Die Umstände der Einheit sind Schnee von gestern. Mit Folgen bis heute. Um die damaligen Abläufe haben sich vereinfachende Legenden gebildet, die das Verständnis nach wie vor belasten. Es herrscht ein konservatives Narrativ vor, wonach es für den gegangenen Weg keine Alternativen gab. Dieses einst von Margaret Thatcher geprägte Tina-Prinzip gehört zu den Glaubensbekenntnissen, die den Anforderungen an eine moderne, lebenswerte Welt am wenigsten gerecht werden. Schon weil wir weiterhin ständig an Scheidewegen stehen, sollte aus Gründen des nachholenden Dazulernens daran erinnert werden, welche Weichen damals falsch gestellt wurden.
Verfestigt hat sich ein wohl beabsichtigtes Bild, wonach gleich nach dem sogenannten Mauerfall die Massen zu schneller Einheit drängten, verbunden mit dem Wunsch nach bedingungsloser Übernahme der westlichen Ordnung. Derart seien die bedachtsam zögernden Bonner Politiker nur so zur Tempoeinheit getrieben worden. Doch schon zwei Tage nach Maueröffnung gab Kanzler Kohl vor der Bundespressekonferenz die Marschrichtung vor: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Deutschen die Einheit ihrer Nation wollen.“ Obwohl Ende November 1989 die meisten DDR-Bürger die Erfahrung hinter sich hatten, wie es ist, mit Begrüßungsgeld durch westliche Konsumtempel zu schreiten, entschieden sich 86 Prozent für „den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus“, nur fünf Prozent wollten einen „kapitalistischen Weg“, neun Prozent einen „anderen Weg“ (1).
Rückblickend ist es eher erstaunlich, dass die Menschen der Minderheit von Oppositionellen, Theologen und Bürgerrechtlern mit ihren Angeboten einer grundlegenden Erneuerung für eine kurze Zeit die Regie überließen. Als der damalige Vorsitzende der Ost-CDU Lothar de Maizière zehn Tage nach Öffnung der Mauer der Bild am Sonntag ein Interview gab, konnte er sich sicher sein, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen:
„Ich halte Sozialismus für eine der schönsten Visionen des menschlichen Denkens. (…) Wenn Sie glauben, dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet, dann müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind.“
Die Einheit sei nicht „Thema der Stunde“, sondern beträfe „Überlegungen, die vielleicht unsere Kinder und Enkel anstellen können“. Was weder de Maizière noch sonst jemand im Osten wusste: Drei Tage nach diesen Überlegungen legte das Direktoriumsmitglied der Bundesbank, Claus Köhler, auf einer internen Sitzung des Zentralbankrates ein Konzept für eine Währungsunion vor. Noch gab es Bedenken. Aber der keine Kosten scheuende Plan zum Aufkauf der Revolution war geboren.
Auf Seiten der als Revolutionäre Bezeichneten war die Zuversicht, endlich mitgestalten zu können, noch ungebrochen. Dass es wichtig war, den taumelnden Verhältnissen durch neue Gesetze Stabilität zu geben, war klar. Ich saß zu dieser Zeit in zwei Arbeitsgruppen, eine vom Schriftstellerverband, die ein neues Pressegesetz mit innerredaktioneller Mitbestimmung entwarf. Und eine von der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR, die sich nach den gewaltsamen Vorkommnissen im Oktober um ein bürgernahes Polizeigesetz kümmerte, wie es auch heute noch ein Fortschritt wäre.
Im Osten hoffte man noch, so könne Demokratie funktionieren. Wir gingen unverzüglich dazu über, den Augiasstall selbst auszumisten. Und ahnten nicht, dass finanzstarke Kräfte am Werk waren, die den Stall so schnell wie möglich mit allem Unrat kaufen wollten. Weil der Mist den Preis senkt und überdies bestens geeignet ist, ihn uns ein Leben lang vor die Nase zu halten. In seiner „Rede an die Deutschen in der DDR“ warnte der langjährige Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus:
„Während sonst Leute, die Geld haben, die Orte von Revolutionen fliehen, kann man hier, etwa im Palasthotel, wo ich wohne, die westlichen Gesichter studieren — die Aufkäufer sind da!“
Der Runde Tisch hatte Neuwahlen zur Volkskammer beschlossen und zugleich verlangt, dass sich die Westpolitiker aus dem Wahlkampf heraushalten mögen. Ich konnte im „Demokratischen Aufbruch“ beobachten, wie sich die Westler, wohlmeinend oder nicht, keinen Tag an diese Forderung hielten. Unsere improvisierten Büros wurden mit Spenden und Computern versorgt, die Westmedien boten rund um die Uhr Raum für Interviews und Berichte, Berater wichen uns nicht mehr von der Seite, und bei größeren Zusammenkünften gastierten und redeten huldvoll Spitzenpolitiker aus Bonn.
