Eden Reloaded
„Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
Werd’ ich nun nicht los.“
Wie Goethes Zauberlehrling entfesselten die Nationalstaaten den Kapitalismus, und die Bürger wundern sich nun, dass die Welt kollabiert. Und weit und breit kein Meister, der den Neoliberalismus zurückpfeift, an die Leine legt. Umdenken? Nein, jetzt erst recht. Fatalismus ist deutsche und inzwischen auch europäische Kerntugend. 1943 brüllte Goebbels zum „totalen Krieg“. 80 Jahre später sehnen sich die neuen deutschen Kriegstreiber wieder nach dem Untergang, als folgten sie endlich Ulrich Horstmanns zynischem Votum:
„Der wahre Garten Eden — das ist die Öde. Das Ziel der Geschichte – das ist das verwitterte Ruinenfeld. Der Sinn — das ist der durch die Augenhöhlen unter das Schädeldach geblasene, rieselnde Sand.“ (1)
Hier und dort erwachen dann doch ein paar Menschen aus dem post-demokratischen Tiefschlaf und streuen den Sand aus ihren Augen ins Getriebe des Systems. Einer davon ist Mux, Hauptfigur von Jan Henrik Stahlbergs pseudo-dokumentarischem Spielfilm Muxmäuschenstillx. Seit 1. Mai läuft er in den Kinos und feiert die Auferstehung einer 20 Jahre alten Filmfigur. Damals, im ersten Film, ist Mux ein fanatischer Zeitgenosse, der die Menschen zu Verantwortungsbewusstsein erziehen will, indem er sie stellt, zurechtweist und bestraft. Raser, Schwarzfahrer, Graffiti-Sprayer, Falschparker, Ladendiebe, Vergewaltiger. Nach und nach gewinnt er Mitstreiter. Die Ein-Mann-Mission wächst zum kleinen Unternehmen. Am Ende wird Mux von einem Raser überfahren. Der Film lebt von den Gefühlen, die der Zuschauer auf Mux projiziert: Die anfängliche Aufgeschlossenheit verwandelt sich mehr und mehr in Abscheu.
In einem Interview sagt Jan Henrik Stahlberg:
„In dem Moment, wo der Raser von Mux überführt wird, finden wir das doch ganz gut lustig oder sympathisch, weil wir sagen, ja gut, aber das Arschloch hat’s doch verdient. Es wird knapper, wenn er einen Sprayer überführt und ihm in die Augen sprüht.“ (2)
## The Coldest City
MuxmäuschenstillX beginnt mit dokumentarischen Bildern vom Fall der Berliner Mauer. Mux ist damals 17 und „noch unbedeutend“, wie er sagt. Später beschreibt er als Off-Stimme die Entwicklung seit dem Mauerfall:
„1989 fällt die Mauer hier in Berlin. Es beginnt die lange alternativlose Nacht, in der ein immer größerer Kuchen unter immer weniger Menschen aufgeteilt wird und die verbleibenden Krümel der Welt als Gesetz des Marktes verkauft werden. Es war eine lange Nacht und hier endet sie.“ (3)
Die nächsten Filmszenen zeigen, wie Muxisten das Hotel Adlon entern. Sie tragen Plastikmasken, die jene der Anonymous-Bewegung variieren, und eskortieren die Gäste nach draußen, wo sie Suppe serviert bekommen wie sonst die Obdachlosen und Armen. Gleichzeitig speisen nun die Obdachlosen im Hotel Adlon wie die reichen Gäste. Ein soziales Lehrstück de muxe.
„The Coldest City“ heißt eine Graphic Novel über das Berlin 1989, kurz vor dem Mauerfall. Der Name passt auch heute. Nur dass es diesmal nicht die Kälte des „Kalten Kriegs“ ist, der über der Stadt liegt wie ein Mantel aus Blei. Es ist die soziale Kälte:
„Von der Aufbruchstimmung der 90er-Jahre ist nicht mehr viel geblieben. Ganz im Gegenteil. Es liegt der Mehltau einer Abriss-Stimmung über der historisch zerrissenen Stadt. Obdachlosigkeit, Armut und Elend sind zu einem nicht mehr wegzuretuschierenden Bestandteil des Straßenbildes geworden.“ (4)
Das schreibt der Ex-Berliner Autor Rumen Milkow nach einem Besuch Mitte 2024.
Was ist aus dieser Stadt geworden, aus dem Land, das sich mit einer solchen Stadt schmückt, das der unermesslichen Gier einiger weniger die Würde so vieler Menschen opfert.
