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Der Blick in den Spiegel

Der Blick in den Spiegel

Vorurteile von und über Juden und Muslime.

Vorurteile gegen Juden gehen stetig zurück

Der Verbreitung von negativen Vorurteilen über Juden schenken Politik und Medien breite Beachtung. Gängiger Ausdruck, unter dem solche Vorurteile subsummiert werden, ist "Antisemitismus" – eine befremdliche Übernahme des positiv, selbstlobend gemeinten Begriffs, den sich die gutbürgerlichen deutschen Fremdenfeinde 1879 gaben, als der jüdische Auswandererstrom aus dem Zarenreich begann, und in dessen Namen die Nazis den industriellen Massenmord an den Juden Europas organisierten.

Der Bundestag beschloss im November 2008 und Dezember 2014 die Berufung jeweils eines Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Der dreihundert Seiten starke aktuelle Bericht des zweiten Expertenkreises vom April 2017 (1) enthält Empfehlungen, wie man dem Antisemitismus besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen könnte, unter anderem durch "ein regelmäßiges, vom Bund finanziertes Monitoring antisemitischer Einstellungen in Form einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung sowie qualitativer Studien unter Berücksichtigung besonderer Bevölkerungsgruppen" ((1), Seite 290).

Diese Empfehlung wird ausgesprochen, obwohl die Verbreitung negativer Vorurteile über Juden seit Jahrzehnten und zusätzlich nochmals in den letzten fünfzehn Jahren immer mehr zurückgegangen ist.

Für die letzten fünfzehn Jahre liegen sehr gut vergleichbare Daten vor, da immer die gleichen Fragebögen benutzt wurden: Solche Vorurteile wurden 2002 von ungefähr 10 Prozent der Befragten geteilt, 2016 nur noch von circa 5 Prozent ((1), Seite 62). Und auch der relativ hohe Ausgangswert von 10 Prozent von 2002 ist offenbar weit niedriger als die Zustimmungsquote zu Vorurteilen gegen Juden in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und auch noch in der Nachkriegszeit: Laut Umfragen der US-Besatzungsmacht (zitiert in (2)) hatten noch 1946 mindestens 40 Prozent der deutschen Bevölkerung solche Vorurteile. Ein drastischer Rückgang dieser Vorurteile über die Jahrzehnte bestätigt sich auch beim Vergleich verschiedener Jahrgangsgruppen (von 1910 bis 1989) in einer 1996 und 2006 durchgeführten Umfrage mit über 5.000 Teilnehmern (3).

Trotzdem wird das Problem dieser Vorurteile weiter ernst genommen. Als neue Problemgruppe erscheint die muslimische Bevölkerung, dort insbesondere eingewanderte oder junge Personen ((1), Seite 290). In der Tat zeigte sich zum Beispiel bei einer neuen Studie aus Großbritannien (4), dass circa 13 Prozent der muslimischen Bevölkerung starke negative Vorurteile gegenüber Juden hatten, bedeutsam mehr als in der allgemeinen Bevölkerung (circa 3 Prozent).

Vergleich von Vorurteilen gegen Juden und Muslime

In den Augen der Politik gilt also besondere Wachsamkeit gegenüber Vorurteilen gegen Juden, unter anderem auch insbesondere bei jungen Moslems (5). Verwirrend sind aber Ereignisse wie dieses:

"Eine jüdische Frau und ihre Mutter wurden in der New Yorker U-Bahnstation Forest Hills von einem 40-jährigen Mann verprügelt, der sie fälschlicherweise für Muslima gehalten hatte. ... Laut einem Bericht in der 'New York Post' hatten die beiden 37- und 57-jährigen Frauen den Zug gerade verlassen und gingen auf den Ausgang ... zu, als sie hörten, wie der Mann ihnen Beleidigungen zurief. Als die jüngere der Frauen den Mann aufforderte zu wiederholen, was er soeben gesagt habe, spuckte er in ihr Gesicht und sagte laut Polizeibericht: 'Get out of my country, you dirty Muslim'. ... [Danach] begann der Mann, den beiden Frauen Faustschläge ins Gesicht und auf den Körper zu verabreichen. ... Die zwei Frauen ... erlitten keine ernsthaften Verletzungen" (6).

