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Die Macht der Symbole

Die Macht der Symbole

Ist eine Politik möglich, die das Volk nicht mit manipulativen Vereinfachungen lenkt?

Lippmanns Leben begann vielversprechend und voller Möglichkeiten. Er wuchs in wohlhabenden New Yorker Verhältnissen auf, besuchte eine Privatschule und studierte in Harvard. In seiner Jugend liebäugelte er zunächst noch mit sozialistischen Ideen, verstand sich später aber „zunehmend als Sozialingenieur“ und setzte „seine Hoffnung auf die Managerelite, die er als Gegenspieler der Eigentümer sieht“ – so beschreiben es die Ökonomieprofessoren Walter Ötsch und Silja Graupe in ihrer lesenswerten Einführung zur diese Woche erschienenen deutschen Neuausgabe von „Die öffentliche Meinung“.

Lippmann, so die beiden Professoren, strebte eine globale Vorherrschaft der USA an; amerikanische Konzerne sollten im Ausland „nicht via Staat, sondern via neu zu errichtenden internationalen Kommissionen agieren.“ Willkommen bei IWF, Weltbank & Co., könnte man da 100 Jahre später ergänzen. Denn Lippmann äußerte solche Ansichten in Buchform tatsächlich schon 1915, da war das „Wunderkind“ gerade einmal 26 Jahre alt – und bereits voller Ideen, wie man der amerikanischen Demokratie (und Industrie) weltweit Geltung verschaffen kann.

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges wurde Lippmann für die US Army in London stationiert und verfasste dort Flugblätter, die hinter den feindlichen Linien abgeworfen wurden. In dieser Zeit ernannte ihn der US-Kriegsminister zum Generalsekretär einer gut 100-köpfigen geheimen Studiengruppe, die den kommenden Friedensvertrag vorbereiten sollte – und damit letztlich die Welt-Nachkriegsordnung. In diesem Gremium entstand US-Präsident Woodrow Wilsons berühmter 14-Punkte-Plan, laut Lippmann der Versuch, ein „gemeinsames Bewusstsein in der ganzen Welt anzubahnen“.

Die Studiengruppe war organisatorisch und personell ein direkter Vorläufer des 1921 gegründeten Council on Foreign Relations, wo bis heute und mit großem Erfolg die Sichtweise eines maßgeblichen Teils der US-Geld- und Konzernelite in amerikanische Außenpolitik übersetzt wird.

Walter Lippmann ist nicht weniger als ein Vordenker am Beginn des amerikanischen Imperiums gewesen. Seine sozialwissenschaftlichen Gedanken, die er im 1922 erschienenen Klassiker „Die öffentliche Meinung“ ausgebreitet hat, sind ein Schlüssel zum Verständnis der heutigen Gesellschaft – nicht nur in den USA.

Vorurteile, Frames und „Pseudoumwelt“

Im Zentrum steht seine Überlegung, dass Menschen den größten Teil der Wirklichkeit nicht über ihre eigenen Sinne erfahren, sondern durch Erzählungen anderer, vor allem der Medien, wo mittels Vereinfachungen, Vorurteilen und Stereotypen (Lippmann prägte dieses Wort) Stimmung gemacht werde. Er nennt es die „Einfügung einer Pseudoumwelt zwischen Mensch und Umwelt“ (S. 64). Das Verhalten des Menschen sei „die Reaktion auf diese Pseudoumwelt“ und daher leicht manipulierbar.

Was Lippmann mit „Stereotyp“ und „Pseudoumwelt“ meint, wird heute oft als „Frame“ bezeichnet. Gemeint ist ein vereinfachender Deutungsrahmen, ein großer, erklärender Zusammenhang, in den ein Ereignis gestellt wird, eine Brille, durch die man die Welt betrachtet, oft im Tunnelblick. Wo so ein „Frame“ einmal durch kritisches Denken durchbrochen wird, spricht Lippmann bildhaft von der „Ermordung einer schönen Theorie durch eine Bande brutaler Fakten“, was man selbst dann als „Schmerz der Fehlanpassung“ erlebe (S. 64).

