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Der Widerstand im anderen Land: Politik auf der Leipziger Buchmesse

Der Widerstand im anderen Land: Politik auf der Leipziger Buchmesse

Öffentliche Reaktionen auf die Leipziger Buchmesse frohlocken über eine Rückkehr des Politischen in die Literaturlandschaft Deutschlands. Ein Nachprüfen dieser Feststellung lohnt sich.

Ich muss noch zwei weitere der fünf riesigen Messehallen durchqueren, ehe ich am Ziel bin. In der einen versammeln sich Institution zur Leseförderung für den modernen Menschen, der ja eher vor der Glotze abhängt.

Doch die TV-Medien haben sich gleich in der Nachbarhalle sichtbar finanzstark mit opulenten Ständen aufgestellt, um ihre Programme auf der Buchmesse zu vermarkten.

Buchverlagen bleiben schließlich noch zwei der fünf Hallen zur Verfügung. Neugierig betrete ich eine von beiden und erblicke die typischen Messestände der Verlage, Bücherregale, meist im Karree gestellt, so dass dazwischen Tischchen mit Stühlen stehen, an denen sich Verleger, Buchhändler, Literatur-Agenten und Autoren zu Gesprächen treffen oder Leser in den Neuerscheinungen blättern. Viele solcher Messestände präsentieren mehrere Verlage, um die Kosten zu teilen, die sich ein einzelner herkömmlicher kleiner Buchverlag nicht leisten kann. Das Geschäft mit dem Buch ist dank Amazon und co. schon lange kein lukratives mehr und zwingt den Verlegern eine Bestseller-Logik auf. Nur, wer einen Harry Potter, Steven King oder im Verhältnis Entsprechendes im Programm hat, kann verlässlich Gewinn machen. Ein Branchen-Zustand, der selbstverständlich die Wahl der Autoren, Themen und Genre beeinflusst.

In den traditionellen Verlagen für deutsche Literatur leuchtet mir optisch eine Schwemme von Krimis und Thrillern entgegen, vor zwanzig Jahren ein undenkbares Bild. Man muss fast suchen, um noch den klassischen Roman, das klassische Sachbuch zu finden. Wo ich sie finde, gehe ich auf Themen-Check. Auf welche Geschichten setzen die Verleger von heute, wenn sie eine Neuerscheinung wagen? Was ist der Trend? Und ja, er ist tatsächlich politisch. Ich finde Geschichten über den arabischen Frühling, kritische Auseinandersetzungen mit der russischen Gesellschaft, Bücher über die „neuen Rechten“, Warnungen und „Enthüllungen“ über Trump und Le Pen, Geschichten über Flüchtlinge.

Weiterhin ist viel Historisches zu entdecken. Das klassische deutsche Thema, die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit bleibt ein Endlos-Seller, hinzu kommen Geschichten aus der DDR, allesamt geprägt von politischer Diktatur und Überwachung. Aber auch die ältere Historie liefert Themen und so manches Buch entdeckt noch einen Widerstandshelden im Schatten der Geschichte.

Schon bald kommt bei mir die Frage auf:

Wo ist, bei einer derart hohen Wachsamkeit für die Schwachpunkte fremder oder vergangener Gesellschaften die kritische Reflexion über das eigene Land?

Themen gäbe es genug. Hartz IV-Sanktionen, prekäre Arbeitsverhältnisse, überhaupt die erschreckende Armutsentwicklung in einem der reichsten Länder der Welt. Und was ist mit der aktiven Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen, den Schuldendiktaten, die dank der aktiven Rolle der deutschen Regierung zu bitterster Armut in Süd-Europa führen, ganz zu schweigen von der Beteiligung am IWF und seiner Schuldendiktatur in aller Welt.

Auch hier müsste sich doch Widerstand regen. Deutschland war die kulturelle Heimat von Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Karl Kraus, Thomas und besonders Heinrich Mann, Heinrich Böll, Autoren, die mit ihrer Literatur ein kritisches Weltbild hinterlassen haben, das uns heute Lehre ist. Ich finde nichts Vergleichbares.

