Seit der Jahrtausendwende wandeln sich die in Deutschland bis dahin allgemein verbindlichen Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen. Galt früher der soziale Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Klassen und Schichten als Ziel staatlicher Politik, so steht heute den Siegertypen alles, den „Leistungsunfähigen“ beziehungsweise „-unwilligen“ nach offizieller Lesart hingegen nichts zu. In einer „Winner-take-all“-Gesellschaft (Robert H. Frank/Philip J. Cook) zählt nur der ökonomische, sich möglichst in klingender Münze auszahlende Erfolg. Gleichzeitig hat Deutschland besonders unter jungen Menschen eine „Winner-loser-Kultur“ (Oliver James) nach angloamerikanischem Muster ausgebildet, die Klassen- und Schichtgrenzen zementiert und Solidarisierungsprozesse erschwert oder verhindert.
Unter dem wachsenden Einfluss des Neoliberalismus und des angloamerikanischen Sozialmodells hat sich das Gerechtigkeitsverständnis in Deutschlands zuletzt offenbar jenem der USA angenähert. Maßgeblich geprägt wird es von den wirtschaftlichen, politischen, medialen und wissenschaftlichen Eliten, also jenen Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Machtposition größeren Einfluss auf öffentliche, mediale und Fachdiskurse, aber auch das Alltagsbewusstsein nehmen können. Es gab deutliche Einstellungsveränderungen, die man als US-Amerikanisierung der Haltung zu verteilungs-, steuer- und sozialpolitischen Grundsatzfragen bezeichnen könnte.
Entsolidarisierung als Folge der gesellschaftlichen Polarisierung
Angesichts der Boni für „raffgierige“ Investmentbanker und der hohen Abfindungen für unfähige Manager, die Firmenpleiten herbeigeführt hatten, erkannten zwar immer mehr Menschen, dass es sich bei dem meritokratischen Dogma um einen Mythos handelt. Kapitalkräftige „Leistungseliten“ oder Gruppen, die sich für eine solche hielten, vertraten ihre Eigeninteressen jedoch sehr viel rücksichtsloser als in der „alten“ Bundesrepublik, weil sich die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit seither zu ihren Gunsten geändert und ideologische Deutungsmuster an Bedeutung gewonnen hatten, die ihre Privilegien legitimieren. Daher muss Ungleichheit hierzulande seit geraumer Zeit kaum mehr gerechtfertigt werden.
Unter den Angehörigen der Wirtschaftselite ist mehr denn je das Bewusstsein verbreitet, dass ihr Reichtum legitim, weil von ihnen „schwer erarbeitet“ sei. Dazu dürfte die Hegemonie, das heißt die öffentliche Meinungsführerschaft des Neoliberalismus mit seiner Vergötterung der persönlichen Leistung und des in ökonomischen Kennziffern messbaren Erfolgs, entscheidend beigetragen haben.
Je nachdem, ob die politische Kultur eines Landes wie der USA das Reichsein weniger Familien und das Armsein vieler anderer Bürger/innen durch ein meritokratisches Gerechtigkeitsverständnis legitimiert oder ob sie wie in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern stärker für die Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wie für die Untergrabung der Demokratie durch sozioökonomische Polarisierungstendenzen sensibilisiert ist, werden die Legitimitätsgrenzen für Ungleichheit anders gezogen.
Wo die Toleranzgrenze für sozioökonomische Ungleichheit genau liegt, ist schwer zu bestimmen und hängt von den parlamentarischen Machtkonstellationen, dem gesellschaftlichen Klima und der politischen Kultur beziehungsweise den sie beherrschenden geistigen, weltanschaulichen und religiösen Traditionslinien eines Landes ab. Auf die politische Gretchenfrage „Wie viel Ungleichheit (v)erträgt die Demokratie?“ gibt es unterschiedliche Antworten.
Je nachdem, ob die politische Kultur eines Landes, wie jene der USA, das Reichsein weniger Bürger und das Armsein vieler anderer Bürger/innen durch ein meritokratisches Gerechtigkeitsverständnis legitimiert oder ob sie, wie in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern, stärker für die aus einer sozialen Zerklüftung erwachsende Bedrohung des Zusammenhalts der Gesellschaft wie der Demokratie sensibilisiert ist, werden die Legitimitätsgrenzen für Ungleichheit anders gezogen.
Verhöhnung der sozial Benachteiligten in der Hartz-IV-Gesellschaft
Wie der Reichtum in einem vom Neoliberalismus beeinflussten Land als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, selbst wenn diese im Falle einer Börsenspekulation auch ganz schlicht darin bestehen kann, den guten Tipp eines Anlageberaters zu befolgen, wird Armut umgekehrt nicht als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal begriffen, das eine gerechte Strafe für den fehlenden Willen oder die Unfähigkeit darstellt, sich beziehungsweise seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen. Durchaus folgerichtig werden Transferleistungen beanspruchende Langzeit- und Dauererwerbslose heute stärker als „Sozialschmarotzer“ etikettiert, stigmatisiert und diskriminiert als vor der neoliberalen Wende.
Mit der „Agenda“-Politik war ein sozialer Klimawandel verbunden, der Arme zum Objekt von Erniedrigung, Demütigung und Ausgrenzung machte. Die rot-grünen, durch spätere Bundesregierungen noch verschärften Reformen haben den Wohlfahrtsstaat und Deutschland insgesamt so tiefgreifend verändert, dass man ohne Übertreibung von einer „Hartz-Gesellschaft“, einem „Hartz-Kapitalismus“ oder einer „Hartz-IV-Republik“ sprechen kann.
Durch die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze haben sich der Sozialstaat, wie man ihn bis dahin kannte, und die deutsche Gesellschaft insgesamt merklich verändert. Gleichwohl ist sie für den damit verbundenen Wertewandel und den massenhaften Verlust an Lebensqualität für sämtliche Bevölkerungsschichten kaum sensibel: Erwerbslose, Arme und ethnische Minderheiten stoßen auf noch größere Ressentiments, wohingegen Markt, Leistung und Konkurrenz zentrale Bezugspunkte der Gesellschaftsentwicklung geworden sind. Heute findet die Maxime „Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt“ erheblich mehr Widerhall als zu einer Zeit, da man die SPD mit der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität als traditionellen Grundwerten im parteipolitischen Raum noch für die berufene Interessenvertreterin der „kleinen Leute“ hielt.
Quellen und Anmerkungen:
Redaktionell bearbeiteter Auszug aus Christoph Butterwegges Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“, das am 20. November 2019 im Verlag Beltz Juventa erschienen ist.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.