an einem Burnout kann uns den Weg zur Befreiung weisen.

Ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Eine sehr alte Geschichte. Sie ist wohl über zweitausend Jahre alt und wurde schon sehr viele Male erzählt, überall auf dieser Welt. Dennoch war sie stets nur wenigen Personen bekannt. Über viele Jahrhunderte hinweg haben jene, die diese Geschichte kannten, zeitgemäße Worte und Bilder in allen Sprachen der Welt gesucht, um sie den Menschen zu erzählen. Doch nur sehr wenige konnten sie hören und verstehen. Die wenigsten wissen auch heute noch von ihrer Existenz. Weil dies immer wieder so geschah — über all die Jahrhunderte bis heute — stehen wir heute hier, wo wir heute sind.

Deshalb soll diese Geschichte von all den Dingen handeln, an die du jetzt denkst, die du hinterfragst und die dir Sorgen bereiten. Ich möchte deshalb heute erneut versuchen, diese alte Geschichte zu erzählen, mit den Worten unserer Zeit in einer der vielen Sprachen, die wir heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sprechen. Denn ich weiß sehr genau: Es ist die richtige Zeit für diese eine Geschichte, die ich nun hier niederschreibe, denn mir scheint, dass diese Zeitepoche etwas Besonderes an sich hat. So werden jene, die meine Geschichte verstehen können, täglich mehr. Vielleicht gehörst auch du dazu. Also höre mir genau zu! Ich erzähle dir die Geschichte von dem Monster, das wir alle in unserem ganz persönlichen Schrank sitzen haben.

Ein Monster wandelt durch unsere Zeit und begleitet uns. Es ist immer bei uns. Wohin wir auch gehen. Jeden Tag, Stunde um Stunde. Und es begleitet auch dich. Es begleitet auch deine Frau, deine Eltern, deine Kollegen, deine Freunde, sogar deine Kinder. Du magst seine Existenz in diesem Augenblick bestreiten und ich kann diesen Widerstand sehr gut verstehen. Denn viele Jahre lang kann sich dieses Monster äußerst still verhalten, so dass sich die Menschen überall auf der Welt seiner Existenz überhaupt nicht bewusst sind. Um das Monster hören und sehen zu können, benötigt ein Mensch nämlich sehr gute Ohren und Augen, die den meisten Menschen schon viele Jahrhunderte lang fehlen.

Seit einigen Jahren werden vermehrt Geschichten über dieses Monster erzählt. Ich weiß es, denn sie dringen bis zu meinem Haus, mitten in Europa. Tatsächlich bemerken immer mehr Menschen inzwischen, dass es dieses Monster gibt, auch wenn sie es noch nicht sehen oder hören können. Wenn sie jedoch innehalten im ständigen Wettlauf unserer Zeit und das Tempo drosseln — auch auf die Gefahr hin, dass sie von anderen überholt werden — nehmen sie das Monster und sein Versteck manchmal erstmals wahr. Vielleicht handelt es sich nur um Sekundenbruchteile. Doch die genügen. Und je nachdem, wie gewahr sich die Menschen dieses Monsters in diesem kleinen Augenblick werden, werden sie sich auf den Weg machen, um das Monster zu suchen.

Jene, die es erahnen, suchen es jedoch mit großem Interesse und Engagement zunächst bei ihren Mitmenschen. Das ist nämlich viel ungefährlicher. Dabei nähern sie sich aus sehr unterschiedlichen Richtungen. In Europa benutzen sie jene Zugänge, die ihnen ihre beruflichen Tätigkeiten bieten. So sind sie Mediziner, Philosophen, Künstler, Physiker oder sie sind unabhängig von ihrem Beruf einfach nur sensibler oder neugieriger als die meisten anderen Menschen.

Sie geben dem Monster sogar unterschiedliche Namen und bedienen sich dazu des Vokabulars aus dem ihnen vertrauten Sprach- oder Fachgebiet und übernehmen Begriffe aus dem allgemeinen Kulturwortschatz. Manchmal erfinden sie auch neue Wörter, die andere übernehmen, und die sich später als doch nicht passend erweisen, denn Wörter schaffen Beschränkungen. Viele Menschen wissen dies nicht. Weil wir stets in Wörtern denken, hat auch noch kaum jemand das wahre Wesen des Monsters vollständig verstanden.

