„Schafft die Einheitsfront der Lebenden!“ — Diese Worte standen unter einer Karikatur in einer Zeitschrift der „Sozialistischen Arbeiterpartei“, SAP. Die Zeichnung zeigte Särge — mit den Namen der SPD, der KPD und des Gewerkschaftsbundes.
Die SAP war 1931 als Linksabspaltung der SPD entstanden und in der kurzen Zeit ihrer Existenz war ihr Hauptanliegen, die Bildung einer gemeinsamen Abwehrfront von SPD und KPD gegen den Faschismus zu unterstützen. Wie man weiß, misslang dies. Beide Parteiführungen weigerten sich konsequent, mit den jeweils anderen zusammenzuarbeiten, um die NSDAP gemeinsam zu bekämpfen. Stattdessen bekämpften sich Kommunisten und Sozialdemokraten bis zum bitteren Ende. So kam es dann tatsächlich zur „Einheitsfront der Toten“ — in den Konzentrationslagern von Dachau bis Buchenwald.
Ich dachte an diese Worte und dieses Bild, als ich vor gut zwei Wochen durch Erfurt lief. „Nicht mit uns!“ war das Motto der Demonstration. 18.000 Menschen strömten durch die kleine Landeshauptstadt mit ihren kaum 200.000 Einwohnern. Ich sah die Fahnen der Gewerkschaften, der SPD, der Jusos, der LINKEN, der Grünen. Den Block der Autonomen, diverse linksradikale Grüppchen und kommunistische Kleinstgrüppchen aller Lehren und Schattierungen. Dazu die Vertreter diverser Verbände, NGOs und anderer wohlmeinender Organisationen. Auf der Bühne sprachen Vertreter von Juden, Christen und Muslimen gemeinsam.
Das, so sagte ich mir, ist haargenau jene Einheitsfront, die vor 1933 in Deutschland gefehlt hat. Das ist die Macht, die Hitler verhindern hätte können und die heute das Erstarken des Faschismus stoppen kann.
"Aber Hartz IV! Aber Afghanistan!"
Ist das nicht völlig naiv? Ist die SPD nicht schuld an Hartz IV, an der Militarisierung der Außenpolitik, an Thilo Sarrazin? Haben die Grünen nicht längst eine olivgrüne Farbe angenommen?
Ja. Natürlich. All das ist sehr richtig.
Aber was war das für eine SPD im Jahre 1931 oder 1932? Diese Partei hatte erst mit wehenden Fahnen die deutschen Arbeiter in das Gemetzel des Ersten Weltkriegs gejagt. Anschließend hatten die SPD-Männer Friedrich Ebert und Gustav Noske die Revolution von 1918/19 blutig niedergeschlagen. 1929 hatte der sozialdemokratische Polizeipräsident Karl Zörgiebel erst alle Aufmärsche zum 1. Mai verboten, um anschließend in die aufmarschierenden, zumeist kommunistischen Arbeitermassen schießen zu lassen.
War diese SPD einen Deut besser als die heutige?
Nein, das war sie nicht. Sie war eher schlimmer. Dennoch hätte die KPD mit dieser SPD unbedingt zusammenarbeiten müssen. Nicht in allen Fragen. Nicht einmal in den meisten. Aber in dieser einen Frage: den Faschismus zu stoppen!
Stalins Schatten
Die KPD war damals aber bereits das Geschöpf Josef Stalins geworden. Die eigenständige Führung der deutschen Partei mit ihren gut 250.000 Mitgliedern war ersetzt worden durch Befehlsempfänger Moskaus. Dort erlegte man den deutschen Genossen eine „Theorie“, eine plumpe Dummheit vielmehr, namens „Sozialfaschismus“ auf. Demnach sei die SPD der „linke Flügel des Faschismus“, seien Hitler-Faschismus und Sozialdemokratie geradewegs „Zwillinge“.
Bei allen Verbrechen der SPD vor 1933: keinen Unterschied zu machen zwischen den Sozialdemokraten und der NSDAP war nun ein offenbarer Irrsinn. Die SPD war die große Bremserin innerhalb der Gewerkschaften — die NSDAP aber zerschlug die Gewerkschaften und ermordete unzählige ihrer Funktionäre und Mitglieder. Die SPD hatte im Angesichte des Krieges 1914 blutig versagt — die NSDAP hatte einen Weltkrieg als Ziel vor Augen, auf den sie konsequent hinarbeitete. Und was auch immer man der SPD sonst vorwerfen konnte: sie war ein sicherer Ort für Juden, sie trat für die Gleichberechtigung der Frauen ein, sie war Verfechterin einer zwar parlamentarischen, aber immerhin einer Demokratie.