Dieser Schmerz droht noch heute jedem, der zum ersten Mal die vertraute Welt der Leitmedien verlässt und damit beginnt, sich ergänzend bei alternativen Nachrichtenquellen zu informieren und dort ganz anderes erfährt, sei es nun zu politisch heiklen Themen wie 9/11, dem Ukraine-Konflikt oder Syrien, oder auch bei strittigen Fragen der Medizin, der Ernährung oder der Bildung. Die Art, wie Menschen auf Ihre Umwelt blicken, begünstige dabei erheblich den Tunnelblick:

„Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, sondern definieren erst und schauen dann. In dem großen blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat. (…) Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen unserer Sicht der Dinge und den Fakten, aber es ist oft ein wunderlicher Zusammenhang. (…) Wir sehen nicht so sehr gerade diesen Menschen und jenen Sonnenuntergang, wir bemerken stattdessen nur, dass das Ding ein Mann oder ein Sonnenuntergang ist, und danach sehen wir an solchen Gegenständen hauptsächlich das, wovon unser Kopf bereits voll ist“ (S. 110, 115).

Lippmann geht in seiner Analyse noch weiter und beschreibt, warum Menschen an bestimmten Frames und Vorurteilen oft so stark hängen, dass sie diese energisch gegen jeden Angriff verteidigen. Bei diesen Überlegungen könnte ein heutiger Leser an den erbitterten Deutungskampf um die Anschläge vom 11. September 2001 denken, oder auch an das in vielen Köpfen festgefügt negative Bild von Russland und Putin:

„Neben der Vermeidung von Anstrengung gibt es einen weiteren Grund, aus dem wir uns so oft auch dann an unsere Stereotypen halten, wenn wir eigentlich nach einer neutraleren Sicht streben könnten. Die Stereotypensysteme stellen vielleicht den Kern unserer persönlichen Gepflogenheiten und den Schutz unserer gesellschaftlichen Stellung dar. Sie sind ein geordnetes, mehr oder minder beständiges Weltbild, dem sich unsere Gewohnheiten, unser Geschmack, unsere Fähigkeiten, unser Trost und unsere Hoffnungen angepasst haben.
Sie bieten vielleicht kein vollständiges Weltbild, aber sie sind das Bild einer möglichen Welt, auf das wir uns eingestellt haben. In dieser Welt haben Menschen und Dinge ihren wohlbekannten Platz und verhalten sich so, wie man es erwartet. Dort fühlen wir uns zu Hause. Dort passen wir hin. Wir gehören dazu. Dort wissen wir Bescheid. Dort finden wir den Zauber des Vertrauten, Normalen, Verlässlichen; seine Spuren und Gestalten sind genau dort, wo wir sie zu finden gewohnt sind. Und obwohl wir viel aufgegeben haben, was uns gereizt haben mag, ehe wir uns in diese Gussform hineinzwängten, sitzt sie nun, sobald wir einmal fest drinstehen, so behaglich wie ein alter Schuh.
Es ist daher kein Wunder, dass jede Störung der Stereotypen uns wie ein Angriff auf die Grundfeste des Universums vorkommt. Es ist ein Angriff auf die Grundfesten unseres Universums, und wo große Dinge auf dem Spiel stehen, geben wir nicht gerne zu, dass es einen Unterschied zwischen unserem und dem Universum gibt. Eine Welt, in der die von uns geachteten Personen sich als unwürdig erweisen und die von uns verachteten als edel, ist nervenzermürbend. Wo unsere Rangordnung nicht die einzig mögliche ist, herrscht Anarchie“
(S. 120).

Symbole und Macht

Eben solche überaus menschlichen Verhaltensmuster lassen sich von Manipulateuren in der Politik und anderswo bequem nutzen, gerade, wenn es darum geht, besonders große Lügen und Täuschungen zu etablieren und gegen Kritik abzuschirmen. Stereotype, Frames und Symbole sind das vielleicht mächtigste Werkzeug der Politik, denn letztlich, so legt Lippmann es nahe, sind wir alle weit weniger kritisch und aufgeklärt, als wir gern annehmen möchten:

„Symbole sind oft so nützlich und so geheimnisvoll mächtig, dass schon das Wort allein einen magischen Zauber ausstrahlt. (…) Wer sich der Symbole bemächtigt, die für den Augenblick das öffentliche Gefühl beherrschen, beherrscht hierdurch in starkem Maße den Weg zur Politik. Solange ein besonderes Symbol die Kraft hat, Koalitionen zu bilden, werden ehrgeizige Parteigruppen um seinen Besitz kämpfen. (…) Ein Politiker oder eine Interessengruppe, die sich zum Herrn eines geläufigen Symbols machen kann, ist der Herr der augenblicklichen Lage“ (S. 210, 201).