Jüdinnen werden verprügelt, weil sie für muslimisch gehalten werden. Sollen sich diese Frauen nun über Vorurteile gegen Juden oder gegen Muslime Gedanken machen? Ähnliche Gefühle hatte ich, als ich in den 1990er-Jahren mitten durch einen Eisenbahnwagen hindurchgehen musste, in dem eine Gruppe angetrunkener junger Männer saß. Es war die Zeit nach den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock, als in Mölln und Solingen türkische Familien ermordet wurden und ein Raum der Lübecker Synagoge durch einen Brandanschlag ausbrannte. Ich war besorgt, ob mich diese jungen Männer wegen meines orientalischen Aussehens für einen Türken halten und deswegen anpöbeln würden. "Hallo, ich bin kein Türke, sondern Jude" schien mir aber auch keine erfolgversprechende Abwehrstrategie. Glücklicherweise passierte gar nichts.

An herausragender Stelle stand damals der Zentralratsvorsitzende der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, und machte klar, dass Juden und Muslime gegen Xenophobie zusammenhalten müssen. Bubis war immer zur Stelle, repräsentierte das Entsetzen der anständigen Deutschen und wirkte so, als sei er nicht nur Zentralratspräsident der Juden, sondern gleichzeitig Zentralratspräsident aller Minderheiten in Deutschland. Seine öffentlichen Stellungnahmen, seine aufrechte Haltung verschafften ihm so viel Respekt, dass außerhalb der jüdischen Gemeinschaft ernsthaft erwogen wurde, ihn als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten aufzustellen.

In Übereinstimmung mit dem Eindruck, der sich aus diesen einzelnen Ereignissen ergibt, zeigen die wenigen systematischen Umfragen, die gleichzeitig Einstellungen gegen Juden und gegen Muslime abfragten, dass negative Vorurteile über Muslime wesentlich ausgeprägter sind als über Juden.

So ergab die briefliche Befragung von circa 500 Berlinern aus dem Jahr 2003, dass deren Einstellungen über Juden als mögliche Nachbarn, Freunde oder Lebenspartner gleich waren wie über Italiener – deutlich weniger negativ als über Türken und diese nochmals deutlich weniger negativ als über Asylbewerber (7).

Ähnliches ermittelte eine neuere repräsentative Studie ((8); zitiert in (1)): 21 Prozent der Befragten wäre es unangenehm, Muslime als Nachbarn zu haben; dies war ein Vielfaches mehr als die Ablehnung gegen Juden, Italiener oder Afrikaner (zwischen 3 und 5 Prozent), mehr auch als gegen Osteuropäer (14 Prozent) und übertroffen nur von der Ablehnung gegen Asylbewerber (29 Prozent) und Sinti & Roma (31 Prozent).

Ähnliche Ergebnisse erbrachte die erwähnte Studie aus Großbritannien mit Datenerhebung 2016/2017 (4). Bei dieser wurde direkt nach der Meinung zu verschiedenen Religionsgruppen gefragt. Von 900 persönlich Interviewten hatten 14 Prozent eine eher schlechte oder sehr schlechte Meinung über Muslime, dagegen nur 5,4 Prozent über Juden – gleich viel wie über Hindus (5,5 Prozent) und etwas mehr als über Christen (3 Prozent).

In einer folgenden Online-Befragung von 1.000 Personen wurde die Antwort-Kategorie "weder-noch" weggelassen, sodass sich die Befragten schärfer entscheiden mussten. Nun hatten 34 Prozent eine schlechte Meinung über Muslime, 13 Prozent über Juden, 13 Prozent über Hindus und 11 Prozent über Christen.

Diese Studienergebnisse legen die Folgerung nahe, dass in den Gesellschaften Deutschlands und Großbritanniens Vorurteile über Juden nicht das wichtigste gesellschaftliche Problem im Bereich der Xenophobie sind. Vielmehr liegt sozialer Sprengstoff hauptsächlich in Vorurteilen über Muslime.

Dass trotzdem "Antisemitismus" in der öffentlichen Diskussion eine so herausragende Rolle spielt, hat unter anderem zwei Gründe: Erstens, dass Kritiker an Israels Politik im Verdacht stehen, durch Vorurteile über Juden motiviert zu sein, zweitens, dass unter Muslimen negative Vorurteile über Juden wahrscheinlich weiter verbreitet sind als in der übrigen Bevölkerung.

Diese beiden Probleme werden im Folgenden unter dem Aspekt fehlender Vergleichsmessungen diskutiert.