Mux ist tot, es lebe der Muxismus
20 Jahre nach seinem Unfall entsteigt Mux dem Wachkoma. Zusammen mit seinem Gehilfen Karsten verbreitet er den Muxismus, dessen Manifest er in einer Rehaklinik geschrieben hat. Mux 2.0 betritt die schöne neue Welt des Neoliberalismus. Seine Mission hat sich geändert. Nicht mehr die Verantwortung des Einzelnen steht im Zentrum — es ist das System, gegen das Mux nun ankämpft. Zunächst mit bewährten Mitteln: Im überfüllten Zug stürmt er mit den Fahrgästen der Zweiten Klasse in die Erste Klasse, wo noch reichlich Platz ist. Zwei „Erstklässler“, die ihr Abteil gegen den Ansturm verteidigt haben, haben nun Pappschilder umgehängt: „Ich bin asozial“ und „Ich auch“. Gedemütigt sprechen sie in die Kamera: „Ich heiße Horst und ich bin asozial.“ Und: „Ich heiße Tim. Ich auch.“
Stahlbergs Film hat ein ernsthaftes Anliegen. Und in eine Satire gekleidet ist vermutlich der fruchtbarste Weg, uns dieses vor die Füße zu werfen.
„Es ist schwierig, ein moralisches Anliegen zu vermitteln, wenn man es nicht auf eine humoristische Art und Weise macht. (…) Wenn man dieser Zeit heute den Spiegel vorhalten will, sollte man es am besten mit Psychopathen tun.“ (5)
Die Distanz zur Hauptfigur fällt dem Zuschauer diesmal allerdings schwerer, sofern er Mux’ Anliegen, die Welt gerechter zu gestalten, grundsätzlich teilt. Mux lässt sich nicht mehr so leicht als Spinner abfertigen, auch wenn seine Methoden zum Teil immer noch extrem übergriffig sind. Lustig ist der Film stellenweise auch, speziell, wenn Mux’ PR-Beraterin Vera dem Zeitgereisten die Erfordernisse der Digital-Ära vermittelt:
„Bilder sind wichtiger als Worte. Lasst die Leute träumen. Was ist so unwiderstehlich an eurem Produkt? Wer ist die Zielgruppe? Wer ist der Konsument? (…) Was wollen wir Muxisten? Was ist unser Framing? Wir wollen eine Rückverteilung des Reichtums zu den Menschen, die ihn erwirtschaftet haben. Das ist gut. Das schafft Mut. Ein Wir-Gefühl.“ (6)
Heavy Rheinmetall
Wieder schart Mux die Aussortierten der Gesellschaft um sich, Arbeits- und Obdachlose. Bei aller Borniertheit ist Mux auch reifer geworden: Sein Anliegen ist kein privates mehr. Es ist ein gesellschaftliches. Es geht Mux nicht mehr darum, individuelles Fehlverhalten zu korrigieren. Er möchte die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf stellen.
Wie vor zwanzig Jahren erzählt Stahlberg seine Geschichte wieder im Mockumentary-Stil, teils wackeliger Handkamera und echten Fernsehbildern. Bereits Wochen vor dem Start erregte Stahlberg Aufsehen durch mehrere Teaser (7), die auf YouTube zu sehen waren, mit der Filmhandlung allerdings nichts zu tun hatten. In einem davon sitzt die faschistoide Kriegsfanatikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in einer Talkshow und rechtfertigt sich gegenüber ihrem Mann Horst, gespielt von Stahlberg, der ihr vorwirft, ihn an die ukrainische Front geschickt zu haben, wo er unter anderem beide Beine verloren hat. Hierfür steckte Stahlberg den Protagonisten KI-generierte Sätze in den Mund. Es dauerte nicht lange, bis das Stahlhelmfrisurmodel Strack-Zimmermann den Regisseur verklagte:
„(…) dem Video fehlt jedoch insgesamt eine künstlerische Anmutung oder eine satirische Überspitzung.“ (8)
So heißt es in der Klageschrift, womit Strack-Zimmermann indirekt einräumt, dass ihr antirussisches Hasspredigt-Niveau schwer zu übertreffen ist. Die Klage wurde zwischenzeitlich zurückgezogen, vermutlich wegen geringer Erfolgsaussichten — trotz der jüngsten Fälle post-demokratischer deutscher Rechtsprechung (9).
Stahlberg glaubt, der wahre Stein des Anstoßes war der Tabubruch. Denn das Video denke den Rüstungsrausch der naiven Mitte weiter.
Wer möchte, dass Deutschland kriegstüchtig ist, solle auch bereit sein, seine Söhne und Töchter an der Front verrecken zu lassen. So weit über den Tellerrand blicken allerdings die wenigsten.