Und auch ihr beruflicher Blickwinkel setzt ihnen Wahrnehmungsfilter. Diese sind so mächtig, dass es keine Wissenschaft unserer Zeit vermag, das Monster in seiner Ganzheit überhaupt zu beweisen, so wie es auch niemals ein Wort geben kann, das es vollständig erfassen oder beschreiben könnte. Um diese Wahrnehmungseinschränkung überhaupt zu erkennen, muss man über das folgende historische Verständnis verfügen:

Seit der Aufklärung besteht eine wesentliche Aufgabe unserer westlichen Wissenschaften darin, unsere Wahrnehmung und unser Denken nach bestimmten, von unseren Vorfahren erdachten Kriterien einzuschränken.

Hirnphysiologisch bedeutet dies jedoch eine Reduktion auf bestimmte Hirnwellenmuster, welche nur ausgewählte Hirnregionen miteinander vernetzen.

Es bedeutet also ein bewusstes „Abkoppeln“ bestimmter Hirnregionen, die in uns Menschen angelegt, funktionstüchtig und überlebenswichtig sind. Die nicht erwünschten Hirnregionen wurden und werden weniger genutzt, weil der Informationsfluss zwischen bestimmten Regionen beim wissenschaftlichen Arbeiten unterbunden wird. So verrückt und unfassbar dies auch klingt — seit einigen Jahren lässt sich dies inzwischen in der Gehirn- und Hirnwellenforschung messen, optisch sichtbar machen und somit wissenschaftlich-experimentell nachweisen.

Noch feiern wir diese Art, unser Gehirn letztlich eingeschränkt zu benutzen, als bedeutende Errungenschaft unserer Kultur, doch zu Beginn unseres Jahrhunderts sind es nicht mehr nur die Psychologie und die Philosophie, sondern nun auch die Hirnforschung, die Physik und die Biologie, die immer lauter Bedenken an diesem Weg der Erkenntnisgewinnung anmelden.

Sollte sich die Wissenschaft vielleicht bald selbst in Frage stellen? Erleben wir und unsere Kinder, wie unsere Wissenschaften durch ihre eigenen Methoden letztlich ihre eigene Beschränktheit entdecken? Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow — bekannt durch seine Bedürfnispyramide — ist diesen Schritt zum Ende seiner weitreichenden Forschungen bereits gegangen. Er war ein wissenschaftlicher Pionier.

Ab dem Zeitpunkt jedoch, als er seine Bedürfnispyramide um eine weitere Spitze ergänzte, wurden er und seine Entdeckungen wissenschaftlich ignoriert, und zwar bis heute. Die neue Spitze seiner Pyramide taucht in keinem Schulbuch auf. Warum wohl? Er war einen Schritt zu weit gegangen. Er hatte ein Denkverbot überschritten. Er hatte offensichtlich sein Wissenschaftlerhirn zu stark vernetzt. Zu seinen Entdeckungen komme ich an späterer Stelle.

Kehre ich nun jedoch zurück zu jener alten und wahren Geschichte über jenes ganz persönliche Monster, das du schon seit sehr langer Zeit in deinem ganz persönlichen Schrank sitzen hast:

Nahezu alle Menschen des „Abendlandes“ oder — um einen jüngeren Ausdruck zu verwenden — der „westlichen Welt“ besitzen diesen Schrank mit dem Monster darin — und zwar ausnahmslos. Doch die allerwenigsten werden sich dessen bisher irgendwann in ihrem Leben bewusst. Sie nehmen den Schrank mit dem Monster darin ebenso wenig bewusst wahr, wie sie sich über die Anwesenheit eines Organs in ihrem Körper gewahr sind oder sich mit diesem beschäftigen. Dieses Nicht-Gewahrsein vermitteln die Menschen auch ihren Kindern. Und zwar von Anfang an. Seit vielen hundert Jahren.

Um diesen Schrank laufen wir alle stets eifrig herum — im schlimmsten und häufigsten Fall unser ganzes Leben. Mal langsamer, mal schneller, je nachdem, in welcher Lebensphase und in welchem Bewusstseinszustand wir uns gerade befinden. Wir laufen also um diesen Schrank, Und alles, was wir dabei tun, erscheint uns so unglaublich bedeutsam, wichtig und notwendig. Wir tun es, ohne den kleinsten Luftzug eines Zweifels zu verspüren, denn die erwachsene Generation hat uns früh genug in dem Glauben erzogen, dass dieses „das wahre Leben“ ist. Während wir laufen — schneller und schneller — reden wir auch ständig darüber. Und tauschen uns mittels unserer Sprache mit anderen Menschen über all die Tätigkeiten aus, die wir, um den Schrank kreisend, ununterbrochen verrichten. Diese Tätigkeiten bestimmen nahezu unsere gesamte akustische zwischenmenschliche Kommunikation und beherrschen unsere Gedanken.

