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Die Männergrippe

Die Männergrippe

Das Kranksein ist eine sehr subjektive Angelegenheit, was sich mitunter darin zeigt, wie unterschiedlich Mann und Frau eine Krankheit bewältigen.

Es ist wieder so weit. Wir sind inmitten der Grippezeit. Leise krümeln die vollgeschnäuzten Papiertaschentücher in den Hosentaschen der Kranken vor sich hin. In den Apotheken stehen bellende und niesende Kunden Schlange. Mit glasigem Blick schaut der Patient, der nun an der Kasse steht, ungläubig auf das Rezept. Ungläubig deshalb, weil er dies erst nach vier Stunden Wartezeit beim Arzt ausgedruckt bekam und ihm nun die Apothekerin mitteilt, dass er alles selbst zahlen müsse. Besser noch; die Kopfschmerztabletten in dieser Dosierung hätte er auch völlig rezeptfrei erhalten können. In den Augen der Apothekerin kann selbst der fiebrige Patient erkennen, dass die Dame hinter der Verkaufstheke genau weiß, dass sein Leiden nicht mit den verordneten Medikamenten zu erklären ist. Dennoch schaut sie voller Mitgefühl durch die vor ihr schwebende Plexiglasscheibe, die wohl für eine bessere Verständigung und zur Sicherstellung des Geldnotenaustausches ausreichend Aussparungen vorweist — der Aerosoltheorie zum Trotz.

Trotzdem fühlen sich alle Kunden und Mitarbeiter damit sicherer und folglich besser. Auch die Apotheke hat damit ihre Pflichtschuldigkeit augenscheinlich erfüllt. Zur Rettung der unangenehmen Situation aufgrund des überflüssigen Rezeptes erklärt der Patient, dass eine Vorstellung beim Doktor längst überfällig war. Und eine Krankmeldung sprang ja auch noch dabei heraus. Aber dies offenbart er lieber nicht.

Apropos Krankschreibung: Derzeit werden gehäuft Influenza-Fälle diagnostiziert. Das kann durch einen Test bestätigt werden, ähnlich wie bei Corona seinerzeit. Von der Influenza, also der Grippe, ist der gemeine grippale Infekt zu unterscheiden. Ein erfahrener Arzt kann durch gezielte Fragen und einer körperlichen Untersuchung den grippalen Infekt gut diagnostizieren und von der Influenza abgrenzen.

Die Influenza beginnt plötzlich und heftig. Erst noch fit wie ein Turnschuh, Stunden später kaputt, hochfiebrig und zu nichts mehr zu gebrauchen, laboriert der Erkrankte umher. Selbst der Gang auf die Toilette wird zur Strapaze. Der grippale Infekt hingegen beginnt mit Halskratzen, einer laufenden Nase und Hustengefühl. Später kann auch erhöhte Temperatur hinzukommen. Das Krankheitsgefühl beginnt demnach schleichend und wird meist erst einen Tag später stärker. Die Influenza hingegen kennt kein Warten.

Jetzt ist es ja so, dass Menschen völlig unterschiedlich sind — auch in der Krankheit. Während die einen robust und den Widrigkeiten trotzend jede Infektion scheinbar herkulinesk wegstecken, darbt und leidet ein anderer schon beim bloßen Schnupfen, als gäbe es kein Morgen mehr.

Kennen Sie den Ausdruck „Männergrippe“? Ja? Ich auch. Ich habe sie selbst immer wieder mal. Gemeint ist damit, dass wir Männer bei Erkältung wohl allgemein stärker leiden als Frauen. Zumindest war das früher so, als es nur zwei Geschlechter gab. Ok, meiner Ansicht nach gibt es immer noch zwei Geschlechter, ich möchte das aber hier nicht weiter vertiefen. Vielleicht haben wir dazu ein andermal die Gelegenheit.

