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Die Entbildung

Die Entbildung

Corona-Maßnahmen haben dem Schulsystem in vielen Ländern Lateinamerikas schweren Schaden zugefügt.

Die Regierung veranlasste im April letzten Jahres die Umstellung des gesamten Erziehungssystems auf virtuellen Unterricht — natürlich mit der Begründung, die Gesundheit der Schüler und Lehrer schützen zu wollen —, um auf Plattformen wie Teams, Zoom oder WhatsApp den Unterricht zu bewerkstelligen. Voraussetzung des virtuellen Unterrichts ist Zugang zum Internet und natürlich Strom; etwas, worüber viele panamaische Familien nicht verfügen, ganz besonders in den indianischen Comarcas, das sind Reservate, sind Strom und Internet keine Selbstverständlichkeit.

Wenn es unter normalen Umständen schon schwierig war, indianische Kinder am Unterricht teilnehmen zu lassen — die indianischen Kinder leben meist sehr abgelegen in den Bergen und mussten daher oft bei jedem Wetter stundenlang laufen, um in die Schule zu kommen —, ist es seit der Corona-Krise für einen großen Teil der ärmeren Landbevölkerung schier unmöglich geworden, ihre Kinder in die Schule zu schicken.

Zwar hat die Regierung sogenannte Lernmodule für Kinder ohne Internetzugang zur Verfügung gestellt — komprimiertes Lernmaterial, welches die Kinder abarbeiten sollen —, jedoch ist es sehr schwer für Eltern, die den ganzen Tag hart in der Landwirtschaft arbeiten, auch noch ihre Kinder zu unterrichten, ganz besonders wenn viele von ihnen selbst ungebildet sind.

„Es ist sehr schwer, den indianischen Kindern das Lernmaterial zukommen zu lassen”, erzählt Leomaris Serracin, die in der Verwaltung der öffentlichen Schule Josefa Montero de Vasquez in Boquete arbeitet.

„Wir arbeiten virtuell mit den Plattformen WhatsApp und Teams, aber die Kinder, die keinen Zugang zum Internet haben, müssen einmal die Woche hier ins Dorf herunterkommen, um das Lernmaterial zu holen, und je nachdem, wie bedürftig die Familie ist, bekommen sie auch eine Tüte mit Lebensmitteln, und einmal die Woche bekommen alle Schüler kleine Milchpakete und Kekse, die sonst in der Schule zur Mittagspause verteilt wurden.“

In dieser Schule sind zurzeit rund 800 Schüler registriert, die in die erste bis neunte Klasse gehen. Die Schule wurde vor fünf Jahren komplett renoviert, zählt 20 gut ausgestattete Klassenräume — welche nun nicht mehr benutzt werden — und Gelände für Sport, ist zentral gelegen und vor allem kostenlos. Die Bildung dieser Kinder ist nun auf den virtuellen Unterricht, der oftmals kaum eine Stunde am Tag dauert, oder Lernmaterial ohne Lehrer reduziert.

„Überdurchschnittlich viele Schüler sind letztes Jahr sitzengeblieben, und viele sind gar nicht mehr in der Schule erschienen, es ist sehr schwer bis unmöglich für Eltern, die oft selbst Analphabeten sind, nach der Arbeit auch noch ihre Kinder zu unterrichten. Es ist einfach nicht dasselbe, wie wenn die Kinder von Angesicht zu Angesicht von den Lehrern unterrichtet werden”, so Leomaris. „Wir geben uns hier alle Mühe, aber die Qualität des virtuellen Unterrichts und des Unterrichts mit Lernmodulen ist katastrophal. Außerdem fehlen auch die sozialen Fähigkeiten, die die Kinder normalerweise in der Schule lernen.“

Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen der virtuelle Unterricht hat, vor allem da er die Sozialisierung der Kinder komplett außer Acht lässt.

Wie wichtig ist der Sozialisierungsprozess bei Kindern?

Eine frühe Stimulierung von Kindern ist von großer Wichtigkeit für ihre kognitive und emotionale Entwicklung; Kindern, die aus einer verwahrlosten Umgebung ohne psychoaffektive Stimulation kommen, fällt es bedeutend schwerer zu lernen (1).

In den ersten Schuljahren entwickelt das Kind die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, seine eigene Gruppe wahrzunehmen und von anderen Gruppen zu unterscheiden. Zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr assimilieren Kinder durch Beobachtung, Imitation, Emulation schon die kulturellen Stereotypen der Geschlechterrollen (2).