Mag sein, dass die kritischen Themen in dem einen oder anderem Krimi oder Thriller oder auch Roman anklingen, als Hingucker oder sogenannte Spitzentitel stehen sie nirgendwo im Fokus.
Geschichten, die in der Gegenwart spielen handeln dann eher doch von Beziehungs- und Familiengeschichten, von der Begegnung mit recht sonderbaren Menschen. Kritik am Gegenwärtigen taucht allenfalls beim Humorigen auf, etwa bei bitteren Witzen über den Pflegenotstand im Industriestaat.

Schließlich gehe ich zur Ecke der linken Verlage. Hier finde ich den optimistisch gelb leuchtenden Stand der Jungen Welt, tatsächlich ein Lichtblick, zwar nicht als klassische Literatur, aber wenigstens als Zeitung, die auf ihre kritische Berichterstattung hinweist. Leider ist das Blatt jedoch auch dafür bekannt, dass es im eigenen Land an der Diffamierung einer Widerstandsbewegung mitgewirkt hat, den Mahnwachen für den Frieden, die sich nicht komplett der Kontrolle durch die traditionelle Linke beugen wollten.

In ihrer Nähe Buchverlage mit sogenannter „linker“ Literatur, ein neuer hat sich gerade erst gegründet, weil das Interesse in diesem Segment stark gestiegen sei, vernehme ich. Hoffnungsvoll schaue ich mir die Titel an. Ja, hier finden sich einige sozialkritische Themen, doch bis auf ein Buch, das eine kritische Auseinandersetzung mit der Sozialismus-Idee und Sarah Wagenknecht verspricht, stehen die Belange der Verlierer des Neo-Liberalismus nur wenig im Vordergrund. Der Verlag präsentiert gleich mehrere Titel „gegen Rassismus“ und Sachbücher, die über AfD und Pegida aufklären. So berechtigt diese Titel auch sein mögen, aber es fällt doch auf, dass es auch in diesem linken Verlag kaum Bücher gibt, welche die Machenschaften der Finanzelite untersuchen, die globale Militärdiktatur der NATO, und vor allem die sich verschärfenden Ausbeutungsverhältnisse im eigenen Land und in einer globalisierten Wirtschaft.

Vielleicht habe ich ja was übersehen.

Ich frage eine junge Mitarbeiterin: Habt ihr denn auch ein Buch über diejenigen, die für die Politik in Deutschland verantwortlich sind? Regierungsmitglieder, Wirtschaftsverbände oder Ähnliches?“
Sie antwortet mir: „Die kritisieren wir doch, indem wir AfD und Pegida kritisieren, weil, die sind ja für die Entstehung der Neurechten verantwortlich.“

Ich wiederhole den Gedanken: „Das heißt also, ihr kritisiert das herrschende politische System, indem ihr AfD und Pegida kritisiert?“

Die junge Dame versucht den Gedanken abzustreiten, und in ihrem Sinne richtigzustellen. Wortreich und mit immer neuen Argumentationsschleifen. Doch was nicht logisch ist, lässt sich auch mit allen Worten der Welt nicht schlüssig darstellen.

Mein einziger Schluss ist: Anstatt gegen die Herrschenden vorzugehen, hat sich dieser Verlag zur Aufgabe gemacht, gegen Mitbürger zu polemisieren, die sich auf politischen Irrwegen befinden. Das mag seine Berechtigung haben, aber so lange man diesen Menschen nicht auch Literatur liefern kann, in denen sich berechtigter Widerstand formuliert, wird man sie vermutlich nur schlecht überzeugen können.

Aber Menschen, die bei Pegida demonstrieren, will die junge engagierte Linke ohnehin nicht erreichen. Denen begegnet sie nur noch mit Gegendemonstrationen.

„Aber Sie arbeiten doch für einen Verlag! Wie wäre es mit Aufklärung?“, frage ich.

„Mit denen kann man nicht mehr reden“, stellt sie ein für alle Mal fest.

Und damit formuliert sie ein Dogma, das offensichtlich längst in unserer Gesellschaft angekommen ist.

