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Der Nutzen der Gewalt

Der Nutzen der Gewalt

Auch lang andauernde und scheinbar erfolglose Kriege zahlen sich für die Mächtigen aus. Exklusivabdruck aus „Krieg im 21. Jahrhundert“.

Viele Kriege der Geschichte entschieden über die Existenz der Staaten, die sie führten. Das Nazi-Regime begann den Zweiten Weltkrieg zur völligen Umgestaltung und Unterwerfung Europas, er führte zur Zerschlagung der Nazi-Diktatur. Die Perserkriege sicherten die Unabhängigkeit der griechischen Staatenwelt und verhinderten die Dominanz des Persischen Reiches in Griechenland. Und der amerikanische Unabhängigkeitskrieg endete mit der Zerschlagung der Südstaatenföderation als Staat und der Abschaffung der Sklaverei. Der Erste Weltkrieg brachte den Zusammenbruch des deutschen und österreichischen Kaiserreiches und des russischen Zarenreiches sowie die völlige Umgestaltung des Balkans und die Gründung mehrerer neuer Staaten.

Solche existenziellen Kriege wurden in der Regel besonders blutig und unter Einsatz aller staatlichen und gesellschaftlichen Ressourcen geführt. Wenn es um die eigene Existenz geht, werden alle Mittel mobilisiert, über die ein Land verfügt — und Opfer in Kauf genommen, die man für begrenztere Kriege nicht akzeptieren würde.

Der „totale Krieg“ war der Gipfelpunkt dieser existenziellen Kriege. Die ganze Gesellschaft wurde in seinen Dienst gestellt. Dies stand im direkten Gegensatz zu anderen, früheren und begrenzten Kriegen, etwa den Kabinettskriegen des Absolutismus. Bei ihnen ging es vor allem um eine oft subtile Verschiebung des internationalen oder regionalen Machtgleichgewichts, oder um begrenzte Gebietsansprüche — so die Eroberung Schlesiens durch Preußen im Ersten Schlesischen Krieg (1742).

Solche Kriege konnten die finanziellen Möglichkeiten der frühmodernen Staaten oft überfordern, wurden aber kaum je zu existenziellen Auseinandersetzungen, bei denen es ums staatliche Überleben ging. Deshalb wurden sie auch kaum jemals „total“, also unter Anspannung aller Kräfte und Möglichkeiten geführt — was eine Einbeziehung der ganzen Gesellschaft erfordert hätte, die für absolute Herrscher undenkbar war.

Inzwischen erleben wir relativ häufig Kriege, bei denen eine Kriegspartei sich existenziell bedroht fühlt oder dies tatsächlich ist, während dies für eine andere nicht zutrifft, und sie den Krieg eher nebenbei führt. Meist ist dies der Fall, wenn nichtstaatliche Akteure eines armen oder Entwicklungslandes sich im Krieg gegen staatliche, oft ausländische Länder befinden, also etwa bei Aufständen beziehungsweise Aufstandsbekämpfung.

Für die Kämpfer einer ethnischen Minderheit, einer säkular-nationalen Befreiungsbewegung, für lokale religiöse Extremisten oder internationale Jihadisten können solche Kriege von existenzieller Bedeutung sein, also über die eigene Existenz entscheiden — während es etwa für die USA und ihre Verbündeten nur um ein regionales Problem oder eine begrenzte Bedrohung geht. Selbst die Angriffe auf westliche Länder durch al-Qaida oder den sogenannten „Islamischen Staat“, so brutal sie auch waren, haben niemals auch nur ansatzweise die Existenz der USA oder Frankreichs in Frage gestellt, und wären dazu auch unter keinen denkbaren Umständen in der Lage gewesen — während der „Krieg gegen den Terror“ — neben anderen Zielen — gerade ausdrücklich auf die Zerschlagung und völlige Auslöschung dieser Organisationen zielte.

Auch für die Taliban ging es um ihre Existenz, während das Kriegsziel der USA letztlich in der Stabilisierung einer fremden — der neuen afghanischen — Regierung bestand. Deshalb führen nichtstaatliche Gewaltakteure ihren Krieg oft als totalen, während die intervenierenden Großmächte ihn begrenzt führen, um das normale Leben im eigenen Land möglichst nicht zu beeinträchtigen.