Allerhand Tätigkeiten kommen dabei im Laufe unseres Lebens zusammen. Und wir sind davon überzeugt, dass unser Leben aus einer Ansammlung all dieser Tätigkeiten besteht. Wir knüpfen daran unsere Identität. Seht her, das bin ich!

Mal räumen, putzen oder fahren wir mit dem Rasenmäher um den unsichtbaren Schrank herum und halten den Rasen schön gleichmäßig und kurz. Warum tun wir dies? Wir sind der festen Überzeugung, das Monster mit diesen Aktivitäten im Schrank halten zu können. Wir kennen es nicht anderes. Wir freuen uns sogar über das Ergebnis, denn schließlich sieht doch alles ganz ordentlich und harmlos aus — von außen!

Während wir so um den Schrank herumlaufen, haben wir heute auch noch unser Handy in der Hand und müssen alles filmen, was uns vor die Nase kommt. Oder wir stolpern auf zu hohen Schuhen um den Schrank herum, auf denen wir nur sehr unbequem laufen können. Manchmal umfahren wir den Schrank mit einem Rennrad, einem superschicken Sportwagen oder sogar einem Kreuzfahrtschiff. Ein andermal müssen wir ganz viele kleine niedliche Blumen im Garten pflanzen. Oder wir streben einen Doktortitel an und hoffen auf eine angesehene, gut bezahlte gesellschaftliche Position. Es gibt sehr viele Praktiken, Gewohnheiten, Rituale, Ziele und Überzeugungen.

Wenn du zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch ein ungewöhnlich empathischer Mensch bist, kann die heimliche Krankheit der Menschen jedoch zu dir durchscheinen. Sie wirken dann seltsam leer und ausdruckslos auf dich. Du siehst sie gefangen in Situationen und Beziehungen, aus denen sie einfach nicht herauskönnen. Sie selbst halten das für normal. Es gilt sogar als normal! Warum also zweifelst du? Wenn du in der Lage bist, dies alles wahrzunehmen, dann wirken viele Menschen seltsam unecht auf dich, wenig lebendig. Du wirst dich fragen: Bin ich eigentlich normal? Zumindest bist Du gesund, auch wenn andere für dich moderne Worte wie „hochsensibel“ oder „psychisch labil“ erfinden oder sogar an deinem Verstand zweifeln. Zweifel du nicht, forsche weiter!

Das „um den Schrank herumlaufen“ kann durchaus viele Jahre lang funktionieren. Bei den meisten Menschen dauert dieser Zustand tatsächlich ihr Leben lang. Es ist der angestrebte, unauffällige, akzeptierte Zustand in unserer Gesellschaft, der das Funktionieren gewährleistet.

Wenn das Leben aber gnädig mit uns ist, kommen wir irgendwann nicht mehr voran auf diese Weise. Wir bemerken den Leerlauf. Der sorgfältig in vielen Jahren gepflegte Rasen vor dem Schrank zeigt sich mit einem Mal als Sumpf aus Sinnlosigkeit. Wir vermuten zunächst eine Art Sinnestäuschung. Diese wird sogar manchmal medizinisch bei uns diagnostiziert und therapiert. Doch sie bleibt, und irgendwann dämmert uns, dass vielleicht doch der grüne Rasen die eigentliche Sinnestäuschung war. In diesem Augenblick bemerken wir plötzlich den Schrank und wir ahnen, dass auch dieser schon immer da war. Diese Erkenntnis erschüttert unser Leben zutiefst.

Nicht selten liegen wir plötzlich sozial, emotional und sogar körperlich am Boden. Die Zeit steht still und wir erkennen zum ersten Mal die Sinnlosigkeit unserer ganzen Rituale, unserer Ziele und Errungenschaften.

Viele Menschen erhalten in diesem Augenblick zum ersten Mal in ihrem Leben den uneingeschränkten Zugang zu all ihren Gefühlen, mit denen sie als menschliche Wesen ausgestattet wurden und die sie bereits als Kinder zu unterdrücken lernten. Es gleicht einem schmerzhaften Aufplatzen und Hervorquellen und ist letztlich ein gesunder Prozess. Die Unterdrückung dessen, was zum Menschsein dazugehört, ist der Preis fürs Funktionieren in unserer Kultur, fürs Geliebt werden, fürs Anerkennung erhalten. Und zwar sowohl in unserer Familie als auch in unserer Gesellschaft.