Am Stand eines sehr etablierten Verlages werde ich Ohrenzeugin eines Gespräches zwischen zwei Literaturagentinnen und einem Verleger. Sie preisen ein Autorenteam an, das die Frage verfolgt: Sollen wir mit den Neurechten reden, und wenn ja, dann wie? Der Verleger zeigt Begeisterung. Da bleiben wir dran!

So sehr ich die dieses Buchprojekt im Kern begrüße, aber es zeigt doch, wie tief unsere Gesellschaft gesunken ist. Die Kommunikation mit Andersdenkenden: Ein Buch, das Kassenerfolg verspricht!

Nach siebzig Jahren demokratischer Gesellschaft! Viel können wir Deutschen in dieser Zeit nicht gelernt haben.

Die derart Ausgegrenzten präsentieren sich auf der Buchmesse aber auch höchst selbst. In der zweiten Messehalle für Verlage sieht man schon von weitem den Messestand des Compact-Magazins. Er ragt als überdimensionaler tiefschwarzer Würfel über dem bunten Buch-Gewimmel der Verlage auf. Er besteht als einziger Stand nicht aus Buch-Regalen, sondern eben jenem tiefschwarzen Kubus, in dessen Inneren man bei näherem Hingehen eine ebenso schwarze Theke erblickt, hinter der sich mehrere Männer in dunklen Anzügen verschanzen und mit dem Gesichtsausdruck von Türstehern die aktuellen Ausgaben des Magazins anbieten. Hinter ihnen mehr oder weniger offene Hassplakate gegen Merkel und Co.

Weit und breit das einzige offene Bekenntnis zum politischen Widerstand im eigenen Land, auf eine Art und Weise, die, man kann es nicht anders sagen, plump, aggressiv und bedrohlich wirkt. Die aber gezielt all jene ansprechen, die sich unverstanden fühlen und nicht widergespiegelt in der heutigen Medien- und Kulturlandschaft.

Es fand sogar eine Demonstration gegen den Messe-Auftritt des Compact-Magazins statt. Doch was soll diese offene Feindschaft bewirken außer die pure Selbstbestätigung für die Unverstandenen, die nun noch mehr Fans dieses Verlages werden.

Das große Verständnis für Flüchtlinge, das sich in zahlreichen Neuerscheinungen zeigt, ist eine wichtige und natürlich notwendige menschliche Geste, aber wo sind die einfühlsamen Geschichten über die alleinerziehende Mutter mit höchstem Verschuldungsstand und geringsten Job-Aussichten? Wo die Geschichten über Soldaten, die seit ihrer Rückkehr aus Afghanistan volltraumatisiert um ein Mindestmaß an Entschädigung kämpfen. Geschichten über Banker, die lieber arbeitslos werden als täglich vertrauensseligen älteren Kunden faule Geldanlagen aufzuschwatzen. Was davon kommt in unserer Gegenwartsliteratur vor? Wie wenig ist es im Vergleich zum großen Interesse für den gesellschaftlichen Widerstand in anderen Ländern? Sind erfolgreiche Autoren, die dem Druck ausgesetzt sind, mit jedem Buch einen neuen Bestseller zu schreiben, nicht in der Lage, solche Themen umfangreich zu recherchieren. Lehnen die Verleger entsprechende Manuskripte ab, weil sie geringes Interesse befürchten, weil sie auf ein Lesebedürfnis nach einer „Flucht in andere Welten“ setzen? Gibt es gar eine stille Zensur? Und wie viele der präferierten Bücher werden dank eines finanziellen Vorschubs einer Stiftung veröffentlicht, den kaum ein Verlag zurückweisen würde? Buch-Verleger kämpfen alle hart ums Überleben.

Am Abend habe ich noch einen ganz persönlichen Termin. Ein Buch gibt es, das den Widerstand im eigenen Land thematisiert. Allerdings den vor knapp dreißig Jahren in der Messestadt Leipzig. Den Anfang der sogenannten friedlichen Revolution, den eine Gruppe junger Leipziger gemacht hat, meist Schüler und Studenten. Ich gehörte damals nicht zum Kern, war aber am Rande aktiv und werde sogar namentlich erwähnt. Mit gemischten Gefühlen gehe ich zur Veranstaltung, freue mich, Freunde von damals wieder zu treffen. Das Buch ist das erste, das die politisch Aktiven des Anfangs der Wende dokumentiert, es ist gut geschrieben, mit vielen konkreten Details und einem Sinn für die Atmosphäre in der späten DDR, ihre Absurditäten, ihre Brüchigkeit.

