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Das Zentrum kollabiert

Das Zentrum kollabiert

Die Ergebnisse der Bundestagswahl zeigen, dass die Krise des Systems einen kritischen Punkt erreicht hat.

SPD: Erneuerung sehr fraglich

Die SPD hat daraus die Konsequenz gezogen, sich endlich aus der babylonischen Gefangenschaft der Union zu befreien. Ob ihr in der Opposition eine echte Erneuerung gelingt, bleibt abzuwarten. Sich vorzustellen, wie Andrea Nahles eine wortgewaltige Oppositionschefin abgibt, erfordert sehr viel Fantasie.

Es ist überhaupt fraglich, ob in der SPD das Personal vorhanden ist, das einen echten Neuanfang durchsetzen und verkörpern könnte. Denn der kann selbstverständlich nur gelingen, wenn die SPD einen glaubwürdigen Bruch mit der Agenda- und Kriegspolitik seit Gerhard Schröder durchführt.

Angela Merkel dagegen darf nun eine Regierung mit Grünen und FDP bilden. Außenpolitisch bürgt speziell die Einbindung der Grünen für eine Kontinuität transatlantischer Nibelungentreue auf den Kriegsschauplätzen der Welt. Wirtschaftspolitisch dürften Grüne und Liberale einen tragfähigen neoliberalen Grundkonsens bilden. Soziale Angriffe von oben stehen uns ins Haus.

Darüber thront dann eine deutlich geschwächte Angela Merkel mit einer CDU/CSU, deren innere Konflikte sich vermutlich eher zuspitzen werden, denn die starke AFD wird die Union unter Druck setzen und der rechte Unionsflügel dürfte weiterhin aufmucken gegen Merkels Kurs.

Wir werden folglich eine Jamaika-Koalition mit einigem Konfliktpotential bekommen, deren Beliebtheit sich zudem in Grenzen halten dürfte.

Und erneut: das entscheidende Ereignis des gestrigen Wahlerdbebens besteht darin, dass das Zentrum der Herrschenden Politik mit herben Verlusten abgestraft und in seiner Machtstellung existenziell verwundet wurde.

Deutschland chaotisiert sich

Deutschland hat damit die Arena der Ordnung verlassen. Es ist eingetreten in jene Sphären des Chaos, in denen die USA, Griechenland, Holland, Spanien oder Frankreich längst angekommen sind.

Das könnte nun in einem Land, dessen bleierne Stabilität Garant für reaktionäre Politik im In- wie im Ausland gewesen ist, durchaus eine gute Nachricht sein. Es wäre vor allem dann eine gute Nachricht, wenn wir gleichzeitig ein Ansteigen sozialer Kämpfe an der Basis zu verzeichnen hätten.

Wenn es etwa mehr Streiks gäbe, mehr „Brot- und Butterkämpfe“ um höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, gegen Leiharbeit usw. Oder wenn es einen Aufschwung politischer Kämpfe zu verzeichnen gäbe, beispielsweise 50.000 Leute, die gegen die Airbase in Ramstein demonstrieren.

Nun müssen wir hier präzise sein. Es gibt einige interessante Entwicklungen, etwa den Kampf der Pflegekräfte um mehr Personal, der in der Berliner Charité seine Spitze hat, aber weiter ausgreift. Auch die Demonstration von 250.000 Menschen gegen TTIP und CETA in Berlin hat gezeigt, dass es grundsätzlich geht. Die Kampagne „Ende Gelände“ gegen den Kohleabbau ist erfolgreich, neu und interessant.

Vor allem aber an der gewerkschaftlichen und friedenspolitischen Front geht die jahrzehntelange Friedhofsruhe bis dato ungerührt weiter. Die tradtionellen Akteure sind völlig erstarrt - und der Mangel an echter Basisaktivität ist die Grundlage dafür, dass der Hauptstrom der Empörung nach rechtsaußen abfließt.

Die Linke: Systempartei in Reserve

Millionen wenden sich ab von der herrschenden Politik, die Parteien der Großen Koalition lassen massiv Federn: das müsste eine dramatische Stärkung der stärksten Oppositionspartei im Bundestag nach sich ziehen…

Dummerweise liefen die Empörten schnurstracks an der LINKEN vorbei, hin zu falschen Propheten, die von den Leistungen der Wehrmacht schwadronieren, wie Alexander Gauland, oder offensichtliche Agentinnen des Finanzkapitals sind, wie Goldman-Sachs-Girl Alice Weidel.

Wer sich von diesem Konglomerat aus alten Kadern der CDU, der FDP und der Naziszene soziale Wohltaten und eine Politik für die normale Bevölkerung erwartet, sollte sich mit der Finanzierung der AFD befassen.

