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Die nützlichen Opfer

Die nützlichen Opfer

Das nationalstaatliche Denken der Kurden spielt den imperialen Plänen des Westens in die Hände — Deutschland dilettiert als Nachwuchs-Weltmacht.

Auf meinen PodCast vom 16. Oktober über die militärischen Aktionen der Türkei in Nord-Ost-Syrien habe ich Kritik sowohl von Türken als auch von Kurden erhalten. Im Prinzip ein gutes Zeichen, zeigt es doch, dass ich keineswegs einseitig berichtete. Allerdings war der Hinweis am Beginn des Artikels nicht ausreichend gewürdigt worden, dass es sich hauptsächlich um die Sicht der Syrer handelt, die ich einmal der Sicht der deutschen Massenmedien gegenüberstellen wollte.

Und es zeigten sich auch offensichtliche Missverständnisse hinsichtlich der Politik beider Seiten in den letzten Jahren mit Bezug auf Syrien. Zu sehr sind die Massenmedien nur noch Sprachrohre und Verstärker des jeweiligen Establishments, dem sie dienen. Es ist unerträglich, wenn im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine Serie von Propagandaberichten die Bevölkerung in die Irre führt, und die Medien die völkerrechtswidrige Besatzung durch die USA fordern. Schlimmer kann man die Situation nicht verdrehen. Daher hier noch ein paar zusätzliche Erklärungen, die in dem sowieso episch langen Beitrag auf KenFM von letzter Woche keinen Platz mehr hatten, durch den aber weitere Sichtweisen zum Zuge kommen sollen.

Zunächst die Klarstellung, dass es weder „die Kurden“ noch „die Türken“ gibt. Es gibt ultranationalistische Türken, wie es sie in den USA oder Deutschland auch gibt, die andere kulturelle Einflüsse, eine andere Sprache oder Religion, welche nicht in ihr Gedankenschema passen, als Bedrohung des Staates ansehen und bekämpfen. Und es gibt ultranationalistische Kurden, welche um jeden Preis, auch den Preis eines Krieges und vieler Opfer, einen eigenen Staat erzwingen wollen. Auch gibt es auf beiden Seiten Menschen, welche ein friedliches multikulturelles Zusammenleben in einem Staat als Stärke desselben ansehen und sich dafür einsetzen. Und die Mehrheit befindet sich wohl in der Mitte zwischen beiden Gruppen, schwankt hin und her zwischen den verschiedenen Propagandalinien. Leider sind oft die Vertreter eines pluralistischen Staates, in dem Ethnien gleichberechtigt miteinander leben und ihre jeweiligen Besonderheiten pflegen dürfen, medial unterrepräsentiert, was zu einer Stärkung der jeweiligen extremistischeren Strömungen führt.

In diesem Artikel soll es nicht um die Kurden in der Türkei oder im Irak gehen, sondern nur um Syrien, und er baut auf Informationen auf, welche in dem PodCast von letzter Woche erwähnt wurden.

PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) / PYD (Partei der demokratischen Union)

Ob man die PKK als Terrororganisation ansehen mag, kann sicher diskutiert werden. Die meisten Anschläge, die mir bekannt sind, waren gegen Sicherheitskräfte gerichtet, nicht gegen Zivilisten. Andererseits gibt es kein Gebiet, welches von der Türkei „annektiert“ worden wäre oder „besetzt“ gehalten wird. Vielmehr kämpft die PKK für die Unabhängigkeit eines Gebietes auf einem fremden Territorium, welches durch sie besiedelt worden war, oder auf dem sie, wie sie erklärt, schon immer gelebt hatte. Insofern unterscheiden sich die kurdisch-syrische PYD beziehungsweise die YPG (Volksverteidigungseinheiten) nicht von der PKK. Dass beide zum gleichen „Laden“ gehören, wird schon durch die Omnipräsenz des PKK-Gründers Abdullah Öcalan demonstriert.

Dass Öcalan sich ausdrücklich gegen einen eigenen Staat auf dem Gebiet Syriens ausgesprochen hat, gehört zu den Absonderlichkeiten dieses Konfliktes und zeigt, dass die Führung der militanten Kurden im Osten Syriens ihre eigene Politik betrieben, die maßgeblich von ausländischen Mächten bestimmt war. Öcalan erklärte:

„In Syrien sei nicht Autonomie gefragt, sondern eine Lösung, die ,den Prinzipien der kommunalen Demokratie entspricht und die Rechte der Kurden auf der Grundlage eines vereinten Syriens verfassungsrechtlich garantiert‘.“

Die Frage, die sich aufdrängt: Warum haben die Führer der Kurden in Ost-Syrien nicht der Aufforderung Öcalans entsprochen, und die Zusammenarbeit mit den USA, Frankreich und Großbritannien aufgegeben, und sich stattdessen mit der legitimen Regierung des Landes geeinigt?

Denn Versuche, sie davon zu überzeugen, hat es auf Seiten Russlands viele gegeben. Offensichtlich hatten die USA sehr überzeugende Argumente. Nach Aussage von Präsident Donald Trump hätten die Kurden „massive Geldzahlungen“ und Unterstützung erhalten. CNN, selbsterklärter medialer Gegner Trumps, erwähnte 1,4 Milliarden Dollar für Ausrüstung, Versorgung, Training und Besoldung in den Jahren 2017 bis 2019.

