Wie behalte ich recht, obwohl ich im Unrecht bin?
Bereits circa 1830 beschreibt Arthur Schopenhauer in seinem Werk „Die Kunst, Recht zu behalten“ (1) verschiedene Techniken, die er als „Eritristische Dialektik“ bezeichnet. Vereinfacht gesagt handelt es sich hierbei um eine Form der Rhetorik, die es über sogenannte „Kunstgriffe“ ermöglicht, recht zu behalten — selbst wenn derjenige, der eine These aufstellt, eigentlich im Unrecht ist.
Covid-19 und die Kunst, recht zu behalten
Es lässt sich beobachten, dass eine Vielzahl dieser Kunstgriffe in Bezug auf Covid-19 von Politikern, Wissenschaftlern, aber auch anderen Machthabern sowie den Medien angewandt werden. Was ist der Grund dafür? Sollen hierüber anderslautende Auffassungen und Erkenntnisse ins Unrecht gesetzt werden, um sich inhaltlich nicht mit ihnen befassen zu müssen? Oder verbirgt sich dahinter eine andere Motivation?
Eine Antwort auf diese Fragen läge im Bereich der Spekulation. Doch selbst aus einer rein beschreibenden Perspektive ist die Schlussfolgerung zulässig, dass aufgrund der breiten Anwendung dieser Kunstgriffe durch hochrangige Personen des öffentlichen Lebens zumindest keine differenzierte Befassung mit Covid-19 stattfindet. Und dass hierüber nicht zuletzt auch der gesellschaftliche Wert der Vielfalt bedroht wird.
Persönlichwerden
„Wenn man merkt, daß der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird, so werde man persönlich, beleidigend, grob. Das Persönlichwerden besteht darin, daß man von dem Gegenstand des Streites (weil man da verlorenes Spiel hat) abgeht auf den Streitenden und seine Person irgendwie angreift (…). Beim Persönlichwerden aber verläßt man den Gegenstand ganz, und richtet seinen Angriff auf die Person des Gegners: man wird also kränkend, hämisch, beleidigend, grob“ (2).
Diese Technik, die Schopenhauer als sogenannten „letzten Kunstgriff“ beschreibt, findet sich immer wieder nicht nur in der direkten Konfrontation zwischen zwei Individuen, sondern auch im großen Stil in gesellschaftlichen Kontroversen. Als besonders fragwürdig kann sie betrachtet werden, wenn sie aufseiten von Mehrheiten oder Obrigkeiten dazu dient, andersartige Anschauungen zu unterdrücken. In solchen Fällen werden gegenüber Minderheiten, die abweichende Auffassungen vertreten, abfällige oder sogar beleidigende Titulierungen eingesetzt. Gleichzeitig wird nicht auf die inhaltlichen Standpunkte dieser Personen eingegangen und eine thematische Befassung damit vermieden.
Im Zusammenhang mit Covid-19 bezeichnen vergleichsweise hohe politische Amtsträger wiederholt Menschen, die gegen die Anordnungen der Regierung demonstrieren, als „Corona-Leugner“ oder manchmal sogar als „Covidioten“. Eine sachliche Beschäftigung mit dem Gegenstand der Proteste findet nicht statt. Stattdessen werden diese Titulierungen von den breiten Medien aufgegriffen und somit untermauert, dass ein inhaltlicher Dialog nicht erwünscht scheint. Darüber hinaus ist die Richtigkeit der Bezeichnung als „Corona-Leugner“ zu hinterfragen.
Befasst man sich eingehender mit den Teilnehmern einer Demonstration, so stellt man fest, dass die Mehrzahl der Demonstranten nicht die Existenz des SARS-CoV-2 Virus leugnet. Es geht ihnen vielmehr um eine differenzierte Betrachtung der Maßnahmen und eine sorgfältige Erwägung der Verhältnismäßigkeit dieser — also die Abwägung von Fürsorge versus Freiheit.
Anstelle dieses Diskurses wird jedoch in der Öffentlichkeit wiederholt Schopenhauers letzter Kunstgriff des Persönlichwerdens angewandt — also der inhaltliche Gegenstand verlassen und stattdessen die Person des Gegners angegriffen über hämische oder beleidigende Bezeichnungen. Schopenhauer hat dies nicht zufällig als „letzten Kunstgriff“ in seinem Werk aufgeführt.
Das Persönlichwerden ist das letzte Mittel, zu dem jemand greift, der sich in einer Debatte sowohl inhaltlich als auch rhetorisch unterlegen fühlt.
Welchen Grund gibt es, dass dieses letzte Mittel im Kontext von Covid-19 so häufig Anwendung findet? Wäre es nicht eigentlich die Pflicht der Politik und Medien, eine breite sachliche Auseinandersetzung voranzutreiben, statt über die Ausgrenzung abweichender Positionen andere zu diskreditieren? Und gäbe es überhaupt die aktuelle Form der vermeintlichen Mehrheit aufseiten der Fürsorge, wenn eine ausgewogene Berichterstattung erfolgen würde?