Die Dosis an besorgniserregenden Fakten zum finanziellen, moralischen und ökologischen Zustand der DDR, die die Medien verbreiteten, erhöhte sich von Stunde zu Stunde. Bankrottgerüchte waren aus politischen Gründen oft heftig überzogen, wie die Deutsche Bank später feststellte. Dazu gehörte auch der sagenumwobene Schürer-Bericht, der die DDR-Auslandsschulden aufgelistet, aber die Guthaben, die weit über die Hälfte davon abdeckten, aus taktischen Gründen weggelassen hatte. So war es für alle schwer, sich ein fundiertes Bild zu machen. Die Rolle von Fake News und Medien als Stimmungsmacher in diesen Wochen ist noch nicht untersucht.
Bei einem Besuch am 20. November in Berlin knüpfte Kanzleramtsminister Seiters Bedingungen an eine mögliche Finanzhilfe der Bundesrepublik, die darauf hinauslief: erst Abschaffung des Sozialismus, dann Geld. Drei Tage später schrieb Klaus Hartung in der taz:
„Solch eine Politik zerstört jenen zeitlichen Spielraum, den die Massen von Leipzig und die vielen oppositionellen Gruppen in allen Lagern unbedingt brauchen, um überhaupt das praktizieren zu können, was Selbstbestimmung heißt.“
Unheilbares Deutschland
Viele Wissenschaftler, Theologen, Juristen und Künstler aus dem Westen hatten seit Ende 1989 gewarnt. „Für Euer Land, für unser Land“, hieß am 2. Dezember eine Erklärung von drei Dutzend Autoritäten, deren Stimme inzwischen spürbar fehlt. Inge Aicher-Scholl, Heinrich Albertz, Annemarie Böll, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich, Ossip K. Flechtheim, Luise Rinser, Dorothee Sölle und andere schrieben:
„Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise. In dieser Situation werden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt. Bundeskanzler Kohl hat mit seinem ,Zehn-Punkte-Plan‘ die ,Wiedervereinigung‘ zu westdeutschen Bedingungen zum Programm erhoben. (…) Damit würde nicht nur Euer Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer Gesellschaft zu finden, verschüttet. Auch das reformerische Bemühen der sozialen Bewegungen in unserm Lande würde einen schweren Rückschlag erleiden.“
Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu:
„Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“
Inzwischen sind diese Krisen unsere ständigen Begleiter. Vom Keller bis unters Dach. Was anfangs den Euphemismus „Revolution“ verdiente, war der ansatzweise Wandel zu einer Demokratie, die den Bürgern mehr Möglichkeiten des Mitdenkens und Mitentwerfens bot als jede andere bisher praktizierte Regierungsform.
„Das könnte ein Modell für die Welt werden“, schwärmte Jungk. 30 Jahre nach dem Niedergang des Realsozialismus steht die Welt ohne jedes durchsetzungsfähige Modell da. Aber welches Land hört schon auf seine Intellektuellen. Von ihnen veröffentlichte im Dezember 89 die Frankfurter Rundschau die „Erklärung der Hundert: Wider Vereinigung“. Es werde unverhohlen ein Export der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik nach Osten angepeilt. Diese Großmannspolitik werde „die Wiedervereinigung in einem Scherbenhaufen enden lassen und den Aufbau des Europäischen Hauses gefährden“. Ein Scherbenhaufen als Humus für die AfD.
Auch die Vorhersage, dass Europa durch deutsche Großmannspolitik bedroht werde, war weitsichtig und zeigt zugleich: Man konnte das alles absehen. Die eingetretenen Entwicklungen hatten nichts mit einer vom Himmel gefallenen Globalisierung zu tun. Der neoliberale Raubmensch-Kapitalismus war nur insofern ein Naturereignis, als nicht zu bestreiten ist, dass auch Aasgeier natürliche Wesen sind.