Im Gegensatz zu den militanten Kurden im Osten des Landes, die zu einem nicht genau definierten Teil erst im Verlaufe des Krieges nach Syrien kamen, hat sich der Teil der Kurden, den man als „Zivilgesellschaft“ bezeichnen könnte, deutlich nicht für einen bewaffneten Kampf gegen die syrische Armee ausgesprochen. Im Gegenteil, obwohl der Name der Armee „Syrisch Arabische Armee“ (SAA) lautet, kämpft eine nicht unerhebliche Zahl von Kurden in diesen Streitkräften. Entgegen der Propaganda im Westen spiegelt die Armee die gesamte Palette der Bevölkerung. Das heißt es finden sich alle Religionen und Ethnien darin, die Seite an Seite gegen die angreifenden Mächte kämpften. Und es gibt auch keine alleinige Führung durch Alawiten, wie im Westen behauptet wurde.

Der syrische Staat hat die ethnisch und sprachlich offensichtlich nicht arabischen Kurden als eingewanderte Ausländer angesehen. Und nach jedem Aufstand in der Türkei wuchs die Zahl der nach Syrien geflüchteten Kurden. Ein Teil von ihnen weigerte sich, in den neuen Staat assimiliert zu werden. Viele von ihnen wurden als Ausländer, die behördlich nicht erfasst sind (Maktumin) bezeichnet. Im Gegensatz zu anderen Ländern wurden diese jedoch nicht verfolgt oder ausgewiesen.

Bis 2011 waren andererseits, entgegen der sonst sehr strikten Verweigerung der Staatsbürgerschaft für illegal Eingewanderte, zehntausende von Einbürgerungen vorgenommen worden, wobei man dies in Syrien als „Wiedereinbürgerungen“ ansah, und von der Annahme ausging, dass sie bereits längere Zeit in Syrien lebten. Kurdische Gruppen sehen darüber hinaus 200.000 Kurden in Syrien als Syrer an, welchen die Staatsbürgerschaft verweigert wird. Zudem gibt es inzwischen, wie gesagt, vermutlich mehrere hunderttausend Kurden, die während des Krieges ins Land gekommen waren, deren Status als illegale Migranten ungeklärt ist.

Schauen wir zurück auf die Entwicklung vor dem Krieg: 2005 hatte sich die politische Opposition in Syrien in einer „Damaskus Deklaration“ (Seite 72) auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt.

„(…) Dann auf dem Treffen des Nationalen Rats für die Damaskus-Deklaration im Dezember 2007 lehnten die Parteien der ‚Socialist Union‘ und der ‚Communist Action‘ Bestrebungen der liberalen Kurden-Parteien zugunsten eines ‚externen Faktors‘ ab, der helfen sollte, den Wechsel herbeizuführen. Die sozialistischen und kommunistischen Parteien, zusammen mit der linken kurdischen Partei (und später einer zweiten kurdischen Partei, angeführt von Nasreddin Ibrahim) begannen nach einem ‚Dritten Weg‘ zwischen der Damaskus-Deklaration und der Regierung der Baath Partei zu suchen.“

Also schon hier wird von drei verschiedenen Strömungen innerhalb der kurdischen Zivilgesellschaft berichtet.

Die Deklaration von Damaskus hatte übrigens eine deutliche Unterstützung für die Armee beinhaltet. Sie wurde als nationale Armee angesehen und man wollte zwar die Kontrolle der Baath-Partei über die Streitkräfte beenden, aber „den professionellen Geist der Armee, zum Schutz der Unabhängigkeit des Landes und dem Schutz des verfassungsmäßigen Systems, der Verteidigung der Heimat und seiner Menschen“ erhalten. Es gab eine „Zurückweisung von Veränderung, die vom Ausland eingebracht wird“ und den Aufruf für eine „gerechte demokratische Lösung für die Angelegenheit der Kurdenfrage in Syrien“.

Die einzige offizielle Amtssprache in Syrien ist Arabisch, und ähnlich wie in anderen Ländern waren andere Sprachen im öffentlichen Raum vor dem Krieg nicht erlaubt. Kurden, die unter sich, wie andere ethnische Gruppen auch, in dem Vielvölkerstaat Syrien ihre eigene Sprache pflegten, wurden jedoch nicht — wie zum Beispiel russischsprachige Menschen in der Ukraine — verfolgt.

Die Moslembruderschaft hatte sich dann Anfang 2009 vollständig von der politischen Opposition losgesagt, während die kurdischen Gruppen — ohne die PYD — den Kurdish Political Council gründeten. Und der Großteil der kurdischen Gruppen, eben außer der PYD, war dann auch angesichts der Aggression gegen den Staat und die Bevölkerung bereit, an der Seite der Regierung zu kämpfen.