Vergleichsmessungen zu israelbezogenem Antisemitismus

In der öffentlichen Diskussion verschärft sich der Tonfall gegen Kritiker der israelischen Politik und Veranstaltungen, die für palästinensische Interessen werben. Das betrifft insbesondere – aber nicht nur – die Befürworter von Boykott und Sanktionen gegen Israel: Parteinahme für die Palästinenser wird vielfach als "antisemitisch" bezeichnet.

Das Ziel solcher Vorwürfe ist zu verhindern, dass solche Initiativen jetzt oder zukünftig stattfinden. Diese Absicht ist nachvollziehbar, wenn die Vorwürfe des Antisemitismus zutreffen. Selbst dann wäre allerdings noch abzuwägen, ob Meinungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit und das Eintreten für die Menschenrechte der Palästinenser nicht ebenso zu schützen sind wie die jüdische Minderheit vor gehässigen Verallgemeinerungen (siehe dazu (9), (10)).

Mit dem Vorwurf des "Antisemitismus" können zwei verschiedene Dinge gemeint sein. Zum einen: Kritik an Israel werde hauptsächlich von Personen geäußert, die negative Einstellungen gegen Juden haben. Dieser Vorwurf ist angesichts der Datenlage nicht haltbar. Im Gegenteil, in Kempfs repräsentativer Studie (11) waren negative Einstellungen gegen Juden bei den menschenrechtlich orientierten "Palästinafreunden" nicht mehr, sondern sogar weniger ausgeprägt als bei den realpolitisch ausgerichteten "Israelfreunden".

Ebenso wenig trifft dies für Großbritannien zu (4), und zwar weder für sehr entschiedene Kritiker Israels (9 Prozent der Stichprobe) – von diesen hatte circa jede Fünfte sehr negative Einstellungen gegen Juden, vier Fünftel nicht – noch für Äußerungen zarter Kritik (56 Prozent der Stichprobe) – von diesen stimmte die Mehrheit keinem einzigen negativen Vorurteil über Juden zu.

Die Evidenz aus beiden Studien, mit verschiedenen Methoden berechnet und mit unterschiedlichen Kriterien durchgespielt, besagt also, dass die überwiegende Mehrheit der Kritiker der israelischen Politik keine negativen Einstellungen gegen Juden hat.

Häufig ist aber mit dem Vorwurf des Antisemitismus gegen Kritiker der israelischen Politik etwas anderes gemeint: Scharfe Kritik an Israel sei per se antisemitisch. Über diese Ausweitung des Konzepts "Antisemitismus" wird heftig debattiert, seit sie vor mehr als zehn Jahren erstmals systematisch propagiert wurde (unter anderem durch (12, 13)), siehe dazu unter anderen (9, 14, 15, 16). Hier soll - als ein weiterer Beitrag zu dieser Debatte - an das Gebot von Vergleichsmessungen bei der wissenschaftlichen Bewertung von Tatsachen erinnert werden:

Wenn es denn zutrifft, dass Kritik an den Zuständen in Israel häufig aus Vorurteilen gegen Juden heraus erfolgt und/oder die Kritiker ein objektiv oder subjektiv Juden-schaden-wollendes Ziel verfolgen, dann müsste in ähnlicher Weise Kritik an der Türkei häufig aus islamophoben Motiven heraus erfolgen und/oder ein objektiv oder subjektiv Muslimen-schaden-wollendes Ziel verfolgen. Schließlich sind – wie oben berichtet – negative Vorurteile über Muslime verbreiteter als über Juden, müssten also auch eher in solche politischen Urteile hineinspielen.

In diesem Sinne enthält Tabelle 1 drei gängige Verbindungen zwischen Israelkritik und Antisemitismus, ergänzt durch parallele Verbindungen zwischen Türkeikritik und Antiislamismus:


Bild

Tabelle 1: Gegenüberstellung von Kritik an Israel mit Kritik an der Türkei


Demnach wäre Kritik an der Politik der Türkei dann antiislamisch (oder sonstwie unstatthaft), (A) wenn die Politik der Türkei auf Eigenschaften aller Muslime zurückgeführt wird oder (B) wenn Boykott und Sanktionen gegen die Türkei gefordert werden oder (C) wenn das Existenzrecht der Türkei in Frage gestellt wird.