All jene Tätigkeiten, die uns immer auf Trab halten und von denen wir glauben, dass sie selbstverständlich sind, hindern uns tatsächlich fortlaufend daran, uns richtig kennenzulernen, und zwar mit all unseren Persönlichkeitsanteilen: Den Angenehmen, den Passenden, den Seltsamen, den Verrückten, den Besonderen und den Verbotenen, den Wunderbaren.

Jenen, die wir an uns wir lieben, jenen, die wir verabscheuen und jenen, für die wir uns schämen, aber — die ja letztlich alle zu uns gehören.

Alle Menschen in unserem Umfeld, die noch fleißig um den Schrank herumlaufen und noch nicht erfahren haben und wissen, was dieser Augenblick im Leben eines Menschen bedeutet, bezeichnen diesen Lebensabschnitt als Lebenskrise, Burnout oder wie auch immer. Sie beschreiben unser Erleben als krankhaft. Wenige verstehen diese „Krankheit“ als eine Form der Sichtbarwerdung der biografischen Verletzungen eines Menschen. Sie wissen einfach nicht, dass all diese Krankheits-Bezeichnungen diesem Augenblick im Leben eines Menschen bei weitem nicht gerecht werden, ihn sogar über ein mittransportiertes Werturteil verfälschen.

Die wissenschaftlichen Fachleute unserer Gesellschaft, die sofort zur Stelle sind, können es leider nicht besser wissen, denn auch sie besitzen einen unsichtbaren Schrank und ihr eigenes unsichtbares Monster. Aufgrund ihrer Wahrnehmungsfilter meinen sie dann, irgendetwas reparieren zu müssen im Sinne von operieren oder therapieren, damit dieser Mensch anschließend wieder funktioniert.

All diese Konzepte, Denkmuster und Bewertungen, ja selbst die Definition von „krank“ und „gesund“ werden niemals hinterfragt — noch nicht —, denn sie werden ja nach wissenschaftlichen Kriterien definiert. Und wir erinnern uns: Nach Kriterien, die sich Menschen erdacht haben, während sie im Gehirn ihre menschliche Wahrnehmung durch bewusstes Unterdrücken bestimmter Gehirnfähigkeiten eingeschränkt haben.

In unserem Kulturkreis machen sich zum Glück seit einigen Jahren Menschen mit wissenschaftsübergreifender Perspektive ernsthaft und hartnäckig auf die Suche nach den folgenschweren Fehlern in unserem wissenschaftlichen Denken. Dazu gehören wenige Philosophen, Physiker, Historiker, Psychologen und Religionswissenschaftler.

Westlich geprägte Menschen mit Denkerhirnen und pausenlosem Wort-Gedankenrasen im Kopf führt in der Regel nur intensive, wissenschaftliche Recherche oder eine Entdeckungsreise im Innen und Außen irgendwann auf die richtige Spur. Dieser Weg ist zeitaufwändig, mühsam und häufig schmerzhaft. Er fordert, vertraute Wege, die eigenen Denkstrukturen und das eigene Selbstbild grundlegend in Frage zu stellen.

Doch zurück zur Geschichte:

Wenn uns diese Lebenskrise erfasst hat, ist es klug, einfach mal stehenzubleiben, den Rasenmäher auszuschalten — überhaupt den ganzen Krach, damit das Gedröhne im Kopf aufhört —, den ganzen Mut zusammenzunehmen und die Schranktüren einmal ganz weit zu öffnen und endlich zu schauen, was für ein Monster eigentlich in unserem Schrank sitzt. Denn wenn unser Schrank endlich offen ist, haben wir die einmalige Chance, uns das Monster mal ganz genau anzuschauen — im Detail — ohne zu zwinkern und wegzulaufen.

Das Monster besteht aus Denkverboten, unterdrückten Gefühlen, aus Einschränkungen unserer Entscheidungsfreiheit, aus Abwertungen, aber auch aus gut gemeinten Ratschlägen, aus Lob und Tadel gleichermaßen. Es enthält seelische und kulturelle Mauern, die wir gezwungen waren, um uns herum zu errichten, weil wir schon als Kinder keine Wahl hatten. Es enthält viele Irrwege, schmerzhafte Verluste und letztlich unsere Hilflosigkeit und Verzweiflung gegenüber all diesen Entbehrungen, die wir mit uns durch unser Leben schleppen — tief in uns versteckt. Das Monster enthält den erlittenen Schmerz und die erlernte Angst unserer eigenen, ganz persönlichen Geschichte.