Als die von den NATO-Ländern und auch von der Türkei unterstützten „Rebellengruppen“ — für welche inzwischen klar sein dürfte, dass sie sich allesamt kaum von Al-Kaida und dem IS unterscheiden — und der IS immer größere Bereiche des Landes übernahmen, stand die syrische Regierung vor der schwierigen Entscheidung, sich mit ihren beschränkten Möglichkeiten auf die bevölkerungsreichen Zentren zu konzentrieren oder in einem großflächigen Kampf schnell aufgerieben zu werden. Um die kurdischen Gebiete zu verteidigen, wäre die Regierung zu diesem Zeitpunkt auf die kurdische Hilfe angewiesen gewesen.

Während sich wie gesagt viele Kurden den offiziellen Streitkräften anschlossen, verweigerten jedoch die Kurden, welche durch die PYD beziehungsweise YPG dominiert wurden, die Zusammenarbeit. Sie ließen sich in der Folge durch die angreifenden NATO-Staaten als Werkzeug für einen Regimewechsel in Syrien missbrauchen, in der Hoffnung, einen Teil des Landes für ihre Selbständigkeit abspalten zu können.

Allerdings gab es kaum ernsthafte Schlachten zwischen Kurden und den legitimen Streitkräften des Landes, weshalb diese Kurden als einzige Gruppe innerhalb der bewaffneten Milizen legitim als „Rebellen“ gegenüber dem syrischen Staat, und nicht als Terroristen bezeichnet werden können, und eine Versöhnung nicht zu schwer werden sollte.

Um zwischen der PYD und der syrischen Regierung zu vermitteln, erlaubte die russische Regierung im Jahr 2016 sogar der PYD ein Vertretungsbüro in Moskau zu eröffnen. Davor und danach gab es zahlreiche Versuche, diesen Teil der Kurden dazu zu bewegen, sich für die Einheit Syriens einzusetzen. Es war jedoch maßgeblich die Türkei, die dafür verantwortlich war, dass zwar die moderaten Kurden, nicht aber die PYD zu Gesprächen eingeladen wurden, wenn die Türkei ebenfalls eingeladen war.

„Der kurdische Nationalrat Syriens (ENKS) sagte am Dienstag, dass er offiziell zu Friedensgesprächen mit Unterstützung Russlands und der Türkei in Kasachstan eingeladen wurde, während der von der PYD geführte Regierungsrat Syriens (TEV-DEM) ausgeschlossen wurde. Die Gespräche sollen am 23. Januar in Astana, der Hauptstadt Kasachstans, stattfinden“ (Quelle).

Dies war der Tatsache geschuldet, dass die Türkei die PYD als verlängerten Arm der PKK ansah. Aber auch auf Seite der Kurden gab es Gründe, nicht an solchen Gesprächen teilzunehmen. Nach Aussagen von PYD-Mitgliedern hatten ihnen die USA den Kontakt zur syrischen Regierung untersagt.

Die „Einsatzkräfte“ auf der türkischen Seite

Bis zum Militärputsch gegen den Präsidenten Erdogan in der Türkei im Juli 2016, bei dem 249 Menschen starben und viele Tausende verletzt wurden, hatte das Land als Transitland für Terroristenströme und Waffenlieferungen an militante Gruppen in Syrien gedient. Außerdem wurde ein erheblicher Teil des dem syrischen Staat gestohlenen Öls über die Grenze in die Türkei gebracht und damit ein großer Teil der Terroraktivitäten in Syrien finanziert.

Es war die amerikanische Journalistin Serena Shim, die für einen iranischen Fernsehsender arbeitete und als erste Bilder von der aktiven Unterstützung des IS durch den türkischen Staat zeigte. Sie starb kurz darauf unter „ungeklärten Umständen“. Anschließend häuften sich die Berichte und in der Folge die Verfolgung der Journalisten, die es wagten, über die Zusammenarbeit des türkischen Staates mit den Terroristen in Syrien zu berichten.

Mit dem versuchten Militärputsch in der Türkei jedoch änderte sich die Politik Erdogans radikal. Dies wird der Tatsache zugeschrieben, dass der russische Präsident Putin ihn kurz vor dem Putsch vor einem Mordanschlag gewarnt hatte, und weil dieser der erste Staatschef war, welcher den Putsch umgehend verurteilt hatte, während dieser noch lief — während die westlichen Regierungen deutliche Sympathien gegenüber den Putschisten zeigten. In einem atemberaubenden Tempo folgte nun die Versöhnung mit Russland, obwohl noch kurz zuvor ein russisches Kampfflugzeug durch einen türkischen Jet abgeschossen worden war. Genauso schnell aber schlug die Berichterstattung in den westlichen Ländern um.

War Erdogan bis dahin zwar kritisiert, aber immer als wichtiger Partner dargestellt worden, und war die Unterstützung für den Terrorismus in Syrien als Verschwörungstheorie oder „russische Propaganda“ bezeichnet oder einfach nicht erwähnt worden, so hörte man plötzlich innerhalb von einer Woche wie selbstverständlich in deutschen Medien alles über die Beziehungen zwischen dem türkischen Staat und radikalen Kräften in Syrien, die gegen den Staat kämpften — was seit Jahren schon in den alternativen Medien diskutiert worden war. Es war offensichtlich, auf welcher Seite Deutschland und die deutschsprachigen Medien standen: auf der Seite jener Länder, welche Syrien zerschlagen wollten, und da passte es gar nicht, dass die Türkei ausscherte.