Kriterium (A) ist ziemlich unstrittig: Ja, wenn die Politik der Türkei durch "typisch muslimische" Eigenschaften erklärt wird, dann wird eine solche Kritik an der Türkei in der Regel von islamophoben Einstellungen verzerrt sein. Das entspricht der Annahme, dass auch Kritik an Israel in der Regel von negativen Vorurteilen über Juden verzerrt sein wird, wenn seine Politik durch "typisch jüdische" Eigenschaften erklärt wird.

Kriterium (B) ist bezüglich der Türkei in der deutschen Öffentlichkeit wohl genauso unstrittig, jedoch nicht in seiner Akzeptanz, sondern in seiner Ablehnung: Vielfach werden Boykott- und Sanktionsmaßnahmen gegen die aktuelle Politik der Türkei gefordert, bis hinauf in die Spitzen der Politik.

Dass diese Reaktionen auf einer negativen Einstellung gegen den Islam beruhen, ist nicht erkennbar. Das ist auch relativ unwahrscheinlich angesichts der kritikwürdigen Vorkommnisse in der Türkei unter Staatspräsident Erdoğan: Er kündigte den Versöhnungsprozess mit den Kurden auf, stattdessen verschärfte er den Bürgerkrieg, unterstützt bewaffnete Aufstandsgruppen in Syrien, lehnt einen Versöhnungsprozess mit Armenien ab, schränkt nach dem Putschversuch mittels Dämonisierung des Gülen-Netzwerks die Presse- und Meinungsfreiheit ein, verhaftet Tausende, entfernt Zehntausende aus dem öffentlichen Dienst usw.

Wieso sollte dies nicht kritik- und sanktionswürdig sein? Selbstverständlich empfinden die Anhänger Erdoğans solche Kritik und Sanktionen als ungerechtfertigt und daher als antitürkisch und antiislamisch. Diesen Vorwurf empfinden weite Teile der deutschen Öffentlichkeit jedoch als absurd und unsachlich.

Ganz im Gegensatz dazu ist Kriterium (B) in Bezug auf Israel in der deutschen Öffentlichkeit heftig umstritten. Dies ist der Fall, obwohl Boykott- und Sanktionsmaßnahmen im Fall Israels sachlich nicht minder gerechtfertigt sind als im Fall der Türkei: Israel verdrängte zu seiner Staatsgründung 700.000 Einwohner Palästinas, verweigerte ihnen die Rückkehr und enteignete sie entschädigungslos. Enteignungen und Verdrängungen gehen im Westjordanland und in Jerusalem bis zum heutigen Tag weiter. Dabei hält sich Israel nicht an UN-Resolutionen, Völkerrecht, die Genfer Konvention und die Meinung des Internationalen Gerichtshofs.

Insgesamt ist Israel heute eine ethnisch abgestufte Demokratie: Jüdische Bürger haben die meisten Rechte, dann kommen nichtjüdische Bürger und dann nichtjüdische Jerusalemer. Danach kommen die Rechtlosen: Über die vielen nichtjüdischen Bewohner des besetzten Westjordanlands herrscht Israels Militärdiktatur, und die Bewohner Gasas hat Israel seit 2006 eingekerkert und führt alle paar Jahre Kriege gegen diese weitgehend wehrlose Bevölkerung.

Wieso sollte all dies nicht kritikwürdig und sanktionswürdig sein? Selbstverständlich empfinden die Anhänger Israels solche Kritik und Sanktionen als ungerechtfertigt und daher antiisraelisch und antisemitisch. Weite Teile der deutschen Bevölkerung empfinden diesen Vorwurf jedoch als absurd und unsachlich – ebenso wie im Fall der Türkei. Dennoch haben sich weite Teile der deutschen Politik und Medien diesen Vorwurf zu eigen gemacht.

Kriterium (C) – Infragestellung des Existenzrechts der Türkei – mag weit hergeholt klingen. Genau dies war aber Kriegsziel der Entente im Ersten Weltkrieg. Churchills Marine scheiterte zwar 1915 in den Schlachten bei Gallipoli in ihrem Versuch, Istanbul einzunehmen. Im Vertrag von Sèvres 1920 hielten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs jedoch die Zerlegung nicht nur des Osmanischen Reichs, sondern auch der Rest-Türkei bis auf einen anatolischen Rumpfstaat schriftlich fest.