Dem heutigen Beobachter fallen dabei vielleicht Symbole und Begriffe wie „Leitkultur“, „Islamisierung“, „internationaler Terrorismus“, „Populismus“ oder „Verschwörungstheorie“ ein – diffuse Bedeutungsbündel, mit denen im großen Stil Stimmung gemacht und gelenkt wird. Lippmann legt dar, dass um den Besitz dieser mächtigen Symbole mit aller Härte gekämpft wird. Wessen Welterklärung gilt, der herrscht über die Köpfe.

Lippmann lädt dabei gerade nicht zur Manipulation ein, sondern zunächst zum Bewusstmachen dieser Zusammenhänge. Er erwähnt, dass die Frames und Symbole durch akzeptierte Autoritäten in unsere Köpfe gelangen. Dies könne in einer komplexen Welt auch gar nicht anders sein. Ein größeres Maß an geistiger Unabhängigkeit sei daher nur dadurch zu erreichen, „dass wir die Autoritäten vermehren, denen wir freundliches Gehör schenken“. (S. 213) Dieser Rat erinnert an die aktuelle Mahnung, seine eigene „Filterblase“ zu verlassen und sich selbst regelmäßig mit mehreren, unterschiedlichen, auch sich widersprechenden Meinungen zu konfrontieren.

Einer der Kernsätze in Lippmanns Buch lautet:

„Das Zerbröckeln eines Symbols (…) ist stets der Anfang einer langandauernden Umwälzung“ (S. 221).

Wieder auf die Gegenwart bezogen ließe sich kommentieren: Wenn der „Krieg gegen den Terror“ zunehmend hinterfragt wird oder der Begriff „Verschwörungstheorie“ von immer mehr Menschen als manipulativ erkannt wird, dann sind diese bröckelnden Symbole Zeichen einer großen gesellschaftlichen Krise: Den Autoritäten geht Stück für Stück ihre Autorität verloren. Diese nehmen das nicht widerstandslos hin, sondern entwickeln neue Frames und Symbole, um Allianzen zu formen und die eigene Agenda damit noch geschickter den Menschen als „gemeinnützig“ nahezubringen.

Blind folgen in Krisenzeiten?

Das Symbol, so Lippmann, „verdunkelt die persönlichen Richtungen, neutralisiert die Persönlichkeiten, intensiviert jedoch zu gleicher Zeit gewaltig die Gruppenrichtung und schweißt die Gruppe für eine zielbewusste Aktion zusammen, wie in einer Krisenzeit nichts anderes sie zusammenschweißen kann“. (S. 223) Und weiter:

„Jeder Demokrat spürt in seinen Knochen, dass sich gefährliche Krisen nicht mit der Demokratie vereinbaren lassen. Er weiß, dass die Trägheit der Massen so groß ist, dass im Interesse einer schnellen Aktion sehr wenige Menschen Entscheidungen treffen und die anderen ihnen blind folgen müssen“ (S. 245).

Hier wird Lippmanns Text vieldeutig. „In Krisenzeiten“ hält er eine letztlich manipulative Lenkung der Massen für angemessen und richtig. Wer aber entscheidet, wann eine Krise droht? Und wie und durch wen ist die Krise überhaupt entstanden? Solche weitergehenden Fragen bleiben in seinem Buch ausgeblendet.

Am Ende scheint Lippmann demjenigen elitären System verhaftet, in dem er aufwuchs und wo er Gehör und Karriere fand. Von der Führungsrolle der etablierten Machteliten will er sich keineswegs verabschieden. Sein Gesellschaftsbild könnte man als „moderat progressiv“ bezeichnen, es bleibt im Kern dennoch vordemokratisch. Er misstraut dem Sozialismus und er misstraut auch der direkten Demokratie, gibt sich stattdessen immer wieder als Anhänger Alexander Hamiltons zu erkennen, des ähnlich elitär geprägten ersten Finanzministers der USA. Am Ende des Buches fasst Lippmann seine Gedanken zur öffentlichen Meinung in der Allegorie eines Schiffes zusammen:

„Die Mannschaft weiß nicht, was der Steuermann weiß, und der von den Sternen und Winden in Bann geschlagene Steuermann weiß nicht, wie er die Mannschaft die Bedeutung dessen, was er selber weiß, erkennen lassen kann“ (S. 344).