Uns Männern wird also regelmäßig unterstellt, dass wir bei einer bloßen Erkältung so leiden würden, als hätten wir die Grippe. Unglaublich, oder? Ja, es stimmt schon. Bahnt sich bei mir ein Schnupfen an, dann ist Alarm in der Hausapotheke. Zink, Hühnerbrühe, Vitamin C, Vitamin D, Vitamin B, Selen, warmes Bier, Streamingdienst, Fernbedienung, Wollsocken und die Telefonnummern verschiedener Lieferdienste werden sofort am Couchtisch platziert. Danach sinke ich auf der Couch darnieder und ergebe mich meinem Schicksal. Man weiß ja nie. Und wehe, jemand stört während des Todeskampfes meine Kreise. Geduldet wird lediglich die Katze. Völlig anteillos liegt sie neben mir. In meinem Leid ärgert mich dies, denn ein wenig Anteilnahme hätte ich schon gerne. Andererseits gibt die Katz halt Ruh und ich kann ungehindert niesen, leiden und dabei meine Serien schauen.

Dieses Verhalten habe ich einst auch bei einem meiner Geschlechtskollegen sehen dürfen. Herr und Frau W. bewohnten mit ihren zwei Kindern ein schönes Einfamilienhaus. Nun rief mich Frau W. eines Tages an und bat um einen Hausbesuch. Ihr Gatte sei krank. Ziemlich krank. Die Grippe wär‘s. Bereits mit der Laiendiagnose gebrieft, fuhr ich in der Woche vor Weihnachten mit meinem Pkw, der das Porsche-Klischee leider nicht zu erfüllen vermag, zum Haus des Patienten. Olfaktorisch konnte ich bereits beim Betreten des Hauses erkennen, was los war.

Plätzchenzeit! Es roch nach Vanillekipferl, Kokosmakronen und allerlei Leckereien der Vorweihnachtszeit. Frau W. war tatsächlich inmitten des Teigherstellungsprozesses, als ich klingelte. Sie führte mich direkt zu ihrem Mann in das Wohnzimmer. „Aah, Herr Pfarrer, schön, dass Sie da sind“, sagte Herr W. mit matter Stimme zu mir. „Nein, da muss ich sie enttäuschen, ich bin der Arzt“, entgegnete ich etwas entrüstet. Zugleich schossen mir weitere Gedanken durch den Kopf. Sollte es Herrn W. bereits so schlecht gehen, dass er den Pfarrer zur letzten Salbung oder Beichte erwartete? Hatte er bereits Sehstörungen? Oder lag es womöglich nur am kühlenden Waschlappen, der von der Stirn über die Augen gerutscht war und Herr W. zudem unbebrillt darniederlag?

Ich legte meinen schwarzen Mantel und meine große schwarze Arzttasche ab, stellte ein paar kluge Fragen und untersuchte meinen Patienten fachkundig. An meinem Patienten fiel mir nichts Besorgniserregendes auf. Etwas erhöhte Temperatur hatte er, der Husten war trocken und die Nase lief. Aber es bestand keine Gefahr für Leib und Leben. Insgesamt gab der Zustand des Patienten keinen Grund zur Sorge. Was mir besonders auffiel, war die Umgebung meines Patienten. Der Couchtisch quoll über vor Leckereien, Getränken, Zeitschriften und allerlei Ablenkungen. Schön hergerichtet lagen fertige Plätzchen neben frisch dampfenden Tee. Herr W. wurde ganz offensichtlich gehegt und gepflegt. Nur das Fieberthermometer fand ich auf diesem Tisch befremdlich. Es war sicher keines, mit dem man auf der Stirn oder im Ohr die Temperatur maß. Weil neben dem Thermometer noch ein Tiegel mit Vaseline stand, blieb nur noch eine Körperöffnung übrig, in die das Thermometer mit hoher Wahrscheinlichkeit versenkt worden war.

Auch als Arzt ist man vor einem Kopfkino bei dieser Konstellation nicht gefeit. Aber das sollte nun nicht meine Sorge sein. Ich aß ja nicht von diesem Tisch. „Wollen Sie ein Platzerl, Herr Doktor?“, fragte Herr W. inmitten der Auskultation des Herzens. Das Fieberthermometer vor Augen, reagierte ich nicht sofort. Dadurch veranlasst wiederholte er seine Frage so laut, dass meine Trommelfelle vibrierten — hatte ich doch das Stethoskop, mit dem Körpergeräusche besser hörbar sind — noch in den Ohren. „Nein, vielen Dank“, lehnte ich schnell und wohl wenig überzeugend ab. „Ich muss mich mit Süßigkeiten grad einbremsen“, flunkerte ich. „Sie wissen schon, der Bauch“, flutschte es aus mir heraus, und ich sah dabei meinem Patienten wohl zu lange auf den seinen.