Die Gleichsetzung der SPD mit der NSDAP stellte förmlich eine Verrücktheit dar, die lediglich eine gewisse Logik in den außenpolitischen Interessen Stalins besaß, was uns hier aber zu weit vom Thema führt. Entscheidend ist: Die größte kommunistische Partei außerhalb Russlands führte dieser ultralinke Kurs in den Untergang.
Mit dieser stalinistischen Dummheit im Gepäck nämlich bekämpfte die KPD die SPD erbarmungslos — und verweigerte gleichzeitig die Zusammenarbeit in einer antifaschistischen Einheitsfront.
Stattdessen verrannte sich die KPD-Führung sogar dazu, einen von der NSDAP angestrengten Volksentscheid aktiv zu unterstützen.
SPD-Toleranz vor 1933
Eine spiegelbildliche Katastrophenpolitik fuhr umgekehrt die SPD: diese aus blindwütigem Antikommunismus, Feigheit und verblendet von ihrer vermeintlich sicheren Einbettung in den bürgerlichen Staat der Weimarer Republik. Anstatt mit den Kommunisten gegen die Nazis zu kämpfen, kettete sich die SPD an den konservativen „Hungerkanzler“ Heinrich Brüning, dessen soziale Kahlschlagspolitik mitten in der Weltwirtschaftskrise die SPD-Reichstagsfraktion in einer De-Facto-Koalition „tolerierte“.
Leo Trotzki, der große, gescheiterte Gegenspieler Stalins, versuchte verzweifelt, von außen auf die deutsche Arbeiterbewegung einzuwirken, um eine Einheitsfront gegen den Faschismus zu erwirken. In seinem Text „Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?“ schrieb er 1931:
„Ebenso unsinnig ist die abstrakte Frage, wer das kleinere Übel ist: Brüning oder Hitler. (…) Wenn einer der Feinde mir täglich mit kleinen Giftportionen zusetzt, der zweite aber aus der Ecke hervorschießen will, so schlage ich vor allem diesem zweiten Feinde den Revolver aus der Hand, denn das gibt mir die Möglichkeit, mit dem ersten Feinde fertig zu werden. Das heißt aber nicht, daß Gift im Vergleich zum Revolver ein ‚kleineres Übel‘ ist.
Das Unglück besteht gerade darin, daß sich die Führer der deutschen Kommunistischen Partei auf den gleichen Boden gestellt haben wie die Sozialdemokratie, bloß mit umgekehrtem Vorzeichen: die Sozialdemokraten stimmen für Brüning, indem sie ihn als kleineres Übel anerkennen. Die Kommunisten aber, die Brüning und Braun in jeder Weise das Vertrauen verweigern (und das ist vollkommen richtig gehandelt), gingen auf die Straße, um Hitlers Volksentscheid zu unterstützen, das heißt den Versuch der Faschisten, Brüning zu stürzen.
Damit aber haben sie selbst Hitler als das kleinere Übel anerkannt, denn der Sieg des Volksentscheids hätte nicht das Proletariat an die Macht gebracht, sondern Hitler.“
Freilich ging diese verheerende Linie von den jeweiligen Parteiführungen aus. Die normalen Mitglieder hatten instinktiv den verzweifelten Wunsch, gegen die lawinenartig anwachsende Gefahr der NSDAP zusammenzustehen. Aber alle Versuche, die Einheitsfront von unten zu bauen, wurden vom jeweiligen Oben der beiden Arbeiterparteien streng geahndet.
Kann man aus der Geschichte lernen?
Aber ist nicht diese gesamte Überlegung, die hier präsentiert wird, schon deshalb unergiebig für unsere Gegenwart, weil die AFD eben nicht die NSDAP ist und man die heutige und die damalige Situation gar nicht vergleichen kann?
Freilich, die AFD ist nicht die NSDAP. Und ja: Historische Vergleichbarkeiten sind immer ein schwieriges Thema. Keine geschichtliche Situation gleicht der anderen auch nur annähernd so, dass Vergleiche, egal wie vorsichtig sie ausfallen, unproblematisch sein könnten.