Die russische Diplomatie unterstützte die Veränderung der türkischen Politik und erzeugte durch das Zusammenbringen der Türkei, Russlands und des Iran in eine Gruppe ein Gegengewicht zu den von den USA dominierten NATO-Ländern, die im Verbund mit den Golfdiktaturen standen. Allerdings ist die Türkei noch nicht Teil des Geheimdienstnetzwerkes, welches von Russland, Syrien, Irak und Iran mit einer Zentrale in Bagdad gegründet worden war.

Terroristengruppen wie der IS und andere Al-Qaida-Ableger jedoch schätzten die veränderte Politik Erdogans überhaupt nicht und reagierten mit einer Serie von Anschlägen gegen die Türkei in den Jahren 2016 und 2017, die auch 2018 und 2019 weitergingen. Natürlich hatte es auch schon vorher, zum Beispiel im Jahr 2015 Anschläge des IS gegeben, diese waren jedoch nicht gegen den Staat, sondern gegen Friedensbewegungen gerichtet.

Während der Befreiung immer weiterer Gebiete durch die syrischen Streitkräfte — im Verbund mit der russischen Luftwaffe, Kämpfern der Hisbollah und Beratern aus dem Iran — war das standardmäßige Vorgehen der „Versöhnungsoffiziere“ der syrischen Armee, den Terroristen, welche Syrer waren, eine Amnestie anzubieten, soweit sie keine Gräueltaten begangen hatten. Die Mehrheit nahm dieses Angebot in der Regel an und wurde wieder in die Gesellschaft integriert. Die ausländischen Kämpfer und Hardcore-Terroristen jedoch wählten den freien Abzug ohne schwere Waffen. Dieser fand in berühmt gewordenen „grünen Bussen“ statt. Das Ziel war Idlib, weshalb nun Idlib das Zentrum des weltweiten Terrorismus wurde, in dem sich die Schlimmsten der Schlimmen versammelt hatten. Die Warnung durch die NATO vor einem Angriff gegen diese Gruppen, verbunden mit der Drohung, Syrien wieder zu bombardieren, ist daher äußerst entlarvend.

Diese Unterstützung fällt aber nun weg, seit die Türkei sich jener Kämpfer bedient. Interessant ist, dass von jenen 28 „verrückten Milizen“ 21 von den USA sogar offiziell, viele davon mit modernsten panzerbrechenden Waffen, unterstützt worden waren — auch, wenn auch weniger auffällig, von der Bundesregierung. Auch wenn die Medien, allen voran die New York Times, versuchen, die Geschichte umzuschreiben.

Die Türkei jonglierte nun zwischen einer neuen Politik der Annäherung an Russland und den Iran und dem Versuch, die Terroristen in Idlib davon abzuhalten in die Türkei einzusickern. Diese Politik musste aber früher oder später scheitern. Und so steht die Vermutung im Raum, dass die Türkei eine Politik einleitete, die man von anderen Regimen kennt, welche Extremisten nach der Benutzung irgendwie „entsorgen“ mussten. Man schickt sie ganz vorne an eine Front in der Hoffnung, dass sie nicht zurückkommen oder zumindest ihr „Mütchen abkühlen“.

Gleichzeitig musste Präsident Erdogan, der den Terror des IS grundsätzlich mit den Anschlägen der PKK in einem Atemzug nannte, zeigen, dass er etwas gegen den Terrorismus in der Türkei unternahm. Außerdem konnte er die Entwicklung der Entstehung eines Kurdenstaates an seinen Grenzen unmöglich akzeptieren. Und so war die Forderung nach der Entwaffnung der Kurden in der Grenzregion und die Einrichtung eines „Sicherheitskorridors“ eine Maßnahme, bei der er sicher sein konnte, die Unterstützung Syriens und des Iran zu erhalten. Auch wenn Syrien offiziell und verbal natürlich die Militäraktion verurteilte.

Syrien hatte schon einmal im Jahr 1998 unter dem Druck einer drohenden Invasion der Türkei einer Vereinbarung zugestimmt, welche es der Türkei erlaubte, bis zu fünf Kilometer auf syrisches Gebiet vorzudringen, um PKK-Kämpfer zu verfolgen und zu bekämpfen. Diese Vereinbarung ist immer noch in Kraft. Deshalb sind die Voraussetzungen gut, dass Syrien auch diesmal einer ähnlichen Regelung zustimmen wird. Besonders weil Russland, die Türkei und der Iran unisono erklärten, dass die Souveränität und Einheit von Syrien erhalten werden muss. Das heißt, kein Kurdenstaat, aber auch keine dauerhafte Anwesenheit von türkischen Truppen auf syrischem Gebiet.

Die Entfremdung der Türkei von den USA war zwangsläufig. Da Letztere keinen anderen Partner in Syrien gefunden hatten, der bereit war, sein Land zu verraten, ohne aber das Etikett des Terrorismus auf der Stirn zu tragen, mussten sie sich der Kurden bedienen.