Gegen diesen Plan wurde unter Führung Mustafa Kemals der Türkische Befreiungskrieg erfolgreich geführt. Daher haben die Kemalisten schon immer eine Infragestellung des Existenzrechts der Türkei gewittert, wenn Deutschlands Öffentlichkeit und Politiker für Menschen- und Autonomierechte der Kurden und für die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern eintreten.

Mit fortgesetzter Verschmelzung von Erdoğans AKP mit dem Staatsapparat und seiner Ideologie teilen heutzutage auch die AKP-Anhänger diesen Verdacht. Das ist wohl eine wesentliche Motivation für die energischen Beschwerden türkischer Regierungen seit Jahren gegen die Initiativen in europäischen Parlamenten, sich unter Menschenrechtsgesichtspunkten mit diesen Problemen zu befassen. Daher könnte es sinnvoll sein, in unserer öffentlichen Diskussion der Türkei zu garantieren, dass die Unterstützung kurdischer Autonomierechte und die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern nicht die Existenz der Türkei gefährdet.

Im gleichen Zusammenhang wie der Vertrag von Sèvres steht die Übertragung des Gebiets "Palästina" als Völkerbundmandat an Großbritannien, ebenfalls 1920: Beides diente der Zerlegung des Osmanischen Reiches. Mit dem Mandat machte sich der Völkerbund die entsprechende Willensäußerung Großbritanniens ("Balfour-Deklaration" vom 2. November 1917) zu eigen. Offizieller Zweck des Mandats war die Errichtung einer jüdischen "nationalen Heimstätte".

Zu Großbritanniens Motiven (siehe (17)) zählten unter anderem, den Seeweg nach Indien über den Sueskanal zu sichern, die zu erwartende Flut von jüdischen Flüchtlingen aus dem ehemaligen Zarenreich weg von Europa zu leiten und die nationalistische Ideologie des Zionismus gegen die in britischen Augen unter Juden zu weit verbreitete Ideologie des Sozialismus zu unterstützen.

Die Interessen der ansässigen arabischen Bevölkerung wurden dagegen weitgehend ignoriert und fanden in diese Deklaration überhaupt nur Eingang durch den vehementen Protest von Edwin Montagu, des einzigen Juden im britischen Kabinett zur Zeit der Balfour-Deklaration. Montagu war rigoros gegen diese Gründung einer "nationalen Heimstätte" (17).

Angesichts des folgenden Dauerkonflikts im Mandatsgebiet und des offensichtlich kolonialen Charakters des britischen Mandats stimmte die UN-Vollversammlung 1947 für die Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Staat und einen separaten Status für Jerusalem; dies geschah selbstverständlich unter dem Eindruck des unter deutscher Führung betriebenen Völkermords an den Juden Europas.

Der anhaltende Streit jüdischer und palästinensischer Bewohner um dieses Land mit weiter andauernder Verdrängung der Palästinenser wird durch diese Vorgeschichte kompliziert, und auch dadurch, dass die Ideologien der zwei großen jüdischen Gruppen auf der Welt, in Israel und den USA, immer weiter auseinanderdriften:

Während in Israel Menschenrechte für weniger wichtig angesehen als die Verwirklichung des nationalen Ziels (18), stehen für die US-amerikanischen Juden Menschenrechte, Liberalität sowie Minderheitenschutz weiterhin an erster Stelle (19).

Was daher die eine Seite als unumgängliche Maßnahme zur Befriedung des Konflikts betrachtet – Garantie von Menschen- und Minderheitenrechten der Palästinenser, Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen – sieht die andere Seite als Anschlag auf die Existenz Israels. Die deutsche öffentliche Diskussion sollte hier angemessen differenzieren.

Jedenfalls ist angesichts der komplexen Problemlage sowohl im Fall der Türkei als im Falle Israels nicht erkennbar, wieso Kritik an der Politik Israels mehr von Vorurteilen über Juden verzerrt sein sollte als die Kritik an der Politik der Türkei von Vorurteilen über Muslime.

Trotzdem behaupten Teile der Medien und der Politik genau dieses und verbinden damit die klare Aufforderung, dass in der Öffentlichkeit über den Geburtsfehler Israels und über die Notwendigkeit, diesen durch Konfliktausgleich zu heilen, geschwiegen werden solle. Dies ist für einen liberalen und demokratischen Staat unangemessen; man muss sich anlässlich dieser immer mehr zunehmenden Versuche, die Meinungsfreiheit einzuschränken, die Frage stellen, wohin die Reise gehen soll.