Letztere setzen nur einen Bruchteil ihrer Truppen ein, bemühen sich sehr um die Begrenzung eigener Verluste, behalten die Kriegskosten im Blick und verzichten vor allem darauf, die ganze eigene Gesellschaft zu mobilisieren und in den Dienst des Krieges zu stellen. Für sie ist der Krieg nur eine Aufgabe neben vielen anderen. Während es aus Sicht der Taliban um die Frage von Sieg oder der eigenen Vernichtung ging und alles andere dahinter zurückzutreten hatte, kämpften die westlichen Staaten den Krieg eher nebenbei, manchmal fast beiläufig — während sie zugleich mit zahllosen anderen innen- und außenpolitischen Fragen befasst blieben.

Der britische Ex-General Rupert Smith wies darauf hin, dass dies zu einer bestimmten Form der Kriegführung führte:

„In den industriellen Kriegen gab es die Notwendigkeit eines schnellen Siegs, da die gesamte Gesellschaft und der Staat ihm dienen mussten. Die gesamte Maschinerie des Staates konzentrierte sich auf dieses Unternehmen, während die Gesellschaft und Wirtschaft ihren natürlichen Lauf und ihre Produktivität vollkommen stoppten und dem Krieg nutzbar gemacht wurden. (…) Im neuen Paradigma sind militärische Operationen nur eine weitere Tätigkeit des Staates; und in der Tat, sind sie spezifisch darauf ausgelegt, nur das zu sein — wie die Beispiele der Kriege in Korea und Vietnam widerspiegeln: Sobald es eine bedeutende Gefahr gab, dass sich die militärische Operation zu sehr ausbreitete und sie über bestimmte Grenzen hinweg in die Zivilgesellschaft eindrang, wurde sie beendet, entweder durch die Änderung der Zielsetzung oder durch Rückzug. In anderen Worten: Moderne Militäreinsätze werden praktisch so behandelt wie eine von vielen Aktivitäten unserer Staaten und können fast unbegrenzt weitergeführt werden. Sie sind zeitlos“ (1).

Wenn es in diesem Sinne gelingt, die Intensität eines Krieges — aus der Sicht der externen Interventen — so weit zu begrenzen, dass die eigene Gesellschaft politisch, militärisch oder wirtschaftlich nicht zu stark belastet wird, können Kriege lange Zeit — gegebenenfalls auch über Jahrzehnte — fern der Heimat weitergeführt werden. Es ist ein Zufall, dass der Afghanistankrieg für die USA inzwischen der längste Krieg ihrer Geschichte ist. Solche Kriege sind nur für die schwache Seite existenziell, für die Großmächte optional.

Es stellt sich die Frage, welchen Sinn aus der Sicht der externen Krieg führenden Kriege haben sollten, die militärisch nicht gewonnen werden und extrem lange dauern. Anders ausgedrückt: Wenn Großmächte vor der Wahl stehen, einen entfernten, kleineren oder mittelgroßen Krieg entweder zu eskalieren und unter Einsatz aller Ressourcen zu führen, oder ihn als ungewinnbar oder wenig relevant zu beenden — warum entscheiden sie sich oft gegen beide Optionen und führen ihn stattdessen lange Zeit mit halber Kraft oder als Nebensache? Eine Antwort ist schwierig, weil sie in unterschiedlichen Fällen sehr unterschiedlich ausfallen müsste.

Erstens werden Kriege auf niedrigem Niveau weitergeführt, um durch ihre Beendigung und einen Rückzug das eigene Scheitern oder die Sinnlosigkeit des Krieges nicht zugeben zu müssen. Drei, fünf oder zehn Jahre Krieg in einem kleinen Land zu führen, um dann ohne Sieg die Truppen abzuziehen, stellt innenpolitisch ein Problem dar — gerade für Großmächte, in denen ein Sieg für selbstverständlich gehalten wird. Wozu die Opfer an Menschen, an Material, wozu die meist beträchtlichen finanziellen Kosten, wenn nach so langer Zeit kein erkennbarer Nutzen oder Vorteil vorzuweisen ist? Es besteht die Versuchung, das Erklären des Scheiterns lieber seinen Nachfolgern zu überlassen — die das möglicherweise ähnlich sehen. Die Alternative besteht darin, trotz aller Probleme einfach einen Sieg zu verkünden und abzuziehen.

Zweitens ist das Nicht-Erreichen der Kriegsziele möglicherweise weniger relevant, wenn diese Ziele entweder nie wirklich klar waren, oder inzwischen mehrfach beliebig geändert wurden. Darauf wurde oben am Beispiel der Bundeswehrentsendung nach Afghanistan hingewiesen. Bei vagen oder unbestimmten Zielen besteht die Gefahr einer Verselbständigung des Krieges, da sie ja weder erreicht noch verfehlt werden können, wodurch zwei wichtige Anreize zum Abzug oder zur Kriegsbeendigung fehlen. Unklare Ziele tragen von Beginn an den Keim der dauerhaften Kriegführung in sich. General Anthony Zinni schrieb in Bezug auf den Irakkrieg: „Da die politische Führung keinen formulierten, erreichbaren Endzustand vorgegeben hatte, brauchte sich niemand darum zu kümmern, ob wir unsere Ziele auch erreichten“ (2).