Das Monster eines jeden Menschen ist letztlich das Resultat unserer Domestizierung in einer Gesellschaft, die das Lebendige, Unbeständige, Intuitive, Variable, Verletzliche und Sterbliche im Menschen als störend erachtet, die es zähmt und unterdrückt, um unser Funktionieren in einer Angst- und Sicherheitsgesellschaft zu gewährleisten.

Wenn wir das Monster sehr genau betrachtet und gefühlt haben und seinen Bauplan verstanden haben, fühlen wir uns auf einmal etwas freier. Das Wunderbare daran ist: Wir fühlen diese Freiheit nicht nur im Körper und in der Seele — wir können, wenn wir wieder die Kraft und das Vertrauen ins Leben entwickeln, tatsächlich endlich frei werden, vielleicht zum ersten Mal in diesem Leben!

Frei von begrenzten Denkstrukturen, von Bewertungen, von Aussagen anderer, die uns gesagt haben, wer wir sind und wie wir zu sein haben und die uns natürlich gerne weiter so sehen möchten, wie wir waren — aus ihrem eigenen kleinen Blickwinkel heraus. Wir werden frei von Lob und Tadel anderer Menschen, die letztlich weitergeben, was sie selbst gelernt und gelehrt bekommen haben.

Wir müssen wissen: Sie alle, die jetzt nicht mit uns klarkommen und uns bedauern, uns für krank, verrückt, seltsam halten, hatten und haben ja immer noch ein Monster im Schrank und sind jetzt vielleicht ganz schlechte Ratgeber, wenn unsere Türen erst einmal offen sind.

Wenn das Monster dann endlich klein und gleichzeitig sehr gewaltig in der Ecke sitzt und uns jeder Fuß, jede Kralle, jedes Haar, jede Faser bekannt und vertraut vorkommt und wir uns mit ihm nicht mehr identifizieren, hat es plötzlich, ohne dass wir den Wandel bemerkt hätten, den Schrecken verloren. Vielleicht tut es uns sogar leid. Unglaublich! Was machen wir denn jetzt?

Wir lassen es dort einfach gnädig sitzen. Es hat dort seinen Platz, denn es ist ja ein Teil von uns. Aber eben nur ein ganz kleiner, ein vergangener! Es ist einfach eine Geschichte! Wir können unabhängig davon leben. Wir können im Laufe der Zeit den geöffneten Schrank und unseren alten Weg sogar ganz verlassen. Dahin gibt es Wege. Menschen sind sie zu allen Zeiten vor uns gegangen.

Doch eine Kehrseite hat diese neue persönliche Freiheit:

Die Menschen in unserem Umfeld — in unserer Familie, im Freundeskreis, im beruflichen Umfeld — die selbst nach wie vor um ihren Schrank herumlaufen, werden nun mit uns nicht mehr so gut klarkommen, wenn unser Schrank geöffnet ist. Sie werden denken, wir seien krank. Vielleicht bedauern sie uns sogar, weil wir bei den Rasenmäher-Geschichten nicht mehr mitreden können und nicht mehr über Rückenschmerzen klagen.

Der hinter vorgehaltener Hand getuschelte Satz „Der oder die hat ja auch einiges hinter sich …“ lässt uns milde schmunzeln, sehen wir doch den immer noch geschlossenen Schrank, der hinter ihnen steht. Wir werden auf Widerstände stoßen, sollten wir versuchen, sie darauf hinzuweisen! Sie werden uns nicht verstehen wollen. Aber ist das wirklich ein Verlust?

Ab nun wird es unabwendbar sein, sich neu zu orientieren und stets allen Menschen, denen wir ab jetzt begegnen, sehr vorsichtig über die Schulter zu schauen.

Wenn ihr Schrank ebenfalls offensteht, kannst du vertrauensvoll bei ihnen einkehren. Sie werden mit dir keine Rasenmäher-Gespräche führen. Sie werden dir zuhören, mit dir lachen und mit dir weinen, dir Geschichten erzählen und für dich Zeit haben. Und dann wirst Du verstehen, dass das Monster ein unglaublich schönes Geschenk im Gepäck hatte: Alle Gefühle, mit denen du als Mensch ausgestattet wurdest, die dich reich und vollständig machen und die du mit anderen teilen kannst.

Was nach dem Blick in den Schrank auf das Monster geschehen kann, ist die Heilung von den biografischen Wunden, die unsere Seele in jeder Familie in unserer Gesellschaft erfährt. Niemand ist frei davon. Es ist sogar so: Je besser jemand in unserer Gesellschaft funktioniert, desto größer sind häufig sogar seine Verletzungen.

Daher füllen sich die Psychiatrischen Krankenhäuser seit einigen Jahren zunehmend mit den in unserer Gesellschaft erfolgreichen Menschen.