Zu dieser Projektion des „guten Hirten“ in der Politik würden heute wohl auch Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier wohlwollend nicken, die, wie so viele etablierte Politiker, immer wieder betonen, man müsse die eigenen Botschaften vor allem „besser vermitteln“, um die Bevölkerung „mitnehmen“ zu können – ohne dabei jemals zu diskutieren, wer eigentlich das Ziel der Reise bestimmt und mit welchem Recht derjenige das tut.

Wo findet man vertrauenswürdige Fakten?

Lippmann ist trotz seiner Elitenprägung dennoch kein Propagandist sondern viel eher ein nüchterner Realist, der schon in jungen Jahren einen tiefen Einblick in Pressearbeit und Regierungshandeln werfen konnte und daraus gelernt hat. So misstraut er etwa ausdrücklich der behaupteten Unabhängigkeit der privat organisierten und von Anzeigenkunden abhängigen Presse. Diese sei, was die Aufgabe der vertrauenswürdigen Vermittlung von Tatsachen angehe, „kein Ersatz für öffentliche Institutionen“. (S. 310) Man darf vermuten, dass Lippmann heute wohl ein Anhänger der Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wäre.

Das Heil der wahren und integren Faktenvermittlung sucht er jedenfalls nicht bei der Presse, sondern bei „neutralen“ Experten. Erst noch zu schaffende öffentliche „Informationsdienste“ – im Sinne etwa heutiger „Faktencheck“-Organisationen – sollten uneigennützig die Tatsachen präsentieren, auf die sich Presse, Politik und überhaupt die Öffentlichkeit dann stützen könnten.

Unwägbar bleibt dabei die gewünschte Unabhängigkeit dieser Experten – eine Forderung, die die sozialen Umstände der Fachleute, die Existenz von Klassen, in denen sie leben, und nicht zuletzt überhaupt den Einfluss der Reichen auf die Regierung und den Verwaltungsapparat weiträumig ausblendet. Immerhin räumt Lippmann ein, dass der Wunsch nach solchen „Expertengremien“ nicht von unten, vom Volk käme, sondern von oben, von der Regierung:

„Der Ruf nach dem Beistand von Fachberichterstattern in Gestalt von Mathematikern, Statistikern, Sekretariaten und dergleichen geht nicht von der Öffentlichkeit aus, sondern von Männern, die öffentliche Angelegenheiten durchführen, sie aber nicht länger nach der Daumenregel tätigen können“ (S. 334).

Der Bürger, über dessen Kopf hinweg das alles geschieht, soll die sorgfältig und akkurat bearbeitete „Experten-Wirklichkeit“ dennoch dankbar und bescheiden annehmen und sich mit den ungefilterten Problemen gar nicht erst belasten:

„Nur wenn der geschäftige Bürger eines modernen Staates darauf besteht, dass die Probleme erst auf ihn zukommen, wenn sie eine Prozedur durchlaufen haben, kann er hoffen, sich mit ihnen in einer verständlichen Form auseinanderzusetzen“ (S. 336).

Auch eine Art „Staatsbürgerkunde“ (DDR-Bürgern als Schulfach bekannt) schlägt Lippmann vor, wo das reine absichtslos zusammengestellte Expertenwissen über die „nichtbeobachtete Umwelt“ – also alles, was wir nicht mit eigenen Sinnen erfassen können – gebündelt vermittelt werden soll:

„Bei diesem Sammeln wird sich ein Grundbestand an Daten anhäufen, den die politische Wissenschaft verallgemeinern und für die Schulen zu einem begriffsmäßigen Bild von der Welt aufbauen kann. Sobald das Bild Gestalt annimmt, kann die Staatsbürgerkunde die Vorbereitung für die Beschäftigung mit einer nichtbeobachteten Umwelt werden“ (S. 340).

Es geht Lippmann dabei um eine Art Medienkompetenz, um bessere Bildung und um das Verstehen der Manipulationsanfälligkeit. Was die öffentlichen „Informationsdienste“ angeht, die ihm vorschweben, könnte einem heutigen Beobachter der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages einfallen, der eine ähnliche Aufgabe erfüllt und dabei auch immer wieder für die Regierung unbequeme Analysen verfasst, dessen Bedeutung in der Politik und der Gesellschaft aber eher gering bleibt.

Festhalten lässt sich, dass Lippmanns Analysen und Ideen auch heute, knapp einhundert Jahre später, am Ende des amerikanischen Imperiums, vielschichtigen Diskussionsstoff bieten. Denn die Macht der Symbole, der Frames und der Manipulation bleibt ungebrochen.


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Ab sofort im Handel: Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung, 380 Seiten, 26 Euro.


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