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Die Demokratie stirbt

Die Demokratie stirbt

Die am wenigsten schlechte aller Staatsformen ist am Ende — aus mindestens drei Gründen. Exklusivabdruck aus „Was bleibt!? Das Beste aus 27 Jahren Zeitpunkt“.

Erstens: Die Selbstverteidigung ist ein Urrecht, das jedes Rechtssystem anerkennt, das diesen Namen verdient. Es ist sogar so heilig, dass in den meisten Fällen ungeschoren davonkommt, wer in der Wahl seiner Selbstverteidigungsmittel nicht eben wählerisch ist. Wer in seiner Existenz bedroht wird, soll sich wehren dürfen, und er darf dabei sogar ein wenig die Nerven verlieren, ohne gleich dafür büßen zu müssen. Was uns auf individueller Ebene als natürlichste Sache der Welt erscheint, wird uns auf der Stufe Gesellschaft verwehrt. Demokratien konnten noch nie mit existenziellen Problemen umgehen, genauso wenig wie andere Staatsformen auch. Meist wurden sie unterdrückt, bis die betroffenen Minderheiten sie auf ihre Art zu lösen versuchten, etwa in Form einer Abspaltung oder eines Bürgerkriegs.

Heute ist das anders. Die praktische, kleine, staatsrechtlich zu vernachlässigende Minderheit gibt es kaum noch. Wir alle zählen in der einen oder anderen Form zu Minderheiten, die von immer wechselnden Mehrheiten in den verschiedensten Fragen an den Rand gedrängt werden. Die Grenzen irren quer durchs Volk. Dazu kommt, und das ist das Entscheidende, dass die existenziellen Themen in dieser Zeit des technologischen Gigantismus sprunghaft zugenommen haben. Viele, früher gewöhnliche Sachfragen sind zu Entscheidungen über Sein oder Nichtsein geworden — Energie, Verkehr, Technologie, öffentliche Ordnung, Ausländerpolitik, internationale Zusammenarbeit, um nur ein paar Stichworte zu nennen. Existenzielle Fragen lassen sich nicht mit einfachem Mehrheitsentscheid beantworten.

Wenn 51 Prozent den Untergang beschließen, zum Beispiel in Form von Tatenlosigkeit angesichts der Umweltzerstörung, müssen die restlichen 49 Prozent diesen demokratischen Entscheid akzeptieren, oder dürfen sie sich wehren? Wie wir diese Frage beantworten, ist noch offen.

Das Recht auf Selbstverteidigung ist aber ein Naturrecht, das auf sozialer Ebene nicht lange verhindert werden kann, wenn die Minderheiten groß genug sind. Die Demokratie kann andrerseits mit einem Recht auf Selbstverteidigung nicht lange existieren; ihr Untergang ist deshalb eine geschichtliche Notwendigkeit.

Zweitens: Die Demokratie wird neben den existenziellen Problemen, mit denen sie nicht fertig werden kann, noch von einer zweiten Seite bedroht: der Zeit. Die wenigsten Menschen sitzen still für sich im Kämmerlein, studieren einen Sachverhalt und entschließen sich.

Die meisten Menschen müssen die zur Entscheidung anstehenden Probleme vielmehr aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachten, darüber lesen, selber Erfahrungen machen und mit anderen diskutieren können. Wer glaubt, etwas zum Thema zu sagen zu haben, muss Gelegenheit dazu haben, sonst sammeln sich unterdrückte Kräfte, die in einer Gemeinschaft gleich verheerend wirken wie bei einem Individuum. So reifen die Meinungen sukzessive, bis die Gemeinschaft eine für alle gültige Entscheidung treffen kann. Und das braucht seine Zeit! Nun ist das Tempo der Veränderungen so groß geworden, dass die demokratischen Strukturen schlicht und einfach überfordert werden.

Ein einziges Beispiel soll als Illustration genügen: Wenn der Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wie geplant auf den 1. Januar 1993 in Kraft treten soll, dann muss spätestens am 6. Dezember 1992 darüber abgestimmt werden können. Damit dies überhaupt möglich ist, müssten National- und Ständerat das umfassende Vertragswerk in bloß zwei Wochen durchberaten und dabei en passant noch den Zweikammer-Entscheidungsprozess außer Kraft setzen.

Im gleichen Zug sind 60 Gesetze, Verordnungen und andere Rechtserlasse anzupassen, über die allein bei ihrer Entstehung vielleicht ein Jahr debattiert wurde. Ausgerechnet über die wichtigste Vorlage seit der Staatsgründung 1848 wird in einem Tempo hinweggegangen, die jede demokratische Willensbildung ausschließt. Selbst wenn der Fahrplan etwas hinausgezögert wird und das Entscheidungsprozedere den Buchstaben nach eingehalten wird, ist das angeschlagene Tempo immer noch schneller, als das Volk zu folgen vermag.

