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Die Krim und das Völkerrecht

Die Krim und das Völkerrecht

Anlässlich des vierten Jahrestages des Beitritts der Krim zur Russischen Föderation thematisieren Medien und Politik erneut die vermeintliche russische Annexion.

Die Russische Föderation und der Westen befinden sich seit Ende der 1990er Jahre in einem mehr oder minder latenten Machtkampf um Einflusszonen in Osteuropa und im post-sowjetischen Raum. Während der Westen mit seinen beiden maßgeblichen internationalen Regierungsorganisationen (EU und NATO) in Etappen nach Osten expandiert, ist Russland bestrebt, vor allem jene Expansionen, die den post-sowjetischen Raum berühren, aufzuhalten und mindestens einen sicherheitspolitischen cordon sanitaire zu etablieren. Darüber hinausgehende Ambitionen zielen auf eine politisch-ökonomische und sicherheitspolitische Teilintegration dieses Raumes (Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, GUS, OVKS, SCO) unter Führung Russlands – im Falle der SCO unter Führung Russlands und Chinas.

Ende 2013 spitzte sich der geopolitische und -strategische Konflikt gefährlich zu: Objekt des Konflikts ist die Ukraine. Im Laufe des Konflikts um die Ukraine wechselte die Krim ihre staatliche Zugehörigkeit – zumindest, was die faktische Hoheitsgewalt betrifft – von der Ukraine zu Russland. Kanzlerin Merkel zeigte besondere historische Sensibilität, als sie sich im Rahmen der Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten in Moskau am 10. Mai 2015 die bedenkenswerte Aussage leistete: „Durch die verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim hat die Zusammenarbeit (zwischen Deutschland und Russland) einen schweren Rückschlag erlitten“.

Kurz nach dem Übertritt der Krim strebten Regionen im Osten und Süden der Ukraine ebenfalls eine Änderung ihres Status‘ gegenüber Kiew an: Das Spektrum reicht(e) von Autonomie (internes Selbstbestimmungsrecht) über Sezession mit staatlicher Eigenständigkeit (externes Selbstbestimmungsrecht) bis hin zur Sezession (temporäres externes Selbstbestimmungsrecht) mit Anschluss an die Russische Föderation.

Die völkerrechtliche Bewertung dieser Prozesse bedient sich bisweilen abstruser Argumente. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine völkerrechtliche Analyse und Bewertung vorzunehmen:

War das Referendum auf der Krim völkerrechtswidrig?

Nein. Das Referendum der Autonomen Republik Krim im Rahmen des ukrainischen Staates vom 16. März 2014 ist nicht Gegenstand des Völkerrechts, da dieses die zwischenstaatlichen Angelegenheiten regelt. Insofern ist eine völkerrechtliche Bewertung nicht möglich beziehungsweise ein entsprechender Rechtsbruch nicht gegeben.

Der tatsächliche Rechtsbruch fand auf der verfassungsrechtlichen Ebene der Ukraine statt.

Waren die militärischen Maßnahmen des russischen Militärs auf der Krim zum Schutze des Sezessionsreferendums völkerrechtswidrig?

Ja. Im bilateralen Stationierungsabkommen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine sind der Handlungsspielraum sowie Bewegungsraum russischer Angehöriger der Schwarzmeerflotte sicherlich präzise definiert. Es ist nicht davon auszugehen, dass der souveräne ukrainische Staat in dem Stationierungsabkommen besondere souveränitätseinschränkende Rechte (Rechtsetzungs- und Gewaltmonopol) über die Krim zu Gunsten Russlands akzeptiert(e).

Insofern stellten sämtliche Maßnahmen russischer Sicherheitskräfte, die sich jenseits des Stationierungsabkommens bewegten und das ukrainische Gewaltmonopol untergruben, einen substantiellen Völkerrechtsbruch dar. Hier Artikel 2 Absatz 4 (Gewaltverbot) und Absatz 1 (Interventionsverbot – ergibt sich durch Souveränität und Gleichheit der Staaten).

Ob von einer Annexion gesprochen werden kann, ist umstritten, da es keine manifeste physische Gewaltanwendung seitens der Russischen Föderation gegeben hat, wohl aber eine drohende Gewaltanwendung gegenüber den ukrainischen Sicherheitskräften im Falle des Versuchs, das ukrainische Gewaltmonopol gegenüber den sezessionistischen Kräften oder gegenüber den russischen Sicherheitskräften durchzusetzen.