Nun. Jedenfalls war Herr W. lediglich erkältet. Eine schwere Influenza schloss ich aus. Hierfür ging es ihm viel zu gut — was ich aber so nicht sagte. Denn in seinen Augen und nach seinem subjektiven Empfinden war er schwer krank. Das wollte ich ihm natürlich nicht nehmen. Plötzlich stand Frau W. mit den beiden Kindern in der Türe. Herr W. wusste weshalb. „Ja, geh bitte, lass mich zurück und nimm die Kinder mit“, sagte er noch matter als bei unserer Begrüßung. „Aber Herr W.“, entgegnete ich „das wird schon wieder. Kein Grund für eine Verabschiedung.“ Das Ehepaar und die Kinder blickten mich leicht verstört an. „Die geht nur einkaufen und nimmt die Kinder mit, weil ich so schlecht beinander bin“, durchbrach Herr W. die unangenehme Stille und reichte seiner Frau einen zerknüllten Zettel, begleitet mit den Worten: „Vergiss bitte das Tegernseer nicht.“ Damit war mir klar, dass Herr W. diese Erkältung überleben würde. Eine Krankschreibung war schnell ausgestellt, Nasenspray und Kopfschmerztabletten konnten ohne Rezept aus der Apotheke geholt werden. Trotzdem bat mich Herr W. mehrmals um ein „Rezept“. Also kritzelte ich auf meinen Rezeptblock für „Privatpatienten“ abschwellendes Nasenspray und Schmerztabletten gegen Kopf- und Gliederschmerzen.

Mein nächster Hausbesuch führte mich nur ein paar Straßen weiter. Hier hatte es die Frau der Familie M. erwischt. Ich klingelte mehrmals. Mit Blaumann und ölverschmierten Händen öffnete mir der Ehemann. Er erklärte mir, dass normalerweise seine Frau eile, wenn es klingelt. Er sei — wie so oft — schwer in der Garage mit seinem Auto beschäftigt. Deshalb habe es ein wenig gedauert, bis er an die Tür kommen konnte. Im Haus war es auffallend kalt. Ich fragte mich, ob wohl die Heizung ausgefallen sei. Zudem roch es nach überfüllten Mülleimern. Der Mann im Overall deutete mit dem Finger die Treppe hoch. „Sie liegt da oben. Erster Stock. Zweite Tür rechts.“ Dann plärrte er: „Liesbeth, der Doktor ist da.“ Zu mir gewandt sagte er: „Gehen´s ruhig rauf. Die liegt oben und wird sicher wach sein.“ Nach dem Weckruf hatte ich daran keinen Zweifel.

Im ersten Stock angekommen, klopfte ich an die Tür. Kaum zu vernehmen und sehr entkräftet, bekam ich die Antwort, dass ich eintreten dürfe. Beim Anblick des Raumes fror es mich. Das Schlafzimmer der Eheleute war kahl, kalt und schmucklos. Kein Bild des Paares oder der Kinder schmückte das Zimmer. Nur ein monströses Hirschgeweih hing über dem Bett. Vielleicht war es ja auch das Gästezimmer, und die Ehefrau befand sich in häuslicher Absonderung. Was mir besonders auffiel, war der Kontrast zur vorherigen Liegestätte des Herrn W. War diese umgeben von Leckereien, frischem Tee, Zeitschriften, Duftlampe, Einmaltaschentüchern, Salbeibonbons, Vaseline und dem vermaledeiten Fieberthermometer, so war hier bei der Patientin nichts dergleichen zu sehen. Fast nichts. Eine Tasse mit Tee stand am Nachttisch. Allerdings wurde die Flüssigkeit bereits von einer seltsam anmutenden Oberschicht überzogen. Frisch sah das nicht aus.