Kohls Ausschüttung des eiligen Geistes hatte auch die Leipziger Montagsdemonstranten in rivalisierende Gruppen polarisiert.
Gegen Tausende Träger schwarz-rot-goldener Fahnen — wo immer die herkamen — rückte ein großer Trupp Studenten an mit Losungen wie: „Reinigen statt einigen“, „Kommt die DM zu früh, kommt die Vernunft zu spät“. Die meist etwas Älteren mit den Fahnen skandierten daraufhin: „Rote aus der Demo raus!“ Die Jungen wehrten sich mit: „Nazis raus!“ Es kam zu Tumulten. Plötzlich regnete es vom Himmel 100-DM-Scheine. Mit dem umseitigen Aufdruck: Schon eingekauft? Für einen Moment verschlug es beiden Seiten die Sprache. Wird die Demo als Erstes gekauft? Wer bei ARD und ZDF in der ersten Reihe saß, bekam künftig fast nur noch die nationale Flagge zu sehen und Demonstranten, die eine schnelle Einheit forderten, als das nachweislich noch nicht Mehrheitsmeinung war.
Am heftigsten wurde die DDR in dieser Zeit dadurch destabilisiert, dass täglich etwa 2.000 Menschen durch die offene Mauer das Land verließen. Der sowjetische Botschafter Kwizinskij sprach am 5. Dezember im Bundeskanzleramt vor. Die sowjetische Führung sei besorgt, dass die westlichen Massenmedien die Menschen in der DDR zur illegalen Ausreise aufstacheln.
Die Bundesregierung kam in dieser den Lebensnerv treffenden Frage dem Modrow-Kabinett keinen Millimeter entgegen. Euphorische Empfänge in den Aufnahmestellen, Begrüßungsgeld und bevorzugte Hilfe bei der Suche nach Wohnung und Arbeit waren garantiert und wurden öffentlichkeitswirksam propagiert. „Wir sind uns darüber im Klaren“, notierte Kohl-Berater Horst Teltschik in sein Tagebuch, dass erst „nach der Wahl Übersiedler so behandelt werden müssen wie Bundesbürger, die ihren Wohnort wechseln“ (2). Kohl frohlockte im In- und Ausland, dass die DDR „die Lage nicht im Griff“ habe. Und auf dem Ku’damm demonstrierten 20.000 Westberliner unter dem Motto: Unheilbares Deutschland.
Wahlbeeinflussung und endgültiger Bruch mit dem Sozialismus
Bei seinem ersten großen Wahlkampfauftritt in Erfurt verkündete der führende Historiker unter tosendem Beifall ein achtes Weltwunder. Nach den Hängenden Gärten zu Babylon nun die Blühenden Landschaften in Kohlrabien. Auf der Montagsdemo in Leipzig wurde indessen ein Bürgerrechtler, der vor drohender Arbeitslosigkeit warnte, von Aufhören-Rufen unterbrochen. Eine Sprecherin, die Wuchermieten prophezeite, falls westdeutsche Eigentümer zurückkehren, wurde ausgebuht. Verteilt wurden massenhaft Flugblätter der bundesdeutschen Parteien. Diese haben für den vom Runden Tisch unerwünschten Wahlkampf in der DDR 7,5 Millionen DM ausgegeben, wie erst später bekannt wurde. Der Löwenanteil ging von der CDU an die neue Ostschwester und von der CSU an die rechtskonservative DSU.
Hatte sich der „Demokratische Aufbruch“ (DA) in seiner Anfangsphase noch gegen die Unterstellung verwahrt, „die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen“, so hat er im Laufe des Herbstes einen Rechtsruck vollzogen und es dem machtbewussten Kohl leicht gemacht, den zwielichtigen Vorsitzenden des DA, Wolfgang Schnur, für die „Allianz für Deutschland“ zu vereinnahmen. Bei dem im kleinsten Kreis von Kohl-Vertrauten in Westberlin gegründeten Wahlbündnis dieser drei ging es wohlgemerkt um Volkskammerwahlen der DDR – kann man sich mehr Wahlbeeinflussung vorstellen? Doch, kann man. Und daran zu erinnern ist nicht der Schnee von gestern, sondern betrifft das bis heute im Osten anhaltende Dilemma.