Vorurteile über Juden bei Muslimen und Vorurteile über Muslime bei Juden

Es gibt deutliche Belege, dass Vorurteile über Juden unter der muslimischen Bevölkerung westlicher Länder verbreiteter sind als unter anderen Bevölkerungsgruppen. Der Antisemitismusbericht (1) verweist vor allem auf eine Studie von Frindte et al. (20):

Unter jugendlichen und jungen erwachsenen Muslimen seien antiisraelische Äußerungen sehr gebräuchlich und würden als negative Einstellungen gegen Juden verallgemeinert; der Israel-Palästina-Konflikt sei die Hauptquelle für solche Einstellungen und Äußerungen, religiöse Begründungen seien dagegen selten; diese negativen Einstellungen seien ausgeprägter bei Menschen arabischer als türkischer Herkunft.

Ähnliches berichtet die Studie aus Großbritannien ((4); wobei dort die meisten Muslime aus Pakistan stammen): 55 Prozent der Muslime stimmten zumindest einer von acht negativen Aussagen über Juden zu, deutlich mehr als die übrige Bevölkerung (30 Prozent). Und (wie schon zu Beginn dieses Artikels erwähnt) immerhin 13 Prozent der Muslime stimmten fünf von acht negativen Aussagen über Juden zu, deutlich mehr als die übrige Bevölkerung (3,5 Prozent).

Ähnliche Verhältnisse, mit generell höheren Zustimmungsraten, zeigten sich bei antiisraelischen Aussagen: Zumindest einem von acht antiisraelischen Sätzen stimmten circa 75 Prozent der Muslime zu, verglichen mit 56 Prozent in der übrigen Bevölkerung, und der Mehrzahl aller antiisraelischen Sätze stimmten immer noch circa 35 Prozent der Muslime zu, verglichen mit 9,5 Prozent in der übrigen Bevölkerung.

Ob auch Muslime je nach politischer Ausrichtung ihre negativen Einstellungen gegen Israel ebenso aufspalten wie die übrige Bevölkerung – keine Assoziation mit Vorurteilen über Juden auf der linken Seite des politischen Spektrums, deutliche Assoziation auf der rechten Seite – ist nicht belegt, aber denkbar.

Diese Meinungen unter Muslimen geben in der Tat Anlass zur Besorgnis über den gesellschaftlichen Frieden und über die Situation der jüdischen Bevölkerung. Jedoch fehlt auch hier die symmetrische und daher nahe liegendste Kontrollfrage: Wie steht es mit islamophoben Einstellungen bei der jüdischen Bevölkerung? Sind deren islamophobe Einstellungen genauso groß wie bei der übrigen Bevölkerung?

Möglicherweise wären die Vorurteile der Muslime über Juden schlicht das Spiegelbild der Vorurteile der übrigen jüdischen und nicht-jüdischen Bevölkerung über Muslime. Leider sind mir keine verlässlichen Zahlen über Vorurteile von deutschen Juden über Muslime bekannt.

Die britischen Daten (4) geben zu folgenden Überlegungen Anlass: Das einzige veröffentlichte Ergebnis dieser Studie, in der Einstellungen zu Juden direkt mit der Einstellung zu Muslimen verglichen werden, ist die Antwort auf die Frage, welche Meinung der Befragte über Juden, Muslime, Hindus, Christen habe.

Hierbei äußerten eine global negative Meinung fast dreimal so viele Menschen zu Muslimen (34 Prozent) als zu Juden (13 Prozent). Leider nennt die Studie hier weder die Antwort speziell der Muslime bezüglich der Juden noch die Antwort speziell der Juden bezüglich der Muslime. Die Studie berichtet aber – wie oben gesagt – , dass fast doppelt so viele Muslime wie Nicht-Muslime mindestens eine aller negativen Aussagen über Juden richtig finden (55 Prozent gegenüber 30 Prozent) und fast viermal so viele Muslime wie Nicht-Muslime die Mehrheit aller negativen Aussagen über Juden richtig finden (13 Prozent gegenüber 3,5 Prozent).

Dreimal mehr negative Urteile in der Gesamtbevölkerung über Muslime als über Juden und (je nach Kriterium) zwei- bis viermal mehr negative Urteile von Muslimen über Juden als in der Gesamtbevölkerung: Ist das eine das Spiegelbild des anderen?