Das gegenüberliegende Extrem wäre jedoch ein völliger Verzicht auf die Möglichkeit, aus der Geschichte Lehren zu ziehen. Dies würde uns als Menschheit der entscheidenden Wissensquelle für unsere Weiterentwicklung berauben. Wir wären dazu verdammt, ewig die gleichen Fehler zu wiederholen, was wir nun allerdings auch in der Tat mit erstaunlicher Beharrlichkeit tun.
So gibt es sehr wohl viele Muster, die — nicht in ihrem konkreten Dekorum und Detail, wohl aber in ihren Grundzügen — oft und oft wiederkehren. Nehmen wir die klassische Methode von Regierungen, zur Ablenkung von innenpolitischen Problemen einen militärischen Konflikt im Außen vom Zaun zu brechen. Diese Technik der Herrschaftssicherung lässt sich von der Antike bis zur Gegenwart an zahlreichen Stellen nachweisen.
Oder eben jene andere Herrschaftstechnik: im Angesichte wirtschaftlich desaströser Entwicklungen, die einen Großteil der Bevölkerung bedrohen und tendenziell rebellisch machen, den ganz großen Knüppel der Repression herauszuholen.
Ein repressiver Knüppel war, zweifellos, die Polizei unter dem sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Zörgiebel in Berlin, siehe oben. Aber die Knüppel und Knarren der SA und der anderen faschistischen Kampfverbände waren ungleich gefährlicher. Zörgiebels Polizei hielt die stark organisierte KPD in Berlin mehr schlecht als recht, aber mit erheblicher Brutalität und ohne nennenswerte legale Rücksichten in Schach. Das war schlimm und forderte Opfer.
Hitlers SA allerdings zerschlug KPD, SPD und Gewerkschaften mit militärischer Gewalt und losgelöst von jeglichen Hemmungen — bis von diesen starken Organisationen nichts mehr übrig war als einige illegale Zellen, ein Haufen KZ-Häftlinge und Tausende von frischen Gräbern.
Es ist keine Verharmlosung Zörgiebels, hier einen entscheidenden Unterschied zu erkennen. Zörgiebels Bullen waren die mit dem Gift. Hitlers SA waren die mit dem Revolver.
Wie gefährlich ist die AFD?
Man braucht die AFD andererseits nicht 1:1 mit der NSDAP gleichzusetzen, um die Gefahr, die insbesondere in Kombination mit einer weitverzweigten rechtsterroristischen Bewegung von ihr ausgeht, zu erkennen. Denn mindestens zwischen Bernd Höckes faschistischem „Flügel“ und dem Rechtsterrorismus gibt es viel eher eine mehr schlecht als recht maskierte Arbeitsteilung, denn einen fundamentalen Unterschied im politischen Wesen.
Viele Kommentatoren der Thüringer Ereignisse und der AFD allerdings, gerade in den digitalen Medien, gefallen sich dennoch darin, eine entschlossene Abwehr des neofaschistischen Terrors und der AFD besserwisserisch zu veralbern — vornehmlich, indem sie auf den Kosovokrieg oder andere Verbrechen der SPD oder der Grünen verweisen.
Ken Jebsen etwa stellt sich in der aktuellen Ausgabe von „Me, Myself & Media“ effektiv auf den Standpunkt, dass das Parteiensystem insgesamt abzulehnen ist und von daher ziemlich dümmlich ist, wer zwischen LINKE und AFD einen größeren Unterschied zu machen gedenkt. Nun ist unser Parteiensystem zweifellos in einem fortgeschrittenen Zustand der Fäulnis angelangt. Und sicherlich zeigt gerade auch die Regierung Ramelow in Thüringen die Grenzen des parlamentarischen Agierens deutlich auf.
Aber Ramelow ist nicht Bernd Höcke — und er ist auch nicht, wie Ken Jebsen ohne Beispiel und Quelle nahelegt — korrupt. Vielmehr ist Bodo Ramelow so ziemlich das, was in den 1980er Jahren noch Sozialdemokraten gewesen sind. Staatstragend und ein zweifellos wohlmeinender Mensch, zielt er darauf ab, den Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit durch vorsichtige Reformen fair zu moderieren.
Spätestens die nächste Weltwirtschaftskrise wird erweisen, dass dieser Ansatz nur in Schönwetterperioden den Anschein des Funktionierens erwecken kann. Von einer auf Disruption und konfliktorische Transformation angelegten Massenbewegung, wie wir sie bei Bernie Sanders sehen, ist ein Bodo Ramelow weit entfernt.