Die Stärke jener Allianz war schwer zu beurteilen, Umfragen sagten immer noch einen Erdrutschsieg der SPD voraus. Am 6. Februar traf sich Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl (SPD) mit dem Staatsbankpräsidenten der DDR Kaminsky und der DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft und stimmte öffentlich deren Haltung zu, nach der eine schnelle Währungsunion eine völlig abwegige Idee sei. Luft hatte zudem klargemacht, dass ein so einschneidender Eingriff nur über einen Volksentscheid beschlossen werden dürfe. Schon um den Wählern die Tragweite eines solchen auf den ersten Blick verlockenden Angebotes bewusst zu machen.
Ohne Rücksicht auf die DDR-Regierung und den eigenen, damit desavouierten Bundesbankpräsidenten bot Kanzler Kohl am selben Tag eine baldige Währungsunion mit einem Umtauschverhältnis von 1:1 an. Der wie alle völlig überraschte SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sprach sich aus guten Gründen dagegen aus. Die sowieso erregten DDR-Bürger waren nun elektrisiert.
Drei Tage später setzte Kohls engster Berater Horst Teltschik im Bundespresseamt noch einen drauf. Er sagte den nahen wirtschaftlichen Kollaps der DDR voraus, es zeichne sich ab, dass sie in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sei und erhebliche Stabilitätshilfen benötige. Am selben Tag distanzierte sich der sachkundige Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken und Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Wolfgang Röller, auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz von dieser Behauptung und sprach von „durchsichtigen Bankrottgerüchten“. Doch dieses Dementi fand in den Medien kaum Beachtung, die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit war Aufmacher jeder Zeitung.
Teltschik erklärt seinem Tagebuch: „Wir hatten angesichts der wirtschaftlichen Situation in der DDR sowie der ständig steigenden Übersiedlerzahlen seit Tagen über einen solchen Schritt diskutiert“ (mit wem wohl, wenn nicht mal mit dem Bundesbankpräsidenten? D. D.). „Unsere Überlegung war: Wenn wir nicht wollen, dass sie zur D-Mark kommen, muss die D-Mark zu den Menschen gehen“ (3).
Diese Formulierung vom 6. Februar ist bemerkenswert. Heißt es doch bis heute, die Straße habe nach dem Geld geschrien, sodass die Politiker nicht anders konnten, als es rauszurücken. Es ist aber erwiesen, dass die Losung „Kommt die D-Mark nicht nach hier — gehen wir zu ihr!“ erstmalig am 12. Februar auf der Montagsdemo in Leipzig auftauchte. Also mindestens sechs Tage, nachdem die Idee im Kreis der Kohlvertrauten ersonnen, auf unergründlichen Wegen in Leipzig die Massen ergriff und zur materiellen Gewalt wurde. Nun war klar, wozwischen die DDR-Bürger in einigen Tagen die Wahl haben würden: die D-Mark 1:1 oder Kollaps. Zumal der Begriff „Zahlungsunfähigkeit“ ein völliges Novum war und große Irritation auslöste.
In Gesprächen auf der Straße oder in der Sparkasse fragten sich die Menschen, ob denn die Auszahlung der Löhne und Spareinlagen noch gesichert sei. In den darauffolgenden Tagen kam es zu einer fast flächendeckenden Abkehr von allerdings längst brüchig gewordenen Überzeugungen. Der einzige programmatische Unterschied der Ost-CDU zur großen Schwesterpartei blieb vorerst die kompromisslose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Ansonsten vollzog Lothar de Maizière, nur drei Wochen nachdem er dies noch den Kindern und Enkeln überlassen wollte, den endgültigen Bruch mit dem Sozialismus.
Die SPD mit ihrer völlig berechtigten zögerlichen Haltung zu übereilter Einheit stürzte in der Volkskammerwahl vom 18. März ab — von noch unlängst prognostizierten 54 Prozent auf 21,9 Prozent. Sie hat sich davon jahrelang nicht erholt. Der Riesenvorsprung der CDU erklärte sich aus deren Erlösungsversprechen. Die Leute glaubten, das Kapital zu wählen und wählten die Kapitulation.