Der Bick in den Schrank und auf das Monster kann jedoch viel mehr sein: Ich möchte versuchen, davon zu erzählen, obwohl in unserer Kultursprache keine Wörter dafür existieren. Das Öffnen des Schrankes ist eigentlich keine Erkrankung und keine Schwäche, sondern eine einmalige Chance im Leben eines Menschen und ein unglaubliches Geschenk. Es ist der Weg der Gesundung aus einer kollektiven Krankheit heraus. Es ist der Weg ins Leben.

Die in unserer Kultur ausschließlich historisch-religiös geprägten Wörter „Auferstehen“ „Erwachen“ oder „Sehend werden“ deuten auf den Entwicklungsprozess eines Menschen, während dessen er seine kulturelle und biografische Fassade, sein falsches Ich, seine Konditionierung, letztlich das Monster mit all seinen Speicherungen erkennt. Es können Wege begangen werden, sich davon seelisch vollständig abzulösen und auf einem langen Weg zu entdecken, was unter dieser Scheinidentität eines jeden Egos eigentlich existiert.

Wir werden diesen Weg für alle Menschen im 21. Jahrhundert frei machen müssen, wenn wir noch größeres Leid verhindern wollen. Das Wissen um diesen Weg wurde allerdings um 400 nach Christi unserer Zeitrechnung in Europa verboten. Dieses menschenverachtende Verbot, das am Ende der Konzile von Konstantinopel seinen Anfang nahm, haben unsere Vorfahren nachfolgend versucht, auf dem gesamten Globus durchzusetzen. Vielerorts hatten sie Erfolg. Denn das Ziel einer jeden hierarchisch gegliederten Gesellschaft und Kultur war schon immer, die Menschen von Beginn ihres Lebens an mit einer Kulturschale zu verdecken, bis das Lebendige, Unberechenbare, Sich Verändernde, Fließende nicht mehr sichtbar und fühlbar ist, bis der einzelne Mensch von der Existenz einer natürlichen, lebenserhaltenden Steuerung in seinem Wesen gar nichts mehr weiß.

In unseren Gehirnen hat sich dieser Verlust über Jahrhunderte manifestiert und materialisiert. Er hat unsere Wahrnehmung getrübt und den umfassenden Zugang zu unseren Gefühlen blockiert. Daher existiert dieser befreiende Weg oder die Möglichkeit dieser Entwicklung außerhalb unseres westlichen Wissens und Glaubens und ist leider auch in unserer — unter diesen Voraussetzungen entstandenen — Kultursprache äußerst schwer zu vermitteln. Wie viele vor mir möchte ich es trotzdem an dieser Stelle versuchen:

Im 21. Jahrhundert werden und müssen wir entdecken, dass wir diesen Prozess zu weit getrieben haben. Einer der intelligentesten Historiker unserer Zeit, Yuval Noah Harari, bestätigt in seinem Hauptwerk „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“, das seine vorangegangenen Werke übrigens weitgehend übertrifft, Folgendes:

Der „Homo sapiens“ wird nur dann auf diesem Planeten weiter existieren, wenn wir die Regeln der Evolution einhalten, wenn wir wieder fließen und alles Starre und jede Kontrolle unseres Lebens aufgeben.

Damit entlarvt er den technischen Menschen, den er in „Homo deus“ beschreibt und den Richard David Precht in „Jäger, Hüter, Kritiker“ in eine Zukunftsvision zu integrieren versucht, als freiwilligen und blinden Weg in den Tod.

Welcher Weg führt uns also aus dieser Sackgasse?

Wir werden das divergente Denken ohne Einschränkungen erlauben müssen, und dies bedeutet ein Denken, das sich nicht an wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Zwecken orientiert, und zwar in jedem Bereich unserer Gesellschaft. Daraus folgt in letzter Konsequenz ein Ende der Überbewertung des heutigen wissenschaftlichen und zweckorientierten Denkens, das (hirnphysiologisch inzwischen erwiesen) widernatürlich und beschränkt ist, und damit einhergehend ein Ende unseres Fortschrittsglaubens.

Stephen Hawkins war einer der weitblickenden Wissenschaftler, welche die Notwendigkeit eines bewussten geistigen Rückweges anmahnen, als er kurz vor seinem Ableben äußerte, das Überleben der Menschen werde davon abhängen, inwieweit sie in der Lage seien, Empathievermögen zu entwickeln.