War die Sezession völkerrechtswidrig?

Nein und ja. Die Erklärung der Unabhängigkeit der Krim erfolgte nach dem erfolgreichen Referendum der Befürworter einer Ablösung von der Ukraine.

Die Unabhängigkeitserklärung selbst stellt nach neuerer Lesart keinen Völkerrechtsbruch dar. Dies stellte der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem anderen Fall, dem Gutachten zur serbischen Provinz Kosovo im Jahre 2010 fest. Ob die Exekution der Unabhängigkeitserklärung – also die Staatsbildung und die damit einhergehenden völkerrechtlichen Aspekte – einen Völkerrechtsbruch darstellte, wurde in dem Gutachten bewusst nicht geklärt, da das Urteil dann zu Gunsten der Republik Serbien hätte ausfallen müssen. Die Zusammensetzung der Richter des IGH, im Sinne ihrer nationalen Herkunft, zu dem Fall spricht Bände über die juristische Vorgehensweise. Der IGH hat seinerzeit die zweite Frage der serbischen Regierung, inwiefern die Ausübung der Sezession einen Rechtsbruch darstelle, ausgeklammert (enge Auslegung der Fragestellung).

Es ist davon auszugehen, dass abgesehen von dem absurden Gutachten des IGH zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, auf jeden Fall die Staatsbildung und deren diplomatische Anerkennung durch Drittstaaten Völkerrechtsbrüche darstellen: Denn erstens ist der bisherige Staat, auf dessen Territorium sich ein „neuer Staat“ herauszubilden vermag, durch seinen verbrieften Souveränitätsanspruch und Anspruch auf territoriale Integrität (UNO-Charta) völkerrechtlich geschützt. Zweitens findet mit dem Auftauchen eines „neuen Staates“ auf seinem Staatsgebiet quasi automatisch das Begehren der völkerrechtlichen Anerkennung durch die UNO und ihre Mitglieder statt. Im Falle der Akzeptanz der „neuen Staatsbildung“ seitens der UNO oder einzelner Staaten gegen den Willen des „Haupt“-Staates (Artikel 1 Absatz 2 und Artikel 2 Absatz 7 UNO-Charta), brechen diese selbst das Völkerrecht.

Denn, so wie der Staat in seiner räumlichen Ausdehnung der UNO beigetreten ist, so wurde er von allen Mitgliedern der UNO auch – als schützenswert – anerkannt.

War die Aufnahme in die Russische Föderation völkerrechtswidrig?

Ja. Mit der Akzeptanz der einseitigen Unabhängigkeitsexekution und der Akzeptanz des Begehrens nach Integration der „unabhängigen Krim“ in die Russische Föderation hat auch diese das Völkerrecht gebrochen. Denn auch die Russische Föderation hat die Souveränität und territoriale Integrität mit der Aufnahme der Ukraine in die UNO akzeptiert.

Das Budapester Memorandum von 1994, in dem die Russische Föderation (USA, Großbritannien. Frankreich und China erklärten sich separat) die Akzeptanz nochmals unterstreichen, ist keine rechtliche Verpflichtung, sondern eine politische Verpflichtung und damit lediglich eine „Fußnote“. Ähnliches gilt für die KSZE-Charta von Paris aus dem Jahre 1990 (Prinzipien statt Normen).

Abschließende Bewertung

Hat die Russische Föderation die europäische Friedensordnung zerstört und das Völkerrecht gebrochen?

Ja und Nein.

Betrachtet man die oben gemachte Analyse und Bewertung des Verhaltens der Russischen Föderation völkerrechtlich isoliert, also jenseits der realen Entwicklungen auf internationaler Ebene nach 1990, so bliebe die Feststellung, dass die russische Föderation massiv das Völkerrecht gebrochen hätte.

Betrachtet man jedoch die reale internationale Entwicklung seit 1991 mit der massiven Unterstützung der einseitigen Sezessionen Sloweniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas aus der jugoslawischen Föderation, später auch des Kosovo aus Serbien, sowie die Unterstützung der Sezession des Südsudans vom Sudan durch westliche Staaten, so muss der Vorwurf des Völkerrechtsbruchs Russlands mindestens neu bewertet werden.

Die Sezessionsunterstützungen der jugoslawischen Republiken und der Provinz Kosovo stellen einen massiven Völkerrechtsbruch (Souveränität und territoriale Integrität Jugoslawiens) dar. Hinzu kommt der NATO-Bombenkrieg gegen Serbien 1999 um den Kosovo aus Serbien herauszuschneiden, der ebenfalls einen eklatanten Völkerrechtsbruch darstellt.