Da sich diese wiederum — wie die PKK in der Türkei — gegen den Staat stellten und wie die PKK das Bild des PKK-Führers Öcalan überall präsentierten, wurden sie vom türkischen Staat und der Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei als Feinde angesehen und von der Bevölkerung in Syrien als Rebellen, die mit ausländischen Staaten kooperierten und die Besatzung des Landes erlaubten.

Nach dem Militärputsch gegen die Regierung Erdogans, bei der nach Vermutung der Türkei auch NATO-Länder passiv wohlwollend oder aktiv involviert waren, sah Erdogan die Notwendigkeit, sich gegen einen Regime Change durch das Imperium abzusichern, und begann ernsthaft nach einem Luftabwehrsystem zu suchen, nachdem eine erste Anfrage nach fortschrittlichen US-Systemen abgewiesen worden war. So kam es zum Kauf von Russlands S-400. Ein Meilenstein der Geopolitik. Was wiederum dazu führte, dass die Entfremdung zwischen der Türkei und den anderen NATO-Ländern noch beschleunigt wurde. Außerdem hat dies, trotz anderslautender Beteuerungen, der türkischen Wirtschaft einen schweren Schlag verpasst. Erdogan benötigte also dringend einen „Erfolg“, um seine Basis zusammenzuhalten.

Hatten die USA gehofft, ähnlich wie Israel, einen kurdischen Staat wie einen Stachel in das Fleisch der Region stecken zu können, wodurch ein ewiger Kriegszustand sichergestellt gewesen wäre — und der Widerstandshalbmond unterbrochen —, war das den Ländern der Region bewusst und für sie unmöglich zu akzeptieren. Trump wiederum wollte einerseits von einem Impeachment-Verfahren in den USA ablenken und andererseits ebenfalls seine Basis zufrieden stellen. Denn dieser hatte er vor den Wahlen versprochen, die Kriege zu beenden und die Soldaten „nach Hause“ zu holen, auch wenn er sie erst mal im Irak parkt. — Wobei das irakische Militär schon erklärte, dass die aus Syrien abziehenden Truppen nur für den Transit geduldet würden, nicht zur dauerhaften Stationierung. — Und so kam es zu der historischen Win-Win-Win-Win-Win-Situation, in der es, genau besehen, nur wenige Verlierer geben wird.

Die Win-Win-Win-Win-Win-Situation

Die russische Diplomatie hatte in den letzten Jahren an drei Fronten auf Hochtouren gearbeitet. In Astana fanden Gespräche zwischen dem Iran, der Türkei und Russland statt. In Sotschi brachte Russland die syrische Regierung und Oppositionsgruppen an einen Tisch. In Genf vermittelte Moskau zwischen der Regierung in Damaskus und der internationalen Gemeinschaft und schirmte Syrien vor Angriffen der Diplomatie aus den USA ab. Und zwischen allen pendelten die russischen Diplomaten und verbanden die Beziehungen zu einem Netzwerk.

Durch die Loyalität der Bevölkerung und der Streitkräfte zum syrischen Staat konnten im Laufe der Monate alle Terroristengebiete, bis auf Idlib und den von den USA besetzten Teil des Landes, befreit werden. Und diese Gebiete stehen nun naturgemäß im Fokus von Damaskus, aber auch von Moskau.

Ich will es gar nicht mit meinen eigenen Worten beschreiben, denn ich bin nicht der Einzige, der die Situation so beurteilt, sondern ich will Federico Pieraccini stellvertretend für mehrere Analysten im englischsprachigen Internet zu Wort kommen lassen:

„Die Vereinbarung zwischen den Kurden (SDF) und Damaskus ist der einzige natürliche Abschluss von Ereignissen, die stark von Moskau inszeniert werden. Der Einsatz syrischer und russischer Truppen an der Grenze zur Türkei ist der Auftakt zur Rückeroberung des gesamten syrischen Territoriums — das Ergebnis, das sich der Kreml zu Beginn dieses diplomatischen Meisterwerks gewünscht hatte. Washington und Ankara hatten nie Gelegenheit, Damaskus an der Wiedervereinigung des Landes zu hindern. Moskau ging davon aus, dass Washington und Ankara früher oder später die richtige Ausstiegsstrategie anstreben würden, auch wenn sie angesichts der Niederlage in Syrien ihren jeweiligen Anhängern den Sieg verkündet haben. Genau das haben sich Putin und Lawrow in den letzten Wochen ausgedacht und Trump und Erdogan die Lösung für ihre syrischen Probleme angeboten.

Trump wird erklären, dass er wenig Interesse an Ländern hat, die 7.000 Meilen von der Heimat entfernt sind; und Erdogan wird (mit etwas Widerwillen) bestätigen, dass die Grenze zwischen der Türkei und Syrien, wenn sie von der syrisch-arabischen Armee gehalten wird, Sicherheit gegen die Kurden garantiert. Putin hat Assad und den Kurden zweifellos geraten, einen Dialog im gemeinsamen Interesse Syriens aufzunehmen. Er hat zweifellos auch Erdogan und Trump von der Notwendigkeit überzeugt, diese Pläne zu akzeptieren. Eine Vereinbarung, die Damaskus und Moskau belohnt, rettet die Kurden, während sie Erdogan und Trump mit dem Anschein von Würde aus einer Situation entlässt, die einem nationalen oder internationalen Publikum schwer zu erklären ist“ (1).