Drittens können solche Kriege sich extrem lange hinziehen, weil der Anreiz zu ihrer Beendigung vergleichsweise klein ist (3). Wenn ihre Kosten und die eigenen Verluste nach der Erkenntnis ihrer Ungewinnbarkeit noch einmal deutlich reduziert werden (wie im Irak und Afghanistan nach den offiziellen Beendigungen der Kampfeinsätze), dann können sie auf dem niedrigeren Niveau fast unbegrenzt fortgesetzt werden — wobei „niedriges Niveau“ für die Wahrnehmung der externen Kriegsparteien gilt, nicht aus der Sicht der Bevölkerung auf dem Kriegsschauplatz. Wenige Afghanen würden glauben, dass der Krieg zu einer unbedeutenden Nebensache geworden sei, nur weil US- und europäischen Truppen kaum noch Verluste zu beklagen haben. Tatsächlich ist die Zahl der Kriegsopfer in den letzten Jahren weiter gestiegen, was aber in Europa und den USA bei weitem nicht so ernstgenommen wird, wie eigene Verluste dies würden.

Viertens kann es Kriege geben, bei denen es trotz aller Rhetorik überhaupt nicht um einen „Sieg“ geht, sondern nur um die Vermeidung eines unerwünschten Ergebnisses oder um das Aufrechterhalten eines halbwegs stabilen Zustandes. Dazu sind aber oft unerreichbare militärische Triumphe gar nicht erforderlich, und ein dauerhafter Krieg auf kleiner Flamme kann bereits das angestrebte Ergebnis darstellen.

Wenn es nur darum geht, einem Gegner den Sieg vorzuenthalten, ihm zu demonstrieren, dass er keine Chance auf Erfolg hat, dann mag Zeit durchaus eine nützliche Ressource sein — und eine Verewigung des Krieges ein angemessenes Mittel. Allerdings: Ein solches Kalkül kann durchaus nach hinten losgehen. Die Taliban sind erneut ein gutes Beispiel. Ihnen dürfte immer präsent gewesen sein, dass sie keine Chance auf einen militärischen Sieg gegen die USA und ihre Verbündeten hatten — aber gegen diese durchzuhalten, eine Niederlage zu vermeiden, auf die Erosion des Regimes in Kabul und darauf zu warten, dass die westlichen Länder das Interesse und die Geduld verlieren, das war durchaus eine vielversprechende Strategie.

Schließlich darf man natürlich nicht vergessen, dass manche Kriege trotz fehlender Erfolge so lange weitergeführt werden, weil sich die Akteure in fernen, wohlhabenden Ländern Illusionen über seine zukünftige Entwicklung hingeben. Die Fähigkeit zum frommen Selbstbetrug, der jahrelang glaubt, eine Wende ins Positive stehe kurz bevor, war nicht nur im Vietnamkrieg und in Afghanistan erstaunlich stark ausgeprägt — ein Faktor, der die Beendigung eines Krieges sicher zusätzlich erschwert.

Die Führung begrenzter und potenziell dauerhafter Kriege ist aus der Sicht der externen Großmächte nicht immer sinnvoll oder akzeptabel, sondern wird nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen. Natürlich würden die Interventen einen schnellen Sieg einem langen Krieg in der Sackgasse vorziehen. Einen chronischen Krieg auf „kleiner Flamme“ zu akzeptieren, ist also nicht selbstverständlich. Eine zentrale Voraussetzung besteht darin, dass der Krieg die innenpolitische Debatte im intervenierenden Land nicht bestimmen darf.

Solange er im Zentrum steht, übt dies beträchtlichen Druck auf die Regierung und die ganze politische Klasse aus, ihn bald erfolgreich oder siegreich zu beenden.

Um chronisch zu werden, muss ein solcher Krieg sozusagen unterhalb des Radars der öffentlichen Aufmerksamkeit geführt werden, was auch ein geringes Medieninteresse bedeutet. Beides wird nur der Fall sein, wenn die Zahl der eigenen Truppen begrenzt oder gering ist und vorzugsweise sinkt.