Immerhin, auch die LINKE konnte bei der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung ein paar Stimmen zulegen. Sie tat dies vor allem im ehemaligen Westen. Also genau dort, wo sie eben nicht in Regierungsverantwortung ist.

Dort, wo sie mitregiert, wie in Thüringen, Brandenburg oder Berlin, brach die LINKE förmlich ein.

Ist das Ergebnis der LINKEN bei der Bundestagswahl also „respektabel“ oder „ganz ordentlich“, wie ich auf meiner Facebook-Timeline von wackeren, linken Wahlkämpfern lese? Oder war „leider nicht mehr drin, bei dieser Wahl“? Oder kann die LINKE, wie Sahra Wagenknecht meint: „ganz zufrieden sein“?

Nein. Das Ergebnis der LINKEN ist katastrophal. Es war viel mehr drin. Und Zufriedenheit ist völlig fehl am Platz.

Stagnation & Aufbruch

In der Arena des Chaotischen gelten andere Bewegungsgesetze als in der stabilen Langeweile der vorangegangenen Jahrzehnte.

In einer derart dynamischen politischen Lage, wie wir sie aktuell erleben, als Oppositionsführerin zu stagnieren, ist deshalb ein Kunststück. Es kann nur dem gelingen, der extrem statisch agiert. Die LINKE hat es vollbracht - auch dank einer Wahlkampfstrategie, die keine Strategie, sondern die missratene Ausgeburt innerparteilicher Kompromisse zwischen widerstreitenden Parteiflügeln war.

Herausgekommen sind Wahlplakate, deren Design jedem Fünftklässler peinlich gewesen wären - und Parolen, die vermutlich sagen wollten: „Wählt uns! Wir sind die Netten. Und wir würden gerne sehr vieles ein bisschen besser machen, wenn man uns lässt…“

Damit hat die LINKE leider rein gar nichts gelernt von Bernie Sanders und Jeremy Corbyn.

Das ist an sich erstaunlich: als die LINKE kurz nach dessen Überraschungserfolg bei den Parlamentswahlen in Großbritannien ihren Parteitag abhielt, gab es keine Rede, die nicht auf Jeremy Corbyn als leuchtendes Beispiel bezug nahm.

Auch die beachtlichen Geländegewinne, die ein Bernie Sanders in den USA für linke Politik erzielen konnte, wurden in der LINKEN großmäulig als Bestätigung des eigenen Handelns verbucht.

Allein: das Handeln von Sanders und Corbyn war völlig anders. Der Hauptslogan, mit dem ein Bernie Sanders in den USA Millionen vor allem auch junger Menschen begeistern konnte, war die Forderung nach einer „politischen Revolution“. Auch Corbyn erreichte seine dramatische Stimmensteigerung durch das Feuer der Euphorie, das eine auf massenhaften Aktivismus und knallharte Opposition ausgelegte Politik entfachen konnte.

Beide haben glaubhaft vermittelt, dass der Aktivismus, den sie meinen, sich nicht in der Jagd nach Wählerstimmen erschöpft.

Die LINKE dagegen fährt vor allem im Osten einen rein auf Wahlen reduzierte Ansatz, der von irgendeiner Vorstellung von Selbstorganisation und Massenaktivität meilenweit entfernt und inhaltlich auf dem Stand der SPD in den 70er Jahre ist.

Die faschistische Gefahr

Das führte dazu, dass quer durch Ostdeutschland die AFD die Masse der Wütenden anziehen konnte, die die LINKE mit ihrem staatstragenden Sozialdemokratismus verfehlte.

Gerade Thüringen zeigt diese Entwicklung. Die LINKE schrumpfte auf 16,9%, während die AFD mit 22,7% an ihr vorbeischoss - in einem Land, in dem die LINKE mit 28% die Mehrheitspartei in der Regierung und mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellt!

Ist die AFD nun eine „Eintagsfliege“? Wird sie sich zerlegen, wie einstmals die Republikaner Franz Schönhubers?

Dies als Automatismus anzunehmen, wäre fatal. Der Aufstieg der AFD ist eben kein zufälliges Phänomen in einem Land, in dem 2016 über 1.000 Anschläge auf Flüchtlingsheime stattfanden und in dem der öffentliche Diskurs sich den Themen der AFD fast widerstandslos angenähert hat. Die AFD konnte den Wahlkampf weitgehend dominieren, sie setzte die Themen - und wurde darin von weiten Teilen der Medien und der etablierten Politik nach Kräften unterstützt.

Dass nicht nicht über Krieg und Frieden diskutiert wurde, sondern über Flüchtlinge, nicht über die Gefahren der fortgesetzten Umweltzerstörung, sondern über „innere Sicherheit“, nicht über den täglichen rassistischen Terror oder den Terror der kapitalistischen Ökonomie, sondern über die Burka - all das hat die AFD stark gemacht.