Nebenbemerkung: Treffen mit Karl Otto Pöhl
In einem vierstündigen Gespräch, dessen Niederschrift er später autorisierte, erklärte mir drei Jahre später der inzwischen bei der Privatbank Saal-Oppenheim arbeitende Karl Otto Pöhl, warum die Währungsunion eine Katastrophe war: „Würde man über Nacht in der Bundesrepublik den viel stärkeren Dollar einführen, wäre die deutsche Wirtschaft sofort ruiniert. Oder wenn Österreich die D-Mark übernehmen würde — der Schilling stand 1:7 —, wäre es sofort völlig pleite. Ich habe allein die Idee für phantastisch gehalten.“
Pöhl war immer noch die Verbitterung anzumerken. Ohne ihm, dem Präsidenten der Bundesbank, beim persönlichen Gespräch am Tag zuvor auch nur eine Andeutung zu machen, hätten Kohl, sein CSU-Finanzminister Waigel und der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff aus dem hohlen Bauch und unter Umgehung des Parlaments die unverzügliche Währungsunion angeboten. Er mache sich schwere Vorwürfe, dass er nicht sofort demonstrativ zurückgetreten sei.
In der Schicksalsstunde der Nation glaubte er loyal sein zu müssen, habe ihr damit aber nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch geschadet. Denn „es war doch absehbar, dass man nach Angleichung der Preise auch die Löhne angleichen muss und damit jeder Standortvorteil entfallen würde, dass das Ganze nur zu einem Zig-Milliarden-Beschäftigungsprogramm für die Westwirtschaft würde und im Osten Millionen Arbeitsplätze vernichtet werden.“ Auf meine Frage, wie man eigentlich den Bankrott einer Wirtschaft messe, meinte Pöhl:
„Die DDR war ja nicht extrem verschuldet, uns haben die Auslandsschulden nie beunruhigt. Und die Innenschulden waren vollkommen belanglos, die spielten überhaupt keine Rolle, waren eine rein buchhalterische Betrachtungsweise“ (4).
Beide Seiten hatten an der Nahtstelle konkurrierender Ideologien über ihre Verhältnisse gelebt. Gemessen an der Verschuldung pro Kopf, seien die Westdeutschen sogar drei Mal so verschuldet in die Einheit gegangen. Von Zahlungsunfähigkeit zu sprechen, sei eine Unverschämtheit gewesen. Die DDR sei nicht wegen ihrer Schulden gekippt, sondern weil das System moralisch diskreditiert war und Gorbatschow die Hand weggezogen habe.
Zweifellos. Und weil der Westen seine vereinnahmende Hand sofort ausgestreckt hat. Eine Mischung aus angestautem Frust über die diktatorischen Machenschaften der DDR, aus neuen Gerüchten und Desinformationen hatte bewirkt, dass die Leute die Faxen satthatten. Sie ließen Hammer und Sichel fallen, die Gärten sollten nun andere zum Blühen bringen.
Wandel durch Restauration — das war letztlich selbstzerstörerisch. Die schon nicht mehr ganz so neuen Länder können ihren Bedarf immer noch längst nicht selbst erwirtschaften, woran sich aufgrund der vollzogenen Deindustrialisierung in den nächsten Jahrzehnten auch nichts ändern wird. Die Treuhand hat eine Gegend zurückgelassen, die aus eigener Kraft weniger lebensfähig ist als zuvor, wenn auch auf deutlich höherem Niveau. Auf die Alimentierung durch Sozialleistungen gibt es einen gesetzlichen Anspruch, am Osten sparen geht nicht. Die alt aussehenden Länder sitzen in der Transfer-Falle.
Schon 2004 wollte laut Forsa jeder vierte Westdeutsche die Mauer wiederhaben, unter den Ostdeutschen waren es nur halb so viele, sie sehen sich mehrheitlich als Gewinner. Der Sieger muss zahlen, und sein Wertesystem bröckelt. Nach 30 Jahren ist die Erinnerung an Vorgänge, die damals die Gemüter auf beiden Seiten erregten, verblasst. Die Jüngeren haben vermutlich nie davon gehört, wie von so vielem anderen auch nicht. So sei hier nur im Zeitraffer an die wohl größte Kriminalgeschichte auf dem ungepflasterten Weg zur Einheit erinnert: an die Veruntreuungen der Treuhand.
Da die Gefahr kommender Raubzüge absehbar war — privare heißt rauben—, beschloss der DDR-Ministerrat der Regierung Modrow die Gründung einer „Anstalt zur Treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“. Die Bewahrung des Volkseigentums war oberstes Gebot, die Art von sozialistischer Marktwirtschaft, in der es sich bewähren sollte, blieb in der Eile vage. Diese Anstalt sollte der Volkskammer unterstehen, Eingriffe in die Geschäftsführung der Betriebe waren nicht erlaubt. Doch am 18. März 1990 haben sich die Wähler mit großer Mehrheit für die blühenden Gärten in Kohlrabien entschieden. Die Fachleute aus der DDR, auch die DDR-Bürgerbewegung, waren damit abserviert. Sofort strömten Tausende westliche Wunderheiler als bestellte oder selbsternannte Berater ins Land. Unter deren heftiger Mitwirkung trat am 1. Juli 1990 der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft.