Der Kontakt zu anderen ist von fundamentaler Wichtigkeit für die motorische, phonetische, emotionale und geistige Entwicklung von Kindern, da sie Fähigkeiten wie laufen, sprechen und ihre Emotionen zu handhaben dadurch erlernen, dass sie diese Fähigkeiten bei für sie wichtigen Erwachsenen als auch bei älteren Kindern beobachten und nachahmen (3).

Kinder lernen in Kindergarten und Grundschule zuallererst soziale Fähigkeiten, sich zu integrieren, sich mit anderen Kindern auszutauschen, sie lernen, anderen Grenzen zu setzen, ihnen werden Grenzen gesetzt, sie lernen, kurz, das soziale Zusammenleben.

In Lateinamerika spielt das soziale Leben eine immense Rolle, Großfamilien sind die normale Familienstruktur, und oftmals hängt das Überleben von familiärem und sozialem Zusammenhalt ab. In den meisten lateinamerikanischen Ländern sind die Menschen aufeinander angewiesen, zum Beispiel gab es im November 2020 eine große Überschwemmung im Norden Panamas, in der Agrarflächen, die der Lebensunterhalt der Bevölkerung dort sind, zerstört wurden und Tausende obdachlos wurden. In dieser Situation hat die Regierung nichts getan, um den Obdachlosen zu helfen, hingegen haben die Leute in den umliegenden Ortschaften Sammelaktionen durchgeführt, um diesen Menschen zu helfen. Die Solidarität der Leute ist in Lateinamerika eine Ehrensache; jeder hilft, unabhängig von seinem Einkommen.

Umso mehr mutet in Lateinamerika der virtuelle Unterricht wie eine Parodie an, während mal eben das Recht auf Bildung abgeschafft wurde.

Ein Licht der Hoffnung

Im März 2021 hat in der Ortschaft Boquete der private Kindergarten „Lustiges Lernen” wieder aufgemacht, und zwar nicht virtuell so wie alle anderen Bildungsstätten, sondern ganz normal, ohne Maskenpflicht und Abstandsregeln, wo Kinder wieder Kinder sein können, sie zusammen mit ihren Schulkameraden von der Lehrerin unterrichtet werden, sie ihre Mittagspause machen, sich unterhalten, spielen und mittags wieder abgeholt werden.

„Für mich ist die soziale Interaktion fundamental”, so Yadizel Acosta, Leiterin des Kindergartens und promovierte Kinderpsychologin, „Kinder, und ganz besonders die Kleineren, brauchen den sozialen Umgang mit anderen, das stärkt ihr Selbstbewusstsein und sie lernen, unabhängig zu sein. Hier im Kindergarten haben wir letztes Jahr ausschließlich virtuell mit den Kindern gearbeitet, was eine große Herausforderung für uns sowie für die Kinder war. Ich denke virtuellen Unterricht sollte man schon als unterstützendes Werkzeug im Schulsystem anwenden, aber nicht, wie es jetzt in den meisten lateinamerikanischen Ländern passiert, nur damit arbeiten, das funktioniert einfach nicht. Daher sind wir froh, dass wir unseren Kindern jetzt wieder normalen Unterricht anbieten können, die Kinder genießen es sehr, und auch ist es eine enorme Entlastung für die Eltern.“

Es macht Hoffnung, dass es trotz der absurden bürokratischen Hürden, die der „Kampf gegen die Pandemie” dem normalen Bürger auferlegt hat, Leute gibt, die gesunden Menschenverstand und vor allem Mut haben, ihn anzuwenden.

Der große Andrang in Yadizels Kindergarten zeigt auch, dass sich viele Menschen die alte Normalität zurückwünschen. Wir alle sind Gestalter unserer Zukunft, und manchmal bedarf es nicht großer Taten, sondern Unermüdlichkeit in unseren täglichen kleinen Aktionen, um dieser neuen globalen Unterdrückungsmaschinerie einen Strich durch die Rechnung zu machen.


Quellen und Anmerkungen

(1) J.T. Bruer: Der Mythos der ersten drei Jahre, 2000
(2) Masters und Wilkinson 1976
(3) Carlos Martin Bravo, Jose Navarro Guzman: Evolutive Psychologie in der Erziehung, 2009


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