Diffamierungen
Über das Persönlichwerden nach dem „letzten Kunstgriff“ Schopenhauers hinaus hat die Titulierung von Menschen mit anderer Haltung als sogenannte „Covidioten“ durch Machthaber und Medien noch eine weitere Dimension. Sie dient dazu, diese Individuen abzuwerten und nach Schopenhauer gemäß Kunstgriff 12 ein „ … Gleichnis gleich so (zu) wählen, daß es unsrer Behauptung günstig ist“ (3).
Ein Beispiel, das er hierfür in seinem Werk anführt, bezieht sich auf evangelische Christen: „Der Name Protestanten ist von diesen gewählt, auch der Name Evangelische: der Name Ketzer aber von den Katholiken“ (4).
Die Bezeichnung als „Covidioten“ ist aufseiten der Obrigkeiten insofern günstig gewählt, als sie impliziert, dass diese Menschen nicht zurechnungsfähig seien oder intellektuell nicht in der Lage, die Situation zu beurteilen. Dies begünstigt wiederum die Behauptung, dass eine tiefere Befassung mit ihrer Position nicht zielführend sei.
Konsequenzmacherei
Weiterhin sind die genannten Diffamierungen als „Corona-Leugner“ oder „Covidioten“ geeignet als Exempel für „Konsequenzmacherei“ in Schopenhauers Kunstgriff 24:
„Man erzwingt aus dem Satz des Gegners durch falsche Forderungen und Verdrehung der Begriffe Sätze, die nicht darin liegen und gar nicht die Meinung des Gegners sind, hingegen absurd oder gefährlich sind …“ (5).
Wie bereits festgestellt, leugnet eine Vielzahl der Maßnahmenkritiker nicht die Existenz des SARS-CoV-2 Erregers oder der Covid D-19 Erkrankung. Sie jedoch generell als „Corona-Leugner“ zu bezeichnen unterstellt, dass sie alle grundsätzlich das Vorkommen des Virus oder der Krankheit anzweifeln und nicht zugänglich für einen offenen Austausch sind.
Dies macht es erneut leicht, den Dialog mit ihnen zu unterbinden und sich nicht weiter inhaltlich mit ihren Forderungen auseinandersetzen zu müssen. Hat man außerdem noch das Ziel, die Bevölkerung über die Induzierung von Angst zu beeinflussen, dann wäre die Haltung angeblicher Leugner dieses als Pandemie bezeichneten Geschehens noch leichter als „absurd oder gefährlich“ hinzustellen, wie von Schopenhauer in Kunstgriff 24 angeführt.
Warum geschieht dies in solch einer Breite und Nachhaltigkeit? Was ist der Grund dafür, dass sich nicht inhaltlich und im Diskurs mit unterschiedlichen Perspektiven zu den Covid-19 Maßnahmen auseinandergesetzt wird?
Die Strategie der Bundesregierung
Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sich aus dem Strategiepapier des Bundesinnenministeriums (BMI) von April 2020 ableiten lassen. Darin heißt es beispielsweise:
„Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden: (…) Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, zum Beispiel bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie zum Beispiel vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann“ (6).
Das Bundesinnenministerium kommt in diesem Strategiepapier zu dem Schluss, dass man der Allgemeinheit permanent das sogenannte Worst-Case-Szenario, also die schlimmstmöglich anzunehmenden Auswirkungen des Virus, vor Augen halten müsse.
Spaltung der Gesellschaft
Hat man demzufolge bewusst die genannte „gewünschte Schockwirkung erzielt“ und damit einem Großteil der Bevölkerung Angst eingeflößt, so müsste schlussendlich auch die Haltung von Maßnahmenkritikern über die Bezeichnung dieser als Leugner des Erregers als „absurd oder gefährlich“ dargestellt werden. Dies rechtfertigt dann in der Konsequenz auch Zwangsmaßnahmen der Regierung oder Behörden wie verschärfte Kontrollen bis in den privaten Bereich hinein, das Verhängen von hohen Strafen und auch Gewalttätigkeit von Polizei und Ordnungskräften gegenüber friedlichen Demonstranten.
Darüber hinaus lässt es zu, eine Kultur des Denunziantentums aktiv zu etablieren.
Verschiedene deutsche Städte haben eigens ein Formular auf ihrer Homepage veröffentlicht, mit dessen Hilfe Nachbarn gemeldet werden können, die gegebenenfalls in ihren privaten Räumlichkeiten gegen die Covid-19-Auflagen verstoßen.
Hierdurch kann der Eindruck entstehen, dass eine bewusste Spaltung der Gesellschaft in Maßnahmenbefürworter und -gegner gezielt gefördert wird und dass eine Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung dazu dienen soll, diesen möglichst klein zu halten und es anderen zu erschweren, sich ihm anzuschließen.