Nun bekamen die Ostdeutschen die ersehnte DM, aber die zentralen Verpflichtungen des Vertrages wurden nie erfüllt. Statt die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Unternehmen, wie darin zugesagt, zu stärken, brachen 80 Prozent der DDR-Industrie zusammen.
Statt den Bürgern „nach Möglichkeit“ ein „verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen“ einzuräumen, gab es nur ein Anteilsrecht an Schulden und nochmals Schulden. Statt „zu einem hohen Beschäftigungsstand“ führte die überstürzte Währungsunion zum Abbau von vier Millionen Arbeitsplätzen, während zur selben Zeit in Westdeutschland zwei Millionen neue geschaffen wurden.
Statt zu „außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum“ brach die Außenwirtschaft bei stetigem Wirtschaftsschwund zusammen. Statt dass die Verträge mit den osteuropäischen Ländern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe wie vereinbart „Vertrauensschutz“ genossen und sogar ausgebaut werden sollten, sanken die Handelsumsätze ostdeutscher Betriebe mit den sogenannten Bruderländern von jährlich 50 Milliarden auf fünf Milliarden. Nach kurzer Zeit hatten westdeutsche Unternehmen den einstigen DDR-Export in diese Länder in vollem Umfang übernommen, hier klappte der Ausbau sehr lukrativ. Die osteuropäischen Märkte waren nicht weggebrochen, wie immer behauptet wird, sondern weggenommen.
Gleichzeitig mit diesem Bankrott-Vertrag für den Osten erließ die Volkskammer unter CDU-Ministerpräsident Lothar de Maizière ein neues Gesetz zur Treuhand. Diese unterstand nun nicht mehr dem Parlament, sondern der Regierung, Eingriffe in die Geschäftsführung der 8.500 Betriebe waren weitgehend erlaubt, und das Ziel wurde auf den Kopf gestellt: Privatisierung des Volkseigentums. Dabei sollte nach Möglichkeit angestrebt werden, die enteigneten Bürger mit Anteilsscheinen zu entschädigen. Es war immerhin noch eine DDR-Regierung, die ein Bewusstsein dafür hatte, dass dieses Eigentum denen zustehen sollte, die es erarbeitet hatten. So kam die gute Absicht, beschmunzelt von den Wunderheilern, in den Einigungsvertrag.
Nach dem Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 wurde die Treuhand sofort dem Bundesfinanzministerium unterstellt. Ein Leitungsausschuss aus 100 westdeutschen Experten — wo immer diese plötzlich herkamen — begann umgehend, etwa 2.000 Betriebe im Jahr abzuwickeln. Wie seriös die meist nur nach Aktenlage vorgenommene, betriebswirtschaftliche Prüfung ausfiel, mag erahnen, wer verstehen will, weshalb die leitenden Mitarbeiter der Treuhand von CSU-Finanzminister Waigel eine Freistellung vom Straftatbestand der „groben Fahrlässigkeit“ bekamen. Grob fahrlässig in staatlichem Auftrag — das war das eigentliche Programm der untreuen Hand. Ostdeutsche Interessen waren nur dazu gut, sie zu missachten. Der Einigungsvertrag wurde gebrochen, wo immer es ging. Oft genug wurden Betriebe dichtgemacht, die vollkommen intakt waren, aber als ökonomische oder kulturelle Konkurrenten störten.
Wie etwa die Untreuhänder den Auftrag des Einigungsvertrages verstanden, die „kulturelle Substanz Ostdeutschlands“ zu erhalten, beschrieb der Gründer des nach der Wende entstandenen Linksverlages, Christoph Links, in seiner Dissertation (5). Die ostdeutschen Verlage „wurden nicht ausgeschrieben, sondern ohne Konsultation der Betroffenen nach unüberprüfbaren Kriterien ,diskret‘ vergeben. Als zentrales Problem erwies sich dabei der vorrangige Verkauf an ihre direkten Konkurrenten im Westen des Landes. (…) Viele Verlage wurden für die symbolische eine Mark abgegeben“, unter Auflagen, die weder kontrolliert noch eingehalten wurden.