Dann lässt sich glaubhaft machen, dass der Krieg für das eigene Land keine sonderlich hohe Bedeutung haben kann, sonst würde man ja stärkere Truppenkontingente entsenden.

Zugleich bedeuten geringe Truppenzahlen meist auch geringe Verluste — ein wichtiges Kriterium, um innenpolitische Kritik zu vermeiden. Dies lädt auch zu bestimmten Formen der Kriegführung ein: Wer Verluste vermeiden möchte, wird Soldaten möglichst wenig in kleinen Gruppen auf Patrouillen in schwieriges Gelände schicken, sondern zu Luftangriffen aus großer Höhe oder Drohnenangriffen greifen, oder zu größeren konventionellen Operationen, bei denen man einem in kleineren Gruppen operierenden Gegner massiv überlegen ist. Solche Taktiken können die Verluste tatsächlich in Grenzen halten — aber sie können den Krieg auch verlängern, da sie gerade in unkonventionellen Kriegen oft entweder nutzlos sind oder durch ihre „Kollateralschäden“ — vor allem Opfer unter Unbeteiligten und Zivilisten — den Kampf des Gegners legitimieren und ihm zusätzliche Unterstützung zutreiben.

Wie mit Krieg umgehen?

Diskussionen über Krieg unterliegen gewissen Moden und erfolgen im Rahmen wechselnder begrifflicher Vorlieben. Dabei sind neue Begriffe oft die Flaggen, die Freund und Feind schon von weitem anzeigen, welche intellektuellen Truppen sich unter ihnen versammeln. Begriffe wie „neue Kriege“, „hybride Kriege“, oder „asymmetrische Kriege“ sind Beispiele. Sie führen oft berechtigte Aspekte in die Diskussion ein, sollen aber zugleich die eigene Position markieren, sich von anderen Diskussionssträngen abgrenzen und ein erkennbares Markenzeichen etablieren.

Dies ist prinzipiell nicht verwerflich, kann die Diskussion aber unnötig unübersichtlich machen, insbesondere, wenn verschiedene Begriffe immer wieder den (mehr oder weniger) gleichen Sachverhalt in anderen Worten beschreiben, auch wenn dies wenig Nutzen mit sich bringt. An anderer Stelle wurde auf die Begriffe „Kleinkrieg“ („small war“), „Low-intensity warfare“ (LIC), „Military operations other than war“ (MOOTW) und andere damit verbundene hingewiesen, die den Eindruck jeweils neuer Diskussionen erwecken, aber tatsächlich nur alte neu verpackten.

Zugleich stammen solche Begriffe häufig vom — meist US-amerikanischen — Militär selbst, oder sie argumentieren aus dessen Perspektive. Dies schließt Erkenntnisgewinn nicht prinzipiell aus, aber es fokussiert die Debatte doch zu oft auf die bürokratische Umgruppierung von Kategorien und Unterkategorien von Kriegführung auf die Effektivierung westlicher Kriegführung, oder auf Beeinflussung der militärpolitischen Diskussion in den USA.

Die Diskussion unter westlichen Militärs ist oft bürokratisch oder technokratisch. Daneben gab es allerdings aufgrund der Erfahrungen in Afghanistan und dem Irak etwa ab 2004/05 für einige Jahre auch kluge und kreative Neukonzeptionalisierungen bestimmter Formen unkonventioneller Kriegführung, vor allem der Aufstandsbekämpfung. Auch wenn sie nach dem Ausscheiden ihrer beiden durchsetzungsstarken Protagonisten, der Generäle David Petraeus und Stanley McChrystal, und der Verminderung der US-amerikanischen Rolle in Afghanistan und dem Irak ab 2010/11 bald wieder versandeten, war es den US-Streitkräften doch gelungen, differenzierte und realistische Konzepte für die Aufstandsbekämpfung zu entwickeln, die die frühere Fixierung auf Feuerkraft, Masse und Technologiegläubigkeit überwanden. Statt auf „Body Count“, also das Zählen toter Feinde, wollte man nunmehr auf die Gewinnung der Loyalität der Bevölkerung durch die Einführung wirksamer und legitimer Regierungsstrukturen setzen, wie an anderer Stelle ausgeführt wurde.

Damit hatte man einen intelligenten Strategieansatz gefunden, der den politischen Charakter von Aufständen und Aufstandsbekämpfung begriff und ins Zentrum rückte. Zugleich warf dieser Ansatz die Frage auf, was das Militär strategisch eigentlich beizutragen hatte, um „wirksame und legitime Regierungsstrukturen“ herbeizuführen. Dies war sicher nicht die Kernkompetenz des US-Militärs oder anderer Streitkräfte, und deren Ausbildung und Selbstbild trugen dazu nichts bei.