Noch einmal mit anderen Worten, wer durch diese Entwicklung gewonnen hat:

  1. Die Kurden: Ihnen wird ein Leben im ständigen Krieg erspart. Ein Leben, das von der Gnade der USA abhängt, und keinerlei eigene Bewegungsspielräume ermöglicht. Sie erhalten einen ehrenhaften Platz in der Armee Syriens und können dann bei der Eroberung von Idlib gegen die islamistischen Terroristen die Ehre der Kurden bewahren — und die gesamtgesellschaftliche Anerkennung, die sie als „Verräter“ niemals erhalten hätten. Sie erhalten sicher Autonomierechte auf kommunaler Ebene, wie von Öcalan gefordert. Nur gewisse einzelne Extremisten werden sich für ihre Verbrechen unter Umständen verantworten müssen.
  2. Die USA: Trump hat diesen Krieg nicht begonnen. Er wollte ihn schon einmal beenden, konnte sich aber offensichtlich nicht gegen die Falken und den militärisch-industriellen Komplex durchsetzen. Nie zuvor hatte ein US-Präsident in den letzten Jahrzehnten so deutlich darüber geklagt, wie dieser Druck auf ihn ausübt. Für die US-Bürger bedeutet es weniger Kosten, für Trump eine deutliche Erhöhung seiner Wiederwahlchancen, da er endlich ein wichtiges Wahlversprechen eingelöst hat: Er beendet Kriege.
  3. Die Türkei: Sie erhält eine durch die syrische Armee und loyale kurdische Gruppen kontrollierte Grenze zu Syrien, was gegenüber der Bevölkerung als Sieg gegen den Terror verkauft werden wird. Die extremsten der Terroristen werden vermutlich zu „Kanonenfutter“ oder wegen Kriegsverbrechen aus dem Verkehr gezogen — wenn man den Tod in einem Krieg so nennen darf, der Rest in der Armee resozialisiert. (Allerdings wird dieser Versuch gerade durch die von den USA erzwungene Waffenruhe und den teilweisen hastigen Rückzug der Kurden unterminiert.) Die Versöhnung mit Syrien kann beginnen, was einen Anschluss der Türkei an die chinesische neue Seidenstraße erleichtert, wodurch die wirtschaftlichen Nachteile, die durch die Entfremdung von den USA einhergehen, zumindest teilweise ausgeglichen werden können. Auch könnte der Wiederaufbau Syriens, dessen Kosten auf über 200 Milliarden Dollar geschätzt werden, im Falle einer Versöhnung auch der Türkei zugutekommen, ganz abgesehen davon, dass Syrien möglicherweise auf Reparationsforderungen verzichten wird — denken wir nur an die zahlreichen abgebauten und in die Türkei verschleppten Fabriken.
  4. Syrien: Erhält endlich wieder die Gewalt über wichtige Anbaugebiete für Nahrungsmittel und die Ölquellen. Was wiederum den Iran entlastet, der derzeit der wichtigste Öllieferant sein dürfte. Bis auf Idlib und einen winzigen Teil im Süden des Landes, der noch von den USA gehalten wird, wurde das Versprechen Assads eingelöst, keinen Quadratmeter Syriens aufzugeben und um jeden Zentimeter zu kämpfen. Durch die Verstärkung mit syrischen Kämpfern und Waffen der USA wird die syrische Armee beim bevorstehenden Kampf um Idlib entlastet. Das Ende des Krieges wird absehbar, und damit der Beginn eines juristischen Kampfes möglich, um Reparationen von jenen Mächten, welche die Rebellen im bewaffneten Kampf unterstützt hatten, einzuklagen.
  5. Russland: Moskaus Diplomatie hat die USA abgelöst in der Rolle eines Vermittlers in der ganzen Region. Das Profil der russischen Außenpolitik erhält nun, natürlich nur außerhalb der NATO-Länder, die ihr zustehende Anerkennung. Einer der wenigen ausländischen Militärstützpunkte, welcher aber auch für die Verteidigung Russlands wichtig ist, wurde gesichert. Die Türkei wurde vom NATO-Feindstaat zu einem neutral wohlwollenden Nachbarstaat, dessen Austritt aus der NATO und Eintritt in die SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) durchaus möglich erscheint, ist sie doch bereits seit Jahren mit einem Beobachterstatus dort präsent.
  6. Iran: Der Iran verbessert seine Beziehungen zur Türkei weiter und mietet einen Hafen am Mittelmeer, was ein wichtiger strategischer Fortschritt ist, wenn der Osten Syriens befreit ist und ein landgestützter Transit vom Iran bis zum Mittelmeer möglich wird.