Doch Empathie ist tatsächlich nur der Anfang des Weges, denn zeitgeschichtlich noch viel weiter zurück liegt der Verlust einer ganz anderen menschlichen Fähigkeit. Der nächste Schritt, der folgen muss, ist die Wiederentdeckung der Intuition als stärkster lebensspendender Kraft, als der wichtigsten aller menschlichen Fähigkeiten, zur Vermeidung des allergrößten Leids, das uns und unsere Kinder ohne diese natürliche Steuerung unseres Lebens erwartet. Langsam — viel zu langsam — treten wir den Rückweg aus einer geistigen und organischen Sackgasse an.

Denn übergeben wir den Algorithmen die Steuerung unseres Lebens, technisieren wir unser Leben weiter wie bisher, stellen wir uns letztlich gegen die Evolution, die einst vor dem Denken die Fähigkeit zur Empathie und Intuition in unserem Gehirn entstehen ließ. Es ist Zeit, unser Denken zu beaufsichtigen und es der Empathie und der Intuition unterzuordnen und endlich zu verstehen, dass unser Gehirn über Fähigkeiten verfügt, die das Leben auf diesem Planeten Jahrmillionen gelenkt haben. Empathie und Intuition begannen unsere Vorfahren zu unterdrücken, als sie Kolonien überall auf der Welt bildeten und Hierarchien errichteten. Exakt damit infizieren die Menschen seit Jahrhunderten alles Lebendige auf unserem Planeten und exakt daran erkranken die Menschen heute psychisch und körperlich in einem Ausmaß, das uns dringend den Rückweg antreten lassen sollte.

Die Intuition existiert länger als jedes akustische Wort und hat viele Namen: Manchmal heißt sie Innerer Kompass, manchmal Lebensenergie. Seit es auf unserem Planeten menschliche Gesellschaften und Kulturen gibt, sind viele Religionskulte und Namen um diese innere Kraft entstanden, denn sie lässt die Lebewesen auf diesem Planeten überleben, seit es Lebewesen gibt. Als Nachfahren der Kolonialmächte wissen wir allerdings nicht annähernd, welche menschliche Fähigkeit sich hinter diesem in unserer Kultur missbrauchten Wort verbirgt. Denn dieser „Sinn“ ist bei uns verkümmert.

Woher die lenkende Kraft der Intuition kommt, werden wir Menschen mit unserem derzeit prozentual gering genutzten Gehirn wohl nicht durch unser derzeitiges wissenschaftliches Denken entdecken und beweisen. Erwarten wir also einfach nicht zu viel in unserer Zeit! Uns bleibt ohnehin nicht die Zeit, auf ein wissenschaftliches Forschungsergebnis zu warten.

Auf dem Weg, der vor uns liegt, werden wir uns mit der Ursache unserer Lebensangst beschäftigen müssen, die mit unserem niedrigen Bewusstseinszustand zusammenhängt. Außerdem werden wir uns der Frage stellen müssen, wer eigentlich seit Jahrhunderten immer wieder einen Nutzen aus der Wahrnehmungsbeschränkung der meisten Menschen zieht und diese — für uns unsichtbar — stabilisiert und weiter ausbaut. Wir werden dabei auf Menschen hören müssen, deren Hirnentwicklung weniger durch wissenschaftliche oder hierarchische Strukturen geprägt wurde. Sie kennen die Wahrheit über das Leben und die Wurzel unserer Angst.

Wer dies verstanden hat, versteht auch, warum der „Homo sapiens“ gehen muss. Wissenschaftlich denkende Menschen und jene Menschen, die sich in den Hierarchien unserer Kultur im Laufe ihres Lebens eingerichtet haben, werden sich vehement gegen diesen Weg stellen. Jene, die ihnen vorangingen, haben es schon immer getan, mit jeder Form von Gewalt. Denn dieser Weg bedeutet eine komplette „Umkehr der Werte“, wie sie schon Nietzsche forderte. Aber was bedeutet das eigentlich? Es bedeutet für viele Menschen unserer Kultur etwas Unfassbares und zutiefst Kränkendes:

Gesellschaftlicher Status und wissenschaftlicher Erfolg werden zum geistigen Armutszeugnis, zum Symptom eines minimalistisch vernetzten Gehirns und zum äußeren Zeichen mangelnder Sinneswahrnehmung.

Die Gesundung des Lebens auf dem Planeten erfordert daher eine massive Kränkung und ein Infragestellen der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Spitzen unserer Kultur, deren Gehirne den Umbau in der erforderlichen Zeit nicht werden leisten können.

Die Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten wird von außen diesen überfälligen Umsturz in unseren Gehirnen erzwingen. Das ist die Wahrheit. Das ist der Weg des Lebens, der Evolution.