Der Ex-Oberkommandierende des US Central Command — zuständig für den Nahen und Mittleren Osten —, General Anthony Zinni, formulierte das Problem in schöner Deutlichkeit:

„Das Militär ist verdammt gut darin, Menschen zu töten und Dinge kaputt zu machen. Und wir können hier sitzen und eine bessere Infanterieeinheit entwerfen, ein besseres Jagdflugzeug, ein besseres Schiff, einen besseren Panzer bauen. … Wir können gut mit den Symptomen umgehen. Wir sind großartig darin, mit taktischen Problemen umzugehen — dem Töten und dem Kaputtmachen. Wir sind extrem schlecht darin, die strategischen Probleme zu lösen; einen strategischen Plan zu haben, die regionale und globale Sicherheit zu verstehen und zu verstehen, was wir brauchen, um diese zu prägen, zu formen und sie voranzubringen“ (4).

Zinni beklagte die Notwendigkeit für das Militär, auch politische, kulturelle und wirtschaftliche Aufgaben übernehmen zu müssen, weil die zivilen Akteure dazu nicht in der Lage seien — obwohl das Militär dazu keinerlei Fähigkeiten hat. Damit dürfte bereits der Grund genannt sein, warum die neue und innovative Strategie zur Aufstandsbekämpfung so eindrucksvoll scheiterte: Sie stellte eine Selbstüberforderung dar, die dazu beitrug, dass sie kaum umgesetzt wurde. Viele Offiziere und Soldaten lehnten die neue Strategie entweder ab, setzten sie nur widerwillig um, oder fragten sich ratlos, wie sie überhaupt implementiert werden könnte. Das Ergebnis bestand in einer selektiven und fragmentierten Umsetzung einer eigentlich klugen Strategie. Ihr strategischer Kern, die Schaffung von Loyalität durch die Herstellung wirksamer und legitimer Staatlichkeit, blieb eine Leerstelle, umrahmt von oft hilflosen Versuchen, dies durch den Einsatz von Waffengewalt zu kompensieren.

Dies bedeutet für unser Verständnis von Krieg zweierlei.

Einmal unterstreicht es, und darauf wurde im Verlauf dieses Buches mehrfach hingewiesen, dass Krieg mal mehr und mal weniger Krieg sein kann — in anderen Worten, dass militärische Gewalt auch im Krieg nicht immer die gleiche Bedeutung hat — und dass sie manchmal auch im Krieg weniger wichtig und weniger entscheidend ist als politische und gesellschaftliche Faktoren. Dies ist aufgeklärten Offizieren durchaus bekannt, auch wenn sie aufgrund der institutionellen Kultur des Militärs oft keine praktischen Schlussfolgerungen daraus ziehen (können).

Zweitens lässt sich aus diesem Beispiel schließen, dass die Unfähigkeit des Militärs, mit den gesellschaftlichen und politischen Aspekten des Krieges zurechtzukommen, nicht an Denkfaulheit oder mangelndem Wissen liegt oder liegen muss — auch wenn es beides natürlich immer wieder gibt. Das Militär kommt mit diesen nicht-militärischen Dingen nicht zurecht, auch wenn es über kluge und reflektierte Konzepte und Strategien dafür verfügt.

Das Scheitern liegt sowohl an der institutionellen Kultur als auch am Charakter der Aufgabe, die vermutlich auch von zivilen Organisationen nur unter besonderen und besonders positiven Rahmenbedingungen zu bewältigen wäre. Der Aufbau wirksamer und legitimer Staatlichkeit in einem fremden Land, als strategische Kernaufgabe in Aufstandskriegen, lässt sich von außen nicht erreichen, wenn im Land selbst nicht starke politische Kräfte dies zu ihrem eigenen Projekt machen. Fehlt diese Grundvoraussetzung, dann wird nicht nur das Militär scheitern, sondern auch zivile Organisationen.

Drittens dürfen wir noch einmal festhalten, dass Kriege Prozesse der Zerstörung sind, und für sich genommen über die Destruktion hinaus wenig bewirken. Insofern macht es prinzipiell wenig Sinn, politische und strategische Ziele zu formulieren, die allgemein sind und auf Gestaltung zielen. Dazu wären zwei Voraussetzungen nötig: Entweder müsste nachweisbar sein, dass die Zerstörungsakte des Krieges oder sein Gesamtergebnis direkt zur Gestaltung einer Gesellschaft im gewünschten Sinne führen, was selten möglich ist, wenn die Ziele über den Sturz einer fremden Regierung, die Besetzung fremden Gebietes oder die Zerschlagung einer Streitmacht hinausgehen.