Die AFD allerdings ist von einem Ansatz, der auf die Mobilisierung der Massen zielt, nicht weit entfernt. Und dies ist das entscheidende Wesensmerkmal des Faschismus, das ihn von klassischen, sozusagen „normalreaktionären“ politischen Kräften unterscheidet.
Konservative oder Sozialdemokraten sind unter Umständen in der Lage und willens, politische Entscheidungen mit verheerenden, inhumanen Konsequenzen durchzusetzen. Sie gehen mitunter sehr weit, die Aushöhlung des Rechtsstaates und der (parlamentarischen) Demokratie voranzutreiben. Aber das Instrument ihres Wirkens ist jederzeit in erster Linie: der bürgerliche Staat.
Faschisten dagegen benutzen den bürgerlichen Staat mit seiner parlamentarischen Demokratie lediglich als Bühne und Machthebel. Ihr Ziel ist eine Konterrevolution: die Eroberung des bürgerlichen Staates durch eine sich radikalisierende Massenbewegung und die damit einhergehende Zerschlagung aller bürgerlichen Freiheiten.
Der Aufstieg der AFD ist daher ohne Pegida und Co. weder zu erklären noch zu denken. Und genau der faschistische „Flügel“ der AFD um Höcke ist es dann auch, der am deutlichsten darauf setzt, außerhalb der Parlamente und im Bündnis mit Kameradschaften, Rechtsterroristen und Schlägertypen für gesellschaftliche Macht zu sorgen.
Joseph Goebbels publizierte dazu 1928 den Satz:
„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir zerbrechen uns darüber nicht den Kopf. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren.“
In Erfurt steht die Einheitsfront
In der Weimarer Republik verweigerten jene gesellschaftlichen Kräfte den Schulterschluss gegen die Nazi-Gefahr, die am Ende ihre ersten Opfer wurden. Die Ergebnisse dessen kennen wir, und es war eine Grunderkenntnis der deutschen Arbeiterbewegung nach der Katastrophe von 1933 bis 1945, dass die Verweigerung der antifaschistischen Einheitsfront ein Fehler welthistorischen Ausmaßes gewesen war.
Wenn man vielen Kommentaren folgt, haben heute eine Menge Leute diese grundlegende Erkenntnis wieder verdrängt. Sie glauben etwa, dass die SPD so schlimm sei — sie ist schlimm! —, dass sich eine Zusammenarbeit mit ihr auch gegen die AFD verböte.
Genau das macht Thüringen, trotz aller Halbheiten des rot-rot-grünen Regierungsprojektes, zum Labor einer gesellschaftlichen Transformation von links. In Erfurt nämlich steht im Jahre 2020 die antifaschistische Einheitsfront, die vor 1933 fehlte. Die Reaktion auf die Wahl Thomas Kemmerichs mit Stimmen der AFD war stark, sie war entschlossen und sie ging über in massenhaftes, gemeinsames, politisches Handeln, wie etwa an jenem denkwürdigen Tag in Erfurt, als 18.000 Menschen sagten: Nicht mit uns!
Die zahlreichen Differenzen und die zum Teil erbitterte Kritik unter vielen der Beteiligten sind damit nicht in Schall und Rauch aufgegangen. Diese Differenzen und Kritikpunkte bleiben bestehen und müssen weiter ausgetragen werden. Keine AFD-Bedrohung sollte dazu führen, sie im Interesse einer Wischi-Waschi-Einheit „aller Demokraten“ unter den Teppich zu kehren. Eine Bewegung wird nicht stärker dadurch, dass sie aufhört, kritisch zu diskutieren oder Konflikte auszutragen, wenngleich eine solidarische Debattenkultur sehr wohl dazu gehört, wenn man stärker werden will.
„Getrennt marschieren, vereint schlagen“ — das war nun allerdings die Parole jener antifaschistischen Einheitsfront, die vor 1933 nicht zustande kam. Und genau darum geht es: Konflikte austragen, um den besten Weg ringen, sich knallhart kritisieren, wenn es nötig ist und gerade auch die SPD, die Grünen, die Linkspartei und die Gewerkschaftsbürokratie beißen und treten, wenn sie dabei sind, uns zu verraten — aber zusammenstehen gegen die gemeinsame Bedrohung des Faschismus.
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