Ein Aufschwung sozialer Kämpfe

Schönhubers Republikaner übrigens haben sich nicht einfach von selber zerlegt. Der Niedergang des rechtsextremen Aufschwungs Anfang der 90er hatte vielmehr mit einem Aufschwung der Kämpfe zu tun.

Zunächst mit massenhaften, ja: millionenfachen Protesten gegen Rassismus und Neofaschismus nach den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen und den Morden von Mölln und Solingen.

Später aber, in der Endphase der Kohl-Regierung kamen soziale Kämpfe entscheidend hinzu. Eine Demonstration von 350.000 Menschen etwa im Bonner Hofgarten 1996, gegen ein Sparpaket der Kohl-Regierung. Oder Streiks gegen die geplante Abschaffung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Oder Zehntausende von wütenden Bergarbeitern, die in die Bannmeile des Bundestages eindrangen.

Kurz und gut: es kann in der jetzigen Lage durchaus zu einer Wendung zum Besseren kommen. Aber nur, wenn sich die Menschen unten in der Gesellschaft organisieren und sich gemeinsam wehren - und nicht durch parlamentarisches Geplänkel und eine Politik der Zeichen und Symbole.

Die Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen wird einiges an Raum lassen für solch einen Aufschwung an Kämpfen. Mit sozialen Angriffen auf den Lebensstandard der Normalbevölkerung ist unbedingt zu rechnen. Aber diese Regierung mit ihrer geschwächten Chefin wird selbst sehr angreifbar sein. Wird sie angegriffen, kann man ihr Niederlagen beibringen.

Aus solchen erfolgreichen Abwehrkämpfen heraus könnte die Kraft geschöpft werden für eine neue Offensive.

Das radikal Neue, das uns fehlt

Eine Opposition wiederum die mit einem klar rechten und einem klar linken Flügel ausgestattet ist, bietet ebenfalls Möglichkeiten. Vor allem aber droht jetzt eine Polarisierung entlang altbekannter Linien.

Das ist ein Riesenproblem. Wird Politik weiterhin nur in den Schablonen der alten Zeit verhandelt? Wird der Zustand und die Ausrichtung des Bildungssystems in diesem Land auch weiterhin nur ein Randthema bleiben? Werden wir uns weiterhin nur mit Flüchtlingen beschäftigen und nichts gegen die Fluchtursachen unternehmen?

Und wann kommt endlich die Kraft, die sich den Abschied von unserem aberwitzigen Wachstumsmodell auf die Fahnen schreibt? Jene Kraft, die laut und deutlich sagt, dass wir radikal in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit umsteuern müssen und nicht nur ein paar Reförmchen durchführen?

Die Chancen, diese neue Kraft aufzubauen, sind durch den Zusammenbruch des politischen Zentrums gewachsen. Es wird aber darauf ankommen, dass genug Menschen darauf bestehen, dass das Neue, das die Welt im 21. Jahrhundert benötigt, schon weitaus neuer sein müsste als ein Neuaufguß von Ideen aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

Diese Bundestagswahl war schließlich eine Farce, weil sie die ganze Impotenz und Überalterung unseres Parlamentarismus aufgezeigt hat. Ja, man hat uns wieder an die Urnen gezwungen mit der Konstruktion von weltbewegenden Entscheidungssituationen, die in Wirklichkeit alle relevanten Themen nur zugedeckt haben.

Aber das soll die Demokratie im 21. Jahrhundert sein? Alle vier Jahre ein Kreuz auf einem Zettel machen und dann wieder keinerlei Mitsprache für die nächsten 1460 Tage?

Wir wollen neuartige Organe der Demokratie! Wir wollen die Demokratie neu erfinden! Wir wollen auch kein Zurück zur „Vollbeschäftigung“, sondern eine fortschrittliche Antwort auf das Ende der alten Arbeitsgesellschaft - eine Antwort, die uns befreit aus der elenden Plackerei und den Sinnlosigkeiten des kapitalistischen Hamsterrads!

Und wir wollen eine Welt, die mit der Politik des Krieges und der globalen Ausbeutung radikal bricht, die mit dieser ewigen Machtpolitik auf Kosten von Milliarden Menschen, von Tieren und Natur nicht mehr das geringste zu schaffen hat: eine solidarische Welt des Friedens, der Nachhaltigkeit und der Solidarität!

Diese Visionen sind im digitalen Zeitalter umsetzbar geworden. Und mit nichts weniger sollten wir uns auch zufrieden geben. Auch und gerade nach dem Erdbeben dieser Wahl.


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