Nichts davon hat allerdings tatsächlich gestaltenden Charakter. Alternativ müsste nachgewiesen werden, dass die Zerstörungsakte des Krieges die Voraussetzungen für die eigentlich gewünschte Gestaltung der politischen Verhältnisse schaffen, und darüber hinaus, auf welche Weise, wie und durch wen die so geschaffenen Chancen zu einer Umgestaltung tatsächlich genutzt werden.

Genau daran hat es in vielen Kriegen der letzten Jahrzehnte gefehlt: In Afghanistan, dem Irak und Libyen haben die Kriege schnell und effizient vermocht, ihre Zerstörungsfunktion zu erfüllen — ihr Ergebnis blieb allerdings nicht nur deutlich hinter den Erwartungen zurück, sondern war das Gegenteil der politischen Absicht, nämlich verstärkte Instabilität, ungewinnbare Bürgerkriege und regionales Chaos. Die Ursache lag darin, den Krieg für die Lösung der politischen Probleme zu halten, anstatt nur für einen Destruktionsprozess, die Notwendigkeit politisch konstruktiver Gestaltung deshalb zu ignorieren, und keine ernsthaften Konzepte zu einer tatsächlichen Lösung der politischen Probleme zu entwickeln.

Krieg wird so an die Stelle von Politik gesetzt, anstatt als ihr Mittel zu dienen.

Spätestens seit Clausewitz sollte klar sein, dass dies zu katastrophalen Ergebnissen führt. Militär in einen Krieg zu schicken, es den dortigen Gefahren auszusetzen und seine beträchtlichen Gewaltpotenziale zu entfesseln, ohne eine konkrete Vorstellung zu haben, was die resultierende Zerstörung außer dieser selbst bewirken soll, ohne auch ein realistisches Ziel und Konzept für die Nachkriegszeit zu haben, ist nicht nur leichtfertig, es ist auch verantwortungslos und ein Zeichen von strategischer Inkompetenz.

Wenn wir dieses Kriterium anwenden, lässt sich kaum bestreiten, dass die Mehrheit der Kriege der letzten Jahrzehnte falsch, unsinnig und unverantwortlich war — womit über ihren meist völkerrechtlich fragwürdigen Charakter oder ihre katastrophalen Ergebnisse noch nichts gesagt ist. Dieses Argument ist offensichtlich nicht pazifistisch, führt aber zur gleichen Ablehnung der entsprechenden Kriege.

In der Vergangenheit wurde über Kriege in Europa sehr häufig aus einer Bekenntnisperspektive diskutiert. Es standen sich zwei diskursive Lager gegenüber, die unter den Parolen der „Verantwortung“ oder der des „Friedens“ argumentierten. Das erste bestand darauf, dass es so schreckliche humanitäre Katastrophen geben kann ─ Völkermord, ethnische „Säuberungen“ et cetera ─, dass auch der gewaltsame Einsatz vor Militär, also Krieg, gerechtfertigt sein könne, um diese zu beenden. Die Gegenposition insistierte, dass Krieg selbst so schrecklich sei, dass er nicht zu rechtfertigen sei, auch nicht von anderen Schrecken.

Beide Positionen bezogen sich gern und oft auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, und der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer meinte, dass sich hier die beiden Losungen „Nie wieder Auschwitz“ und „Nie wieder Krieg“ im Widerspruch gegenüberstünden.

Eine solche Sichtweise tat aber beiden Positionen wohl zu viel Ehre an. Tatsächlich führte diese „Pazifismus-Bellizismus-Debatte“, deren erste Runde anlässlich des Kosovo- und Jugoslawien-Krieges (1999) ausgefochten wurde, oft in die Irre und war von politischer Demagogie nicht frei. In modifizierter Form wurde die Diskussion nach dem 11. September 2001 fortgesetzt (5). Tatsächlich war diese oft pseudo-philosophische Debatte meist ein rhetorisches Schattenboxen, um sich den politischen und militärischen Grundfragen nicht stellen zu müssen, eine Flucht der Politik vor sich selbst in eine wolkige Wertediskussion.

Betrachten wir schrittweise die mögliche Legitimität von Kriegen, dann stellt sich zuerst die Frage nach der Legalität. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass illegale Kriege nicht geführt werden dürfen, da sie ja dem Völkerrecht widersprechen.