Selbst der Leipziger Bürgermeister ist da und zeigt offenen Stolz auf die Widerständler der Vergangenheit, die nun als um die Fünfzig-Jährige gekommen sind.

Auf die Stühle, die für sie reserviert waren, haben sich Vertreter der Stadtprominenz gesetzt. So entscheidet sich ein Teil der damaligen Aktivisten, sich lieber auf den Boden zu setzen, an den Rand der Veranstaltung. Für mich die stimmigere Position.

Ich schaue mir diese Feier des vergangenen Widerstandes lieber von der Seite an. Ich ahne von Anfang an, was alles nicht gesagt werden wird. Und so ist es dann auch. Es wird nicht erwähnt, dass der Fortgang der Wende nichts mit den Zielen zu tun hatte, für die wir aktiv wurden. Eine soziale Marktwirtschaft mit einer offenen Demokratie und fairen Zukunftschancen für alle, in einer friedlichen Gesellschaft, das ist ein Traum, von dem ich heute weiter entfernt bin als damals. Von einer damaligen Aktivistin wird auf dem Podium klipp und klar festgestellt, dass der Widerstand von damals niemals gelungen wäre, hätten ihn die Medien der BRD nicht von Anfang an unterstützt.

Dass dieser Widerstand nicht einer neuen Demokratie sondern vor allem Investoren den Weg bahnte, die Subventionen absahnten und wieder verschwanden, wird aber nicht mehr thematisiert. Die Zeit sei dafür zu kurz gewesen, erklärt mir der Moderator später. Auch das Buch habe dafür keinen Platz gehabt, erklärte mir fast wortgleich der Autor.

Dabei ist es doch völlig offensichtlich, warum der Widerstand im anderen Land (das die DDR ja damals war) von unseren Medien so wohlwollend begleitet wurde.

Schon immer hat man die Rebellen im Feindesland unterstützt, um den Feind im politischen Kräftemessen zu schwächen. Das lernt jedes Kind, das sich die Filme der drei Musketiere anschaut. Der englische König unterstützt die französischen Rebellen um seinem Feind, dem König von Frankreich zu schaden, und umgekehrt. ARD und ZDF, die sich so solidarisch mit dem ostdeutschen Widerstand zeigten, haben letzten Endes auch nur eigene Interessen verfolgt und den Ostdeutschen einen Bärendienst erwiesen.

„Totaler Kontrollverlust“, so beschrieb eine Freundin, die zum Kernteam gehörte, das, was nach dem Mauerfall geschah. Der politische Einfluss der Revolutionäre der ersten Stunde wurde quasi aufgeschluckt, von nun an führten die Grünen das Zepter und trieben knapp zehn Jahre später Deutschland erstmals seit 1945 in einen Angriffskrieg. Die Revolution fraß ihre Kinder, wieder einmal.

So wie es den Aktivisten vom Tahir-Platz geschah und den friedlichen Demonstranten des Maidan.

Unsere große Solidarität mit dem Widerstand in anderen Ländern, so verständlich sie zunächst sein mag, bekommt mit solchen historischen Prozessen einen ziemlich schalen Beigeschmack.
Und ist es nicht auch wunderbar einfach, sich mit einer Revolution im andern Land zu solidarisieren? Auf jeden Fall wesentlich leichter als den Mut aufzubringen, Tabus im eigenen Land anzusprechen, Denkverbote zu brechen, die wirklich Schuldigen beim Namen zu nennen. Sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren, anstatt sie zurechtzuweisen. Oder eben als Literat von den Opfern unserer Gesellschaft zu erzählen, den Auswirkungen des Neoliberalismus, den stillen oder vielleicht auch gescheiterten Versuchen eines Widerstands, den es doch geben muss.

Es ist, als fände der Widerstand im eigenen Land in unserer Literatur nicht statt. Ein Zustand, den sich unsere Gesellschaft eigentlich nicht leisten kann.


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