„Zu Beginn lag die Zuständigkeit für sämtliche DDR-Verlage bei einem einzigen Mitarbeiter, einem Bauingenieur. Ihm wurden — nach Protesten aus der Kulturwelt — zwei Teilzeitarbeiter für ein Jahr zur Seite gestellt.“
Deutlicher konnte das Mutterland seine Verachtung der Kultur der beigetretenen, vaterlandslos gewordenen Gesellen nicht demonstrieren. Das Ergebnis war das erwünschte: Von den einstigen 78 DDR-Verlagen existieren heute noch 12. Von 6.100 Arbeitsplätzen gingen 5.500 verloren. Da sind die heimatlos gewordenen Autoren nicht mitgezählt.
„Selbst mit den neugegründeten Verlagen zusammen werden in den ostdeutschen Bundesländern heute nur noch 2,2 Prozent der gesamten deutschen Buchproduktion erzeugt.“
Leipzig, jahrhundertelang die „Nummer eins der deutschen Buchstädte, rangiert inzwischen auf Platz 16 hinter Göttingen, Saarbrücken und Heidelberg“. Die Erinnerung an DDR-Kultur wurde so Gedanke um Gedanke ausgelöscht.
Innerhalb kürzester Zeit gelangten in derart kolonialer Manier 95 Prozent des Volkseigentums in die Hände westlicher Unternehmer. Dadurch wurden die Ostdeutschen zu der Bevölkerungsgruppe in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie lebt.
Ihr Bodenreformland, die Betriebe und Großkombinate wurden unter Konditionen privatisiert, die sie selbst aus dem Prozess weitgehend ausschlossen. Weder gehörten sie zu dem vernetzten Filz, der jetzt zuschlug, noch hatten sie das nötige Geld, noch die Kreditwürdigkeit, noch die Vorzugsbedingungen, die Alteigentümern eingeräumt wurden. Egon Bahr kommentierte damals bitter:
„In Ostdeutschland sind feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen worden, wie sie selbst in Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden wurden.“
Es war schon erstaunlich, wie riesig das Kaufinteresse an als total marode beschriebenen Betrieben war. Natürlich wussten die östlichen Direktoren besser als alle anderen, wie heruntergekommen und veraltet ihre technische Ausrüstung teilweise war, aber auch, welche Anstrengungen und Devisen bereits erbracht worden waren, um zu modernisieren und auf elektronische Datenverarbeitung umzustellen.
Bald nach der Wende war mir in Bethlehem, im US-Staat Pennsylvania, ein riesiges, vor sich hin rostendes Stahlwerk aus den 20er Jahren aufgefallen, das bis vor kurzem produziert hatte. Ich machte damals aus naheliegendem Mitgefühl ein Rundfunkfeature mit entlassenen Arbeitern, deren Familien seit mehreren Generationen mit dem Werk verbunden waren. Dem einzigen größeren Anbieter von Arbeitsplätzen in der Region. Allzu gern hätten sie an den veralteten Hochöfen weitergearbeitet, schließlich wurde nicht dichtgemacht, weil alles so altmodisch und unproduktiv war, sondern weil die Nachfrage nach Stahl in den USA und weltweit drastisch zurückgegangen war. Erst da begann ich zu ahnen, dass es wohl nirgends auf der Welt, mit Ausnahme der Bundesrepublik natürlich, eine Wirtschaft gab, die nicht mit zum Teil veralteten Ausrüstungen produzierte.
Am Anfang der kurzen Rohwedder-Ära wurde der Gesamtwert des DDR-Volkseigentums noch zwischen 600 Milliarden und 1 Billion DM taxiert. Am Ende der Treuhandtätigkeit war es gelungen, den Wert einer gesamten Volkswirtschaft, mit ihren riesigen, exportstarken und nicht selten mit Westtechnik ausgerüsteten Kombinaten, mit dem schuldenfreien Grund und Boden und allen volkseigenen Immobilien zu einem Wert von minus 330 Milliarden DM herunterzufälschen. Eine größere Misswirtschaft hat es nie gegeben. Die Treuhandakten sind bis heute verschlossen.
Quellen und Anmerkungen:
Die Quellen zu diesem Artikel finden Sie im Buch.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.