„Wie geht’s Ihnen?“, fragte ich bereits besorgt. Der Anblick der Patientin gefiel mir gar nicht. „Gar nicht so schlecht“, sagte sie müde und starrte dabei aus dem Fenster. Dann überlegte sie kurz und wurde ausführlicher: „Bissl Fieber hab´ ich, ein wenig Gliederschmerzen und Husten. Entschuldigen Sie bitte, dass es im Haus so unaufgeräumt ist. Ich hatte so früh noch nicht mit Ihnen gerechnet. Später mache ich weiter. Mein Mann und die Buben brauchen auch noch was zu essen. Aber ich musste mich kurz hinlegen. Dafür bin ich ins Gästezimmer. Sonst steck ich unten alle an.“

„Aha“, dachte ich. Mit der häuslichen Absonderung lag ich also nicht ganz falsch. Mit dem Gästezimmer auch nicht. Allerdings war ich erstaunt, dass die Patientin noch immer auf den Beinen war und die Familie versorgte. Aufräumen wollte sie also auch noch. Nur gut, dass der Hausbesuch bei Herrn W. nicht lange währte. So hatte sich bei Frau M. das Aufräumen erübrigt. Rein objektiv betrachtet war Frau M. erheblich kränker als mein vorheriger Patient. Das belegten auch meine Untersuchungen. Von ein bisschen Fieber konnte keine Rede mehr sein. Frau W. glühte bei 40,1 Grad Celsius — die Messung führte ich am Ohr der Patientin durch — vor sich hin. Ihre Lungen pfiffen auffällig und der Husten war knackig trocken bis bellend.

Frau M. war also richtig krank. Nichts für ein Krankenhaus, aber schon so, dass ich mit ihr verabredete, einmal täglich nach ihr zu schauen. Ich rezeptierte noch fiebersenkende Medikamente sowie einen Hustensaft und schickte Herrn M. in die Apotheke. Er war davon gar nicht begeistert, musste er doch seine Schrauberei für eine halbe Stunde unterbrechen. Die Kinder könne er nicht mitnehmen. Die machten grade Hausaufgaben. So sagte er es zumindest. Ich war mir da nicht so sicher. Denn aus den Kinderzimmern hörte ich die Geräusche einer Carrerabahn samt Geschrei — aber vielleicht hatte ich mich auch getäuscht. Eine Krankschreibung war nicht notwendig. Frau M war Hausfrau. Aus ärztlicher Sicht sah ich ein paar Tage Bettruhe als absolut notwendig an und „verordnete“ diese auch. Damals hatte das Wort eines Arztes noch Gewicht und kein Ehemann hätte in meinem Beisein widersprochen.

Kurz nach den Weihnachtsfeiertagen traf ich das Ehepaar W. zufällig beim Einkaufen. Herr W. war wieder fit. „Vielen Dank nochmal für Ihre Hilfe, Herr Doktor. Mich hat es ja ganz schön erwischt seinerzeit. Wenn Sie nicht gekommen wären, ich hätt` sicher ins Krankenhaus müssen, gell Schatz“, sagte Herr W. und sah seine Frau dabei hilfesuchend an. Frau W. schmunzelte. „Ja, Heinz, das hätte ganz schlimm mit dir enden können, wenn der liebe Herr Doktor nicht gekommen wär“. Sie zwinkerte mir dabei verständnisvoll lächelnd zu und kniff ihrem Mann liebevoll in den Bauch.

Na, wenigstens haben sich die beiden noch lieb, dachte ich so vor mich hin. Mit dieser hingebungsvollen Fürsorge seiner Frau hätte Herr W. auch eine echte Grippe gut überstanden.

Mir gab dies dennoch ein bisschen zu denken. Wusste ich doch, dass Herr W. sich so gefühlt hatte, wie Frau M. tatsächlich krank war. Doch im Gegensatz zu ihm erhielt die vermutlich an Grippe erkrankte und tapfere Frau M. scheinbar wenig Zuwendung und Unterstützung. Schade.

Ich wünsche Ihnen allen eine frohe und besinnliche Weihnachtszeit. Passen Sie gut auf Ihre Lieben auf und lassen Sie sich bitte nicht von Panik und Angst verrückt machen. Alles wird gut — Sie werden es sehen.


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