Die lange, dunkle Nacht am Ende der Geschichte
„Es war der Geist, der keine Alternative kennt, den ihr Mächtigen aus der Flasche gelassen habt. Und es ist dieser Geist, an dem die gesamte Gesellschaft zerbricht.“ (10)
Ein Statement gegen die quasireligiöse TINA-Doktrin („There’s no alternative“), die — ausgehend von der Godmother des Neoliberalismus Maggie Thatcher — über Schröder, Merkel und die Ampel auch die deutsche Politik infiziert hat und seither dort wuchert wie ein Krebsgeschwür, wie das Alien aus dem gleichnamigen Film von Ridley Scott.
In der harmlosen deutschen Filmlandschaft könnte Stahlbergs Film detonieren wie die Grunge-Band Nirvana Anfang der 90er in der seichten wie saturierten Popmusik-Szene. MuxmäuschenstillX spuckt uns vor die Füße und wiederholt in seiner Sprache die Erkenntnis, dass wir Bürger uns von der parlamentarischen Politik emanzipieren müssen. Denn die hat den Neoliberalismus erst stark gemacht. Stahlberg zitiert eine Zuschauerin:
„Irgendwie dachte ich bisher, ich bin ein Loser. Ich hab zwei Kinder, ich krieg das nicht mehr hin. Ich hab zwei Jobs, ich arbeite die ganze Zeit, aber ich komm nicht mehr über die Runden. Und ich dachte die ganze Zeit, ich hab versagt, ich bin schuld. Jetzt seh’ ich Ihren Film und es könnte sein, dass das systematisch ist.“ (11)
Wer immer noch glaubt, Parteien und Wahlen würden den Untergang aufhalten, hat den Neoliberalismus nicht verstanden.
Mux umso mehr. Sein trotziger Aktionismus verweist auf den 2017 verstorbenen Kapitalismus-Kritiker Mark Fisher:
„Wir müssen die lange, dunkle Nacht am Ende der Geschichte als große Chance begreifen. Die unterdrückerische Verbreitung des kapitalistischen Realismus bedeutet, dass sogar der kleinste Funke alternativer politischer oder ökonomischer Möglichkeiten eine überproportional starke Wirkung haben kann. Das kleinste Ereignis kann ein Loch in den grauen Vorhang limitierter Handlungsmöglichkeiten reißen, die bisher den Möglichkeitshorizont des kapitalistischen Realismus markieren. Aus einer Situation, in der nichts passieren kann, ist eine geworden, in der wieder alles möglich ist.“ (12)
Muxmäuschenstill X - Interview mit Jan Henrik Stahlberg (3)

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Quellen und Anmerkungen:
(1) Ulrich Horstmann: Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Frankfurt, 1985, S. 8
(2) Radio München: Muxmäuschenstill X – Interview, ET: 28.4.2025, https://www.radiomuenchen.net/de/ https://odysee.com/@RadioMuenchen.net:9/Muxma%CC%88uschenstill-X---Interview-mit-Jan-Henrik-Stahlberg-(3):7
(3) Jan Henrik Stahlberg: MuxmäuschenstillX, 2024
(4) Rumen Milkow: Schnauze voll von Berliner Schnauze; in: Manova Magazin, 20.6.2024; https://www.manova.news/artikel/schnauze-voll-von-berliner-schnauze https://www.manova.news/artikel/schnauze-voll-von-berliner-schnauze
(5) Radio München: Muxmäuschenstill X – Interview, ET: 28.4.2025, https://www.radiomuenchen.net/de/ https://odysee.com/@RadioMuenchen.net:9/Muxma%CC%88uschenstill-X---Interview-mit-Jan-Henrik-Stahlberg-(3):7
(6) Jan Henrik Stahlberg: MuxmäuschenstillX, 2024
(7) vgl.: Marie-Agnes Strack Zimmermann bei Maischberger, https://www.youtube.com/watch?v=w68CcWNq5lM
(8) vgl: Albrecht Müller: Strack-Zimmermann droht deutschem Filmemacher mit Klage; Nachdenkseiten, 17.3.25; https://www.nachdenkseiten.de/?p=130309
(9) vgl. The Economist: The threat to free speech in Germany, 16.4.25; https://www.economist.com/europe/2025/04/16/the-threat-to-free-speech-in-germany bzw. Multipolar: Britisches Magazin sieht Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr, 23.4.2025: https://multipolar-magazin.de/meldungen/0236
(10) Jan Henrik Stahlberg: MuxmäuschenstillX, 2024
(11) Radio München: Muxmäuschenstill X – Interview, ET: 28.4.2025, https://www.radiomuenchen.net/de/https://odysee.com/@RadioMuenchen.net:9/Muxma%CC%88uschenstill-X---Interview-mit-Jan-Henrik-Stahlberg-(3):7
(12) Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Hamburg 2020, S. 95