Sehen wir den Tatsachen ins Auge und widersprechen wir all jenen, welche derzeit über die Türkei herfallen. So schrecklich das Töten und die Flucht im Grenzgebiet ist, ebenso wie die damit drohenden Kriegsverbrechen durch islamistische Terroristen, die hoffentlich verhindert werden können: Ohne die Androhung und Durchführung der grenzüberschreitenden Militäraktion hätte sich Trump kaum mit seinem Abzug gegen die Hardliner und den tiefen Staat in den USA durchsetzen können. Ohne die Forderung Erdogans, dass die offizielle syrische Armee die Grenze kontrolliert, hätte es wohl keine so schnelle Chance für ein ungeteiltes Syrien gegeben. Und die Feststellung, ob es ein Völkerrechtsbruch ist, wird weitgehend davon abhängen, welche Einigung mit Syrien getroffen wird. Der Vorstoß in die ersten fünf Kilometer jedenfalls war durch die Adana-Vereinbarung abgedeckt. Was darüber hinausgeht, könnte von Syrien nachträglich legalisiert werden.

Wer verlor?

Pepe Escobar ist der Meinung, dass in Syrien die CIA ihre größte Niederlage seit Vietnam einstecken muss. Während westliche Propagandisten in Panik geraten und versuchen, mit gefälschten Videos die zweifellos vorhandenen Kriegsverbrechen islamistischer Banden in den Reihen der türkischen Kräfte noch schlimmer als tatsächlich darzustellen.

Da sind die Kolonialstaaten Großbritannien und Frankreich, die versucht hatten, im Fahrwasser der USA ihr Süppchen in Syrien zu kochen. Sie können die Rolle der USA nicht übernehmen und müssen nun auch abziehen. Verloren hat auch der tiefe Staat in den USA. Wenn Trump diesen Schachzug überlebt, wird er der Anfang des Einflussverlusts von kriegstreiberischen Gruppen in den USA sein. Die mutigen Worte von Tulsi Gabbart könnten ein erstes Zeichen dafür sein. Aber endgültig wird man das erst nach der wahrscheinlichen Wiederwahl Trumps erkennen können. Dann wird sich zeigen, ob Trump einen Bombenkrieg gegen den Iran beginnt oder in Afghanistan weiter bombardiert, oder ob er tatsächlich Ernst macht mit dem Versprechen, die ewigen Kriege der USA zu beenden.

Verloren haben möglicherweise auch einige extremistische Kurden, welche angeblich Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben sollen, falls diese von der syrischen Regierung untersucht und dann bestätigt werden sollten. Und natürlich hat Israel verloren, das gehofft hatte, ein gespaltenes und in Kriege verstricktes Syrien würde sich nie mehr um die Golanhöhen kümmern können. Und so wird jetzt absehbar, dass der Tag kommen wird, an dem Luftangriffe Israels nicht mehr unbeantwortet bleiben.

Die Medien werden wieder so tun, als ob nichts passiert wäre, und ihr Fähnlein in den Wind hängen, wenn ihre Narrative zusammenbrechen. Sie werden zwar zu den Verlierern gehören, aber wieder erfolgreich das Gegenteil behaupten. Leider werden ihre Verdrehungen der Realität in den Köpfen hängen bleiben. Wenn sie zum Beispiel behaupten, Trump hätte durch den US-Militärabzug den Militäreinsatz der Türkei und damit eine humanitäre Katastrophe an der Grenze ausgelöst. Die zustimmenden Kommentare unter den anti-türkischen Berichten in unseren Massenmedien deuten darauf hin.

Und Deutschland?

Natürlich ist auch Deutschland ein Verlierer, denn die Investitionen in die Weißhelme und andere „Rebellengruppen“ dürften vergeblich gewesen sein. Im Gegenteil drohen nun Reparationsforderungen in Milliardenhöhe. Deutschland wird nicht wie die USA eine Verurteilung einfach ignorieren können. Sicher haben die Geheimdienste die Regierung über die Situation informiert, und man weiß Bescheid. Aber die Bundesregierung kann ja schlecht den Wählern sagen:

„Tut uns leid, dass wir hunderte von Millionen Euro eurer Steuern in einen Regime Change in Syrien gesteckt haben und es wurde nichts daraus, außer hunderttausende Flüchtlinge, die wir nun auch länger hier behalten, indem wir die Sanktionen nicht beenden“.

Wir erinnern uns daran, wie der BND im Jahr 2012 verkündet hatte, dass der Sturz von Assad in ein paar Wochen passieren würde. Und wir erinnern uns an das BND-Spionageschiff, das offensichtlich maßgeblich an den ersten Erfolgen der „Rebellen“ Anteil hatte. Ebenso an die diplomatische Unterstützung von jenen Rebellen, die nichts mit der echten Zivilgesellschaft in Syrien zu tun hatten. Und wir erinnern uns daran, dass Deutschland die tödlichen Sanktionen gegen die Bevölkerung Syriens aufrecht erhält, und nicht nur dadurch die Rückkehr von Flüchtlingen aus Deutschland verzögert.

Und wir erinnern uns, dass militärische Maßnahmen der „Koalition“ — zu der auch Deutschland gehört trotz dreimaligen gegensätzlichen Votums des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages — von der Bundesregierung für legitim gehalten werden (2). Aber da diese Informationen meist nur in alternativen Medien und Büchern verbreitet werden, wird das politische Establishment wieder so tun, als ob die Befriedung am Ende ein Mitverdienst der Bundesrepublik Deutschland wäre.