Es wäre durchaus interessant zu erfahren, ob sich die jüdische Bevölkerung Deutschlands bezüglich Islamophobie von der sonstigen Bevölkerung unterscheidet. Eigene unsystematische Erfahrungen lassen mich vermuten, dass bei Juden negative Einstellungen über Muslime eher noch weiter verbreitet sind als in der Gesamtbevölkerung, und zwar selbstverständlich wegen des Israel-Palästina-Konflikts – spiegelbildlich zur Judophobie bei Muslimen – , insofern er als Konflikt zweier Religionen interpretiert wird statt als Streit zweier Völker um ein Land.

Ein Beispiel: Als ich im Zentralrat der Juden in Deutschland von 2005 bis 2009 Delegierter Schleswig-Holsteins war und in der Öffentlichkeit die Politik Israels kritisierte, brachte als letzter Tropfen das Fass zum Überlaufen und führte zum Entzug des Mandats durch meine Basis, dass ich beim Jahrestreffen der Muslimischen Jugend Deutschlands einen Vortrag gehalten hatte – beim "Feind".

Es gäbe noch mehr solcher Erfahrungen zu berichten, aber diese ersetzen selbstverständlich nicht eine systematische Untersuchung. Tatsächlich führte die Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland im Herbst 2016 eine Befragung von Juden in Deutschland durch, in der diese ausdrücklich nach Vorbehalten gegenüber Muslimen und Flüchtlingen gefragt wurden.

Die Ergebnisse dieser Befragung sollen Anfang 2018 veröffentlicht werden. Es ist zu hoffen, dass die Vorbehalte nicht als irgendwie berechtigte Ängste der jüdischen Minderheit interpretiert und der Öffentlichkeit kommuniziert werden, sondern so, wie sie bei allen anderen Gruppen der Bevölkerung auch interpretiert würden: als negative Einstellungen und Vorurteile.

Respekt

Es ist fraglich, ob negative Vorurteile der muslimischen Bevölkerung gegenüber Juden durch spezielle pädagogische Maßnahmen behoben werden können, die sich nur an Muslime richten und einseitig Vorurteile gegen Juden abbauen möchten. Wenn diese ein Spiegelbild islamophober Einstellungen der übrigen Gesellschaft sind, inklusive der jüdischen Deutschen, dann werden sich beide Einstellungen vielleicht nur gemeinsam und symmetrisch abbauen lassen.

Das Schlüsselwort für ein solches Vorgehen heißt Respekt. Respektiert zu werden ist gleichbedeutend mit dem Gefühl, durch die Mehrheitsgesellschaft als gleichwertig anerkannt zu werden.

Dies zeigte der Kieler Sozialpsychologe Bernd Simon in seinen Befragungen von einerseits Muslimen, andererseits Schwulen und Lesbierinnen (21). Besonders relevant für das hier diskutierte Verhältnis zweier Minderheiten, der muslimischen und der jüdischen, ist Simons Befund zur Respektspiegelung:

Die Einstellung der befragten Homosexuellen gegenüber Muslimen war umso positiver, je stärker sie davon ausgingen, dass umgekehrt Muslime auch Schwule und Lesben respektieren (direkte Spiegelung) und dass die deutsche Mehrheitsbevölkerung Schwule und Lesben respektiert (indirekte Spiegelung):

Die eigene Erfahrung, respektiert zu werden, könnte ein wichtiger Anstoß für die Respektierung anderer sein.

Daher ist es unwahrscheinlich, dass der aktuelle öffentliche Fokus auf Antisemitismus – mit gleichzeitiger Schuldzuweisung an Muslime – das Problem der durch den Nahostkonflikt befeuerten gegenseitigen Vorurteile entschärfen kann. Im Gegenteil:

Die offensichtliche Asymmetrie zugunsten von Juden und zuungunsten von Muslimen, wie sie in heutigen ritualisierten Antisemitismus-Debatten zutage tritt, widerspricht dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und der Gleichwertigkeit von Minderheiten.

Der naheliegende Weg, um bei Muslimen negative Vorurteile über Juden abzubauen, ist, Muslime zu respektieren. Ein Antirassismusbeauftragter könnte vielleicht für dieses Ziel nützlich sein; ein Antisemitismusbeauftragter ist es höchstwahrscheinlich nicht.