In den Verhandlungen zwischenstaatlicher Organisationen — letzthin zum Beispiel beim Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) — ist das Tempo oft noch schneller. Da werden Vorschläge von größter Tragweite gemacht, über die innerhalb Tagen oder weniger Wochen entschieden werden muss. Diese Geschwindigkeit kommt einer Außerkraftsetzung des demokratischen Prozesses gleich. Dieses horrende Tempo — und das macht das Ganze ja so ausweglos — geht weniger von den Institutionen aus, die den demokratischen Fahrplan bestimmen, als vielmehr von den immer schnelleren Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld. Je weiter die Technologie voranschreitet, desto schneller treibt sie sich weiter und erschließt immer neue Möglichkeiten, die wirtschaftlich genutzt werden wollen beziehungsweise müssen. Individuell können wir vielleicht noch mit diesem Tempo mithalten, aber als Gruppe mit demokratischen Anpassungs- und Entscheidungsmechanismen sind wir einfach zu langsam.

Drittens: Die Demokratie wird noch aus einer dritten Richtung unter Beschuss genommen. Damit eine Demokratie funktionieren kann, muss der Raum, in dem die Entscheidungen gefällt werden und der Raum, in dem sie wirken sollen, identisch sein, und das ist je länger je weniger der Fall. Wenn wir beispielsweise über unsere Verkehrspolitik vernünftig entscheiden wollen, dann sollten möglichst alle, die davon betroffen sind, mitbestimmen können. Bei einer Dorfstraße ist das ohne Weiteres möglich, schwieriger wird es bei Autobahnen und fast unmöglich ist es bei internationalen Verkehrsverbindungen. Der Grund für die zunehmende Kluft zwischen dem politischen Raum und dem Raum, in dem eigentlich Entscheidungen getroffen werden müssten, liegt in der Ökonomisierung der Welt. Die wirtschaftliche Dynamik, die uns so viele Entscheidungen aufzwingt, hält sich nicht an politische Grenzen.

Im Gegenteil, es liegt gerade im Wesen des Handels, Grenzen aller Art zu überwinden. So sind wir auf allen Ebenen mit Fragen und Entscheidungen konfrontiert, die nicht mehr zu den bestehenden politischen Strukturen passen. Als Antwort auf das Wirtschaftswachstum, das uns größere Entscheidungsräume aufzwingt, einfach die demokratischen Einheiten parallel mitwachsen zu lassen, ist höchst problematisch. Eine demokratische Einheit kann eine gewisse Größe nicht überschreiten, sonst verkommt sie zur Scheindemokratie. Die Europäische Gemeinschaft (EG) ist ein typisches Beispiel dafür.

Das einigermaßen demokratisch zusammengesetzte Europaparlament hat praktisch keine Kompetenzen. Gesetzgeber der EG ist der Ministerrat mit seinen zwölf Mitgliedern, die sich keinem Volk zur Wahl zu stellen brauchen. Welches die ideale Größe für eine Demokratie ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine gemeinsame Identität — ein Wir-Gefühl — gehört vermutlich ebenso dazu wie der Umstand, dass die Mehrheit der Bewohner die Probleme ihres Zusammenlebens verstehen können sollte. Wenn der Raum zu groß und die daraus entstehenden Probleme zu komplex geworden sind, ist keine Demokratie mehr möglich.

Unter diesen drei Gesichtspunkten scheint mir der Zusammenbruch der echten Demokratie unausweichlich, selbst wenn dies heute kein besonders populärer Gedanke ist. In vielen Bereichen ist sie ja auch schon erfolgreich demontiert und kaschiert worden.

Wenn wir uns früher oder später damit abfinden müssen, einen Ersatz für die Demokratie zu schaffen, können wir uns getrost jetzt schon mit ihren Mängeln befassen. Der gewichtigste Nachteil der demokratischen Staatsform ist wohl der, dass sie den Egoismus legitimiert.

Demokratie heißt, dass jeder ohne soziale Ächtung seinen eigenen Vorteil mehren darf, wobei diejenigen Egoismen legitimiert werden, die von einer Mehrheit geteilt werden.

Wir werden, wenn wir auch in Zukunft gemeinsam entscheiden wollen, diesen kollektiven Egoismus überwinden müssen, auch wenn wir heute noch nicht sehen, wie wir das zustande bringen. Aber Not macht bekanntlich erfinderisch.

Erschienen in Zeitpunkt, Nummer 3, Juli/August 1992




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