Verhasste Kategorien und Diversion
Mit den Techniken des Persönlichwerdens und der Konsequenzmacherei eng verwandt und von Regierung, Medien und Personen des öffentlichen Lebens im Zusammenhang mit Covid-19 in ähnlicher Form eingesetzt wird Schopenhauers Kunstgriff 32:
„Eine uns entgegenstehende Behauptung des Gegners können wir auf eine kurze Weise dadurch beseitigen oder wenigstens verdächtig machen, daß wir sie unter eine verhaßte Kategorie bringen, wenn sie auch nur durch eine Ähnlichkeit oder sonst lose mit ihr zusammenhängt …“ (7).
Dies geschieht im Rahmen von Covid-19 regelmäßig dadurch, dass diejenigen, die nicht mit den Maßnahmen konform gehen, unter eine beliebige und „verhasste“ Kategorie des Extremismus oder Radikalismus gestellt werden: indem sie vergleichsweise als Rechtsextreme, Reichsbürger oder Rechtsradikale bezeichnet werden. Auf wie viele Teilnehmer einer Kundgebung oder anderer Protestbewegungen trifft dies jedoch tatsächlich zu? Legt man die Berichterstattung und Bilder der Massenmedien zugrunde, so scheint dies ein hoher Anteil zu sein.
Schaut man sich in den sogenannten „alternativen Medien“ einen Live-Stream einer großen Demonstration in Echtzeit an, wirkt es eher so, als ob die Mehrheit aus dem bürgerlichen Spektrum stammt ohne weitere politische oder anderweitig geartete Ideologie. Sofern sich hierunter Bürger mit extremen Positionen befinden, scheinen diese nur einen geringen Anteil darzustellen, hängen also analog zu Schopenhauer nur „lose hiermit zusammen“.
Dieser Anteil wird jedoch von regierenden Politikern und infolgedessen erneut von den breiten Medien in den Vordergrund gerückt, sodass beispielsweise von der ansonsten friedlichen Demonstration am 29. August 2020 in Berlin fast ausschließlich über die Erstürmung des Reichstags durch einige wenige Demonstranten berichtet wird.
Die dort tatsächlich aufgetretenen sogenannten Reichsbürger werden mit den anderen Demonstranten in Verbindung gebracht, obwohl sie eigens eine separate Kundgebung für diesen Tag angemeldet haben, die nicht mit der Demonstration der Covid-19 Maßnahmenkritiker in Verbindung steht. Es gibt also inhaltlich tatsächlich nicht einmal den von Schopenhauer genannten losen Zusammenhang. Im Gegensatz hierzu behaupten einige Stimmen sogar, dass die medienwirksame Erstürmung des Reichstags gegebenenfalls inszeniert oder zumindest von höherer Stelle gebilligt sei (8).
Hiermit soll keinesfalls eine inakzeptable Ausschreitung einzelner Kundgebungsteilnehmer verharmlost werden. Doch es stellt sich die Frage, weshalb eine vermutlich große Menge friedlicher Demonstranten ohne extreme politische Gesinnung als rechtsradikal oder dem rechten Spektrum zugeneigt bezeichnet wird? Dieses „unter eine verhasste Kategorie bringen“ kann durchaus als Ablenkungstaktik verstanden werden, die erneut dazu dient, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Forderungen der Protestbewegung zu vermeiden und es wiederum anderen erschwert, sich ihr anzuschließen.
Diversion
Schopenhauer bezeichnet dies in seinem Kunstgriff 29 auch als Diversion: „… das heißt, (man) fängt mit einem Male von etwas ganz andrem an, als gehörte es zur Sache und wäre ein Argument gegen den Gegner“ (9).
Diese Diversion, das heißt, eine vorgeblich rechte politische Gesinnung als zur Sache der Maßnahmenkritiker gehörend zu betrachten, ist folglich sehr dienlich, um es als Argument gegen die Gegner verwenden zu können.
Wenn hieraus die unzulässige Schlussfolgerung gezogen wird, die meisten Kritiker der Covid-19 Auflagen verkörperten eine rechte Ideologie, dann werden umgekehrt viele Menschen der Ansicht sein, dass nicht nur deren Argumente nicht ernst zu nehmen sind.
Sie werden vielmehr auch einen ebenfalls unzulässigen Umkehrschluss ziehen:
„Ich bin nicht rechts und möchte auch nicht von anderen in das rechte Spektrum eingeordnet werden. Daher darf ich mich dieser inhaltlichen Auffassung zu Covid-19 nicht anschließen und auch selbst keine Kritik an den Maßnahmen äußern.“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Schopenhauer, Arthur, Die Kunst, Recht zu behalten. Hamburg : Nikol, 2009.
(2) Ebenda, Seite 89.
(3) Ebenda, Seite 48.
(4) Ebenda.
(5) Ebenda, Seite 61.
(6) BMI Bund — Strategiepapier, Online, abgerufen am 11. April 2021; .
(7) Schopenhauer, am angegebenen Ort, Seite 80.
(8) Gellermann, Uli, Rationalgalerie, Online 31. August 2020, abgerufen am 28. Mai 2021; .
(9) Schopenhauer, am angegebenen Ort, Seite 68.
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