Abraham Maslow entdeckte mittels der zunehmenden Vernetzung seines eigenen Gehirns und der daraus resultierenden erweiterten Wahrnehmung die Begrenztheit des wissenschaftlichen Wissens „im Angesicht des unendlichen Nichtwissens“ Er entlarvte sein eigenes Fachgebiet — die Psychologie - als eines, das keine Antworten hat, sondern mit den Fragen kämpfe. Die oberste Spitze seiner Pyramide beschreibt das, was nach der Persönlichkeitsentwicklung, der höchsten für ein menschliches Ego erreichbaren Stufe, folgen sollte, um zu einem vollständigen Menschen zu reifen: Die Transzendenz (nachzulesen in A. Maslow: Jeder Mensch ist ein Mystiker. Peter Hammer Verlag 2014).

Transzendente Wahrnehmung ist jedoch weder durch Wissenserwerb oder Einsicht, sondern nur durch Erfahrung, Wahrnehmungstraining und Gehirnentwicklung zu erreichen. Sie braucht sehr viel Zeit. Sie bringt eine vollkommen andere Wahrnehmung der Realität mit sich, die dem wissenschaflichen Gehirn fremd ist. Dennoch ist es nicht unmöglich, sie zu erlangen. Dies kann jeder bestätigen, der sich aus dem wissenschaftlichen Denken „emporgekämpft hat“, ich eingeschlossen.

Maslow empfahl dringend, diesen Weg zu gehen. Er erkannte darin die Chance zur Gesundung der Menschen und zur Regeneration unseres Planeten Erde.

Um also Antworten auf die wichtigsten Fragen unserer Zeit zu finden und unsere Kinder ins wahre Leben zu begleiten, müssen wir weise Ratgeber abseits der heutigen Hierarchien suchen und auch abseits des heutigen wissenschaftlichen Denkens. In den Nischen unserer Gesellschaft sind sie und waren sie stets vorhanden. Vielleicht gelingt es uns.

Wenn du mir bis hierher mit deinem Herzen folgen konntest, hast du bereits selbst deine Schranktüren geöffnet und dein Monster entdeckt. Oder du beginnst vielleicht in diesem Augenblick, vorsichtig hinter die Türen zu schauen.

Wenn du dich verantwortlich fühlst für die nächste Generation, stellt sich dir früher oder später unvermeidbar die folgende Frage: „Was gebe ich meinen Kindern mit auf den Weg, wenn sie mich fragen, wie sie es schaffen, von Anfang an mit weniger Leid und mehr Sinnhaftigkeit durchs Leben zu gehen?“

Meinen Kindern gebe ich Folgendes mit auf den Weg:

„Reist als Wandler zwischen den Welten, mit möglichst wenig Gepäck.
Fühlt, wenn euer Rucksack zu schwer wird und entledigt euch der Dinge, die nicht mehr zu euch passen — ein Leben lang.
Schämt euch niemals für das, was ihr seid und wie ihr seid.
Ihr seid genau richtig, solange Leben in euch ist!
Das Leben ist Veränderung und Exploration,
vom ersten Tag eurer Geburt an.
Seid neugierig!
Versteht jede Form von Kultur als eine Spielmöglichkeit!
Verliert euch niemals in einem dieser Spiele!
Lernt zu verstehen, dass ihr sowohl Spieler als auch Spielfigur seid!
Glaubt daher nur, was ihr selbst als wahr erkannt habt
und bleibt offen und wach.
Wisst immer: Was für euch richtig ist, kann euch niemand sagen.
Doch es gibt in jedem Augenblick eures Lebens eine Stimme in euch, die euch lenkt. Manchmal richtet sie sich an euch mit Worten, denn unser Gehirn ist lange schon gewohnt, auf Worte zu hören. Manchmal sitzt die Stimme jedoch auch im Bauch, oder sogar an ganz anderen Stellen.
Sie ist nicht berechenbar. Sie kommuniziert energetisch.
Sie bewohnt jede Zelle eures menschlichen Körpers.
Wenn ihr dies beachtet, findet ihr überall und immer wieder eine Heimat und sicheren Boden.

Dies alles ist nur eine Momentaufnahme und es ist meine augenblickliche Sicht der Dinge. Vielleicht findet Ihr Kinder irgendwann andere Worte oder eine neue und für euch noch besser passende Antwort als die, die ich euch hier gebe.
Vielleicht kenne auch ich schon morgen eine neue Antwort.
Denn auch ich bin nur auf der Reise.“


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