Das Völkerrecht — zerbrechlich wie es ist — stellt eines der wenigen Mechanismen zur internationalen Konfliktvermeidung, Konfliktbegrenzung und Konfliktüberwindung dar. Es ist nicht zu viel verlangt, wenn Soldaten und Zivilisten darauf bestehen, keine völkerrechtswidrigen, illegalen Kriege zu führen. Dies sollte eigentlich auch kein Streitpunkt zwischen seriösen politischen Akteuren sein, da die Geltung des Rechtes — auch des Völkerrechts — zum gemeinsamen Wertebestand aller seriösen politischen Strömungen gehört oder gehören sollte, von links über liberal bis konservativ und rechts. Wenn man das international vereinbarte Recht nicht als für alle verbindlich anerkennt, gibt es keine Regeln mehr — was das internationale System zusätzlich destabilisierte.

Allerdings ist offensichtlich, dass dieses eigentlich unbestreitbare Grundprinzip vor allem von Großmächten immer wieder gebrochen und sogar bestritten wird. Dies gilt für Demokratien wie autoritäre und diktatorische Staaten. US-Präsident Bush machte aus der Präferenz nationaler Eigeninteressen über das Völkerrecht und die UNO sogar eine außenpolitische „Doktrin“ (6).

Eine solche Arroganz der Macht sollte immer zurückgewiesen werden, unabhängig davon, wer sie vertritt. Dies erfordert keine pazifistische Gesinnung, auch keine Umdeutung des Begriffs „Verantwortung“, sondern nur das Akzeptieren des Rechts in den zwischenmenschlichen, nationalen und internationalen Beziehungen.

In einem zweiten Schritt erfordert die Bewertung der Legitimität eines Krieges die Untersuchung seiner immanenten Sinnhaftigkeit. Auch dazu ist kein Pazifismus erforderlich. Wenn ein Krieg sinnlos ist, weil er entweder keine klaren Ziele hat oder diese nicht erreichbar sind, kann er nicht legitim sein, sondern sollte von jeder vernünftigen Person, ob rechts oder links, abgelehnt werden. Auch Kriege, die aus innenpolitischen Gründen, zur Ablenkung von anderen Problemen, oder aus Prestigedenken geführt werden, können wir von vornherein als nicht legitim ausscheiden. Wir müssen darauf bestehen, dass Krieg eine zu ernste Sache ist, um ihn aus nichtigen oder rein rhetorischen Gründen zu beginnen.

Der dritte Schritt trägt stärker pragmatischen Charakter. Wir unterstellen bei ihm, dass der zur Debatte stehende Krieg klar definierte und erreichbare Ziele hätte. Dann stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise die militärische Gewalt tatsächlich dazu beiträgt, diese Ziele zu erreichen. Wird die Bombardierung irakischer Radaranlagen, Elektrizitätswerke oder Brücken, werden letztlich die Zerstörung des irakischen Militärs und die Eroberung von Bagdad die strategischen Kriegsziele erreichen, da diese ja kaum im Zerstörungsakt allein bestehen? Wird die Durchsetzung einer Flugverbotszone in Libyen oder anderswo tatsächlich zu Frieden oder einem Ende von Menschenrechtsverletzungen führen? Wird die Eroberung Afghanistans und des Irak im „Krieg gegen den Terror“ wirklich zu einem Ende des Terrorismus führen? Warum und auf welche Art sollte dies der Fall sein?

Solche Fragen sind keine Nebensächlichkeiten, wenn es die Legitimität eines Krieges zu bewerten gilt. Falls nämlich die diversen Mittel des Krieges nicht geeignet sind, dessen Ziele tatsächlich zu erreichen, dann brauchen wir über die Legitimität eines Krieges nicht mehr zu sprechen (7).

In den Debatten zwischen Bellizisten und Pazifisten ging dieser zentrale Punkt fast immer verloren: Die ersteren unterstellten immer, dass Krieg die Lösung eines drängenden Problems sei — Frieden, Menschenrechtsverletzungen, Völkermord, Massenvernichtungswaffen —, ohne sich der Mühe zu unterziehen, eine entsprechende Wirkung nachzuweisen. Und die Pazifisten waren mit ihrer grundsätzlichen Kritik an jedem Krieg so beschäftigt, dass sie wichtige Argumente gegen den bestimmten, bevorstehenden Krieg zu selten vorbrachten.