Sicherlich wäre aber die nachhaltigste Methode, um den inneren Frieden zwischen Muslimen, Juden und der Mehrheitsbevölkerung in den westlichen Gesellschaften zu wahren, eine gerechte Lösung des Israel-Palästina-Konflikts anzustreben.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Bergmann, W., Chernivsky, M., Demirel, A., Gryglewski, E., Küpper, B., Nachama, A., & Pfahl-Traughber, A. (2017). Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, Drucksache 18/11970.
(2) Bergmann, W. (2002). Geschichte des Antisemitismus. München: Beck.
(3) Voigtländer, N., & Voth, H.-J. (2015). Nazi indoctrination and antisemitic beliefs in Germany. Proceedings of the National Academy of Science of the U. S. A., 112, 7931–7936.
(4) Staetsky, L.D. (2017). Antisemitism in contemporary Great Britain.
A study of attitudes towards Jews and Israel. London: Institute for Jewish Policy Research. http://www.jpr.org.uk/documents/JPR.2017.Antisemitism_in_contemporary_Great_Britain.pdf Zugriff am 21.9.2017
(5) So sagte der SPD-Vorsitzende Martin Schulz in der Fernseh-Kanzlerkandidatenbefragung vom 3.9.2017: "Es gibt zum Beispiel junge Palästinenser, Männer, die zu uns kommen, die mit einem tief verwurzelten Antisemitismus erzogen worden sind, denen muss man in klaren Sätzen sagen: 'In diesem Land hast Du nur dann einen Platz, wenn Du akzeptierst, dass Deutschland ein Land ist, das Israel schützt, dass das unsere Staatsräson ist.'"
(6) https://tachles.ch/news/verpruegelt-da-fuer-muslimisch-gehalten. Zugriff am 18.9.2017
(7) Jäckle, N. (2009). Die Ethnische Hierarchie in Deutschland und die Legitimierung der Ablehnung und Diskriminierung ethnischer Minoritäten. Dissertation Universität Marburg. http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2008/0475/pdf/dnj.pdf. Zugriff am 22.9.2017.
(8) Zentrum für Antisemitismusforschung und Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung e. V. (2014). Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma. Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin
(9) Melzer, A. (2017). Die Antisemitenmacher. Wie die neue Rechte Kritik an der Politik Israels verhindert. Frankfurt/Main: Westend.
(10) www.projektkritischeaufklaerung.de
(11) Kempf, W. (2015). Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee. Eine Spurensuche. Berlin: Regener.
(12) Sharansky, N. (2004). Antisemitismus in 3-D. Die Differenzierung zwischen legitimer Kritik an Israel und dem sogenannten neuen Antisemitismus. haGalil.com. Jüdisches Leben online.
http://www.hagalil.com/antisemitismus/europa/sharansky.htm (abgerufen 11.7.2017).
(13) Cotler, I. (2006). The disgrace of Durban – five years later. National Post, 12. September 2006, A20.
(14) Kempf, W. (2018). Kommunikationsbarrieren in der Auseinandersetzung zwischen Unterstützern und Kritikern der israelischen Palästinapolitik. Conflict & Communication Online, 17/1, zur Veröffentlichung angenommen.
(15) Klug, B. (2014). What do we mean when we say "antisemitism"? Echoes of shattering glass. Proceedings / International conference "Antisemitism in Europe Today: the Phenomena, the Conflicts", 8.-9. November 2014. https://www.jmberlin.de/sites/default/files/antisemitism-in-europe-today_2-klug.pdf (abgerufen 24.9.2017).
(16) Verleger, R. (2014). Der 4D-Effekt. The European, 16. 9. 2014. http://www.theeuropean.de/rolf-verleger/8986-israels-politik-beschaedigt-das-judentum . Zugriff am 23. 9. 2017
(17) Verleger, R. (2017). 100 Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus. Frankfurt/Main: Westend.
(18) Alpher, R. (2017). Opinion: Israeli minister Shaked takes after Mussolini. haAretz, 10. 9. 2017, http://www.haaretz.com/opinion/.premium-1.811399
(19) Boehm, O. (2016). Liberal Zionism in the age of Trump, New York Times, 20. 12. 2016. http://www.nytimes.com/2016/12/20/opinion/liberal-zionism-in-the-age-of-trump.html.
(20) Frindte, W., Boehnke, K., Kreikenbom, H., & Wagner, W. (2011) Abschlussbericht "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland": Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland. Berlin.
(21) Simon, B. (2017). Grundriss einer sozialpsychologischen Respekttheorie. Psychologische Rundschau 68:241-250.


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