Aus einer linken Perspektive ist es erforderlich, den „russischen Völkerrechtsbruch“ hinsichtlich der Krim, sofern er einen solchen überhaupt noch darstellt, immer auch mit dem westlichen Rechtsnihilismus und den damit geschaffenen Präzedenzfällen seit den 1990er Jahren zu kontextualisieren. Alle anderen Positionierungen legitimierten das westliche Verhältnis der Doppelstandards zum Völkerrecht durch die Hintertür.

Da das Völkerrecht anders als das innerstaatliche Recht ein konsensuales Recht ist, dass also von allen Teilnehmern gleichermaßen getragen und respektiert werden muss, soll es seine Wirkung entfalten und erhalten, bedeutet der erfolgreiche Bruch des Völkerrechts durch einen oder mehrere Subjekte, dass diese sich aus dem Konsens verabschieden. Dies kann in seiner Konsequenz die partielle oder gänzliche Auflösung des bestehenden Konsensus bedeuten, da die übrigen bis dahin rechtstreuen Staaten sich auch nicht mehr an das Recht gebunden fühlen (müssen). Die Rechtsbrecher schaffen auf diese Weise nolens volens sogenannte Präzedenzfälle, auf die sich andere Staaten berufen können. Die vom Westen gerne formulierte „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ im Lichte einer unipolaren Weltordnung zwecks Maximierung der eigenen Vorteile entwickelt sich gerade nicht im Sinne des Westens, da die Russische Föderation im Rahmen der sich herausbildenden multipolaren Weltordnung die Präzedenzfälle aufgenommen hat.

Ein Verzicht Russlands auf die Nutzung der Präzedenzfälle wäre nicht nur realpolitisch naiv, es bedeutete auch eine inakzeptable Asymmetrierung von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten zwischen den Staaten – kurzum einen völkerrechtlichen Freifahrtschein für die westliche Imperialpolitik.

Dass wiedererstarkte Russland spielt für den Westen wider Erwarten das westliche Spiel auf seine Weise mit.

Mit anderen Worten: Das UNO-Völkerrecht ist in Fragen der Souveränität und territorialen Integrität der Mitgliedsstaaten de facto tot.

Volksgruppen können erfolgreich, sofern sie von einer Großmacht unterstützt werden, das externe Selbstbestimmungsrecht realisieren und somit anerkannte Grenzen verändern, was perspektivisch – auch in Europa – noch eine ungeheure Sezessionsdynamik freisetzen wird.

Angesichts der vom Westen „weiterentwickelten“ Völkerrechtsordnung hat Russland dieses – durch fait accompli – „weiterentwickelte Völkerrecht“ vielmehr mit geübt als gebrochen. Auf diese Weise hat der Gewohnheitsrechtsmechanismus – als eine Völkerrechtsquelle – das bislang in Form der UN-Charta kodifizierte gültige Primat der territorialen Integrität und Souveränität von Staaten zu Gunsten des externen Selbstbestimmungsrechts gestärkt.

Eine Rückkehr zum „alten Völkerrecht“ der UN-Charta ist eher unwahrscheinlich.
Es sei denn, die Großmächte verständigen sich auf einen völkerrechtlichen „Reset“.

Die Frage bliebe aber, ob die „neuen Staaten“ wieder aufgelöst werden müssten beziehungsweise die Aufnahmen von „neuen Staaten“ in andere Staaten wieder rückgängig gemacht werden müssten oder ob man die neuen Sezessionen als irreversibel akzeptiert. Die Option der Irreversibilität müsste aber von der Voraussetzung begleitet werden, künftig wieder gemäß dem alten auf Souveränität und territoriale Integrität beruhenden UNO-Völkerrecht zu agieren, also den alten Konsens wiederherzustellen. Nur diese Option trägt dazu bei, die entstandene internationale Unordnung seit Anfang der 1990er Jahre wieder in eine berechenbare internationale Rechtsordnung lenken zu können.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.juraforum.de/lexikon/voelkergewohnheitsrecht
(2) Zehn Richter vertraten die Ansicht, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos rechtens gewesen sei, vier sprachen sich dagegen aus. Dabei fällt auf, dass die meisten Richter dieselben Positionen vertraten, die ihre Herkunftsstaaten zum Kosovo eingenommen hatten.


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