Eine Grundsatzdebatte über „Krieg und Auschwitz“ lenkte erfolgreich von der zentralen Frage ab, ob die jeweils nächsten Kriege — Somalia, Bosnien, Afghanistan, Irak, Libyen, Mali et cetera — überhaupt eine Chance hatten, ihre Ziele zu erreichen. Meistens war dies nicht der Fall, soweit es überhaupt klare Ziele gab. Krieg zu beginnen, ohne angeben zu können, wie dessen Ziele konkret und praktisch erreicht werden können, ist kaum mehr als Abenteurertum. Zur Ablehnung solcher Kriege bedarf es keines Pazifismus.

Wir haben in diesem Buch gesehen, dass Kriege nicht automatisch, durch eine göttliche Hand, ihre Ziele erreichen, und wie oft die Ergebnisse eines Krieges dramatisch davon abweichen, was die Kriegsparteien sich erhofft oder erwartet hatten.

Erst danach, als eventuelle vierte Stufe, stellt sich die Frage der eigenen Gesinnung, stellt sich die Frage nach einer bellizistischen beziehungsweise pazifistischen Grundeinstellung. Trotz der Skepsis über die Sinnhaftigkeit der pseudo-philosophischen und oft ritualistischen Debatten und des gelegentlich missionarischen Eifers mancher Protagonisten sollten viele Argumente beider Seiten ernst genommen werden. Und wenn alle rechtlichen, strategischen und Fragen der Wirkung geklärt sind, ohne einen Krieg aus solchen Gründen ablehnen zu müssen, dann können und dürfen die politischen oder philosophischen Grundorientierungen ins Spiel kommen.

Es ist schließlich denkbar, auch einen Krieg, der völkerrechtskonform ist, über klare und erreichbare Ziele verfügt und der diese Ziele zumindest prinzipiell auch erreichen könnte, aus politischen oder ethischen Gründen abzulehnen. Eine entsprechende gesellschaftliche Diskussion kann sinnvoll, notwendig und fruchtbar sein. Unser Argument hier ist nicht, dass sie prinzipiell unterbleiben sollte — sondern, dass die allermeisten Kriege bereits ausgeschlossen werden könnten und sollten, bevor eine solche Debatte erfolgt.

Die Debatte auf eine abstrakte Grundsatzebene zu heben, wenn ein Krieg bereits auf einer pragmatischen als unsinnig erscheint oder völkerrechtswidrig ist, ist politisch weniger klug, als den Krieg aus rechtlichen oder pragmatischen Gründen zu verhindern. Die pseudo-philosophische Grundsatzdebatte polarisiert, sie wird auch Liberale oder Konservative auf die Seite der Bellizisten treiben, die den eher pragmatischen Gründen der Kriegsgegner — zum Beispiel: „der Krieg kann seine Ziele überhaupt nicht erreichen“ — sonst folgen könnten.

Es ist schließlich das Ergebnis einer nüchternen Bestandsaufnahme, dass die große Mehrheit der Kriege der letzten Jahre ohne erkennbare Strategie, orientierungslos und improvisierend geführt wurde. Solche Kriege abzulehnen erfordert nur Vernunft, keine pazifistische Überzeugung.




Quellen und Anmerkungen:

(1) Smith, Rupert; The Utility of Force — The Art of War in the Modern World, London 2006, Seite 292.
(2) Anthony Zinni, Before the First Shots are Fired — How America can Win or Lose off the Battlefield, New York 2014, Seite 202.
(3) Hew Strachan, The Direction of War — Contemporary Strategy in Historical Perspective, Cambridge 2013, Seite 200.
(4) „How Do We Overhaul the Nation’s Defense to Win the Next War?" Address by General Anthony Zinni, U.S. Marine Corps (Retired), Crystal Gateway Marriott, Arlington, Virginia, 4 September 2003, online: http://www.mca-usniforum.org/forum03zinni.htm
(5) Jochen Hippler, Viel Rauch, aber wenig Feuer — Was der Pazifismus-Kritiker Ludger Volmer (Grüne) mit der Enttabuisierung des Krieges anrichtet, in: Frankfurter Rundschau, 11. März 2002, Seite 6.
(6) Die sogenannte Bush-Doktrin wurde in der National Security Strategy des Jahres 2003 formuliert und bestand im Kern darin, dass sich die USA nunmehr das „Recht“ auf „präemptive Verteidigung vorbehielten und die Geltung des Völkerrechts in solchen Fällen für sich ausschlossen.
(7) Ex-General Anthony Zinni nennt für den Widerspruch zwischen Mitteln und Zielen in Bezug auf Präsident Obamas Syrien-Politik einige Beispiele. Siehe: Anthony Zinni, Before the First Shots are Fired — How America can Win or Lose off the Battlefield, New York 2014, Seite 61, zu Irak und Afghanistan: Seite 176.


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