Die Bundesregierung wird allerdings vermutlich nicht zu stark über die islamistischen Kämpfer an der Front der türkischen Militärintervention klagen, weil diese sich aus Kämpfern zusammensetzen, welche noch ein paar Wochen vorher als „moderate Rebellen“ benannt wurden, welche sich gegen „den Schlächter und Diktator Assad verteidigen“ müssten. Das übernehmen dann die Medien, die einfach so tun werden, als ob das jetzt ganz neue Informationen wären. Die Regierung muss im Strom der Medien-Kriegs-Propaganda gegen Syrien und nun auch gegen die Türkei so tun, als ob sie sich nur um die „armen Kurden“ Sorgen machen würde. Dabei muss sie aber versuchen, die Beziehungen zur Türkei nicht wirklich ernsthaft zu gefährden. Denn durch die zunehmende Distanzierung von den USA ergeben sich hier in der Zukunft neue Möglichkeiten der wirtschaftlichen Kooperation, wenn auch erst, nachdem die USA weiter geschwächt wurden.

Fazit

Die 30 bis 35 Millionen Kurden, die überall verteilt auf der Welt leben, werden verstehen müssen, dass nationalstaatliches Denken in erster Linie einem Imperium nutzt, welches geschickt die einzelnen Nationen gegeneinander ausspielt.

Dies ist im Mittleren Osten und im Fall des Iran besonders gut zu sehen, ohne hier auf die Geschichte eingehen zu können. Mit anderen Worten: Das Interesse von Nationalstaaten wird in den nächsten Jahrzehnten durch das Interesse von Regionen, die sich zusammenschließen und gemeinsame Ziele verfolgen, bestimmt werden. Und um den kolonialen Einflüssen, egal ob denen des alten Europas, der USA, Russlands oder Chinas endgültig entgegentreten zu können, werden sich der Mittlere Osten und der Iran zusammenschließen müssen. Dass dies mit korrupten mittelalterlichen Monarchien schwer möglich ist, liegt auf der Hand. Aber auch diese haben ein Verfalldatum.

Im Moment entwickelt sich eine Achse des Widerstandes vom Iran über den Irak und Syrien bis zum Libanon. Bemerkenswerterweise sind dies Staaten, welche sich im fortgeschrittenen Beginn der Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft befinden, wenn auch keiner im westlichen Sinne „liberalen“. Bald wird der Jemen dazukommen und dann wird sich zeigen, wie lange die feudalen Systeme der Golfdiktaturen ohne grundlegende Reformen oder Revolutionen werden bestehen können, und ob Israel als Apartheidstaat nicht isoliert werden wird, wenn an Stelle der Diktaturen demokratische Strukturen entstehen. Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate entwickeln derzeit interessante Politikprojekte, die darauf hindeuten, dass sie die Zeichen der Zeit erkennen.

Die Türkei ihrerseits muss verstehen, dass sie selbst als wichtige Regionalmacht jederzeit in Gefahr geraten kann, durch andere Großmächte in erhebliche Probleme gebracht zu werden. Und die Politik der Regierung, die Einheit des Landes über den Kampf gegen die PKK zu definieren, wird immer eine Spaltung in der Gesellschaft hervorrufen, welche den Staat und die ganze Region schwächen. Daher muss auch die Türkei den Nationalismus bremsen und gegenüber den Kurden wie auch der ganzen Region Zugeständnisse machen. Die zu erwartende Integration der Kurden in Syrien unter Beibehaltung ihrer kulturellen Besonderheiten sollte sich Erdogan gut anschauen.

Die Kolonialmächte hatten es im 20. Jahrhundert erfolgreich geschafft, den aggressiven panarabischen Nationalismus, der aber staatenübergreifend die Interessen der Region vertrat, zu zerstören. Er wurde im Rahmen einer geschickten Politik des „Teile und herrsche“ durch den aggressiven Islamismus wahhabitischen Zuschnitts unter dem Motto „Projekt für einen neuen Mittleren Osten“ ersetzt.

Und jetzt besteht nach dem Scheitern dieser imperialen Politik in den nächsten Jahrzehnten die Chance einer neuen regionalen Befriedung und Zusammenarbeit. Und dabei wird die Diplomatie Russlands eine Schlüsselrolle spielen. Als Vertreter der Idee einer multipolaren Welt, deren Staaten sich an universale Normen halten, statt an „Regeln“, die ein dominierendes Imperium aufstellt (3), hat Russland großes Interesse daran, dass der Mittlere Osten ein eigenes politisches Gewicht entwickelt. Der Geist eines befreiten Syriens ist aus der Flasche, und die Kriegstreiber werden nicht in der Lage sein, ihn wieder zurückzustopfen. Der geleakte Plan der Syrien angreifenden Mächte ist gescheitert.

Letzte Entwicklungen

Während die aus Syrien abziehenden US-Truppen mit verdorbenem Obst beworfen werden, und beim Empfang im Irak mit Steinen, erklärt der US-Kriegsminister Mark Esper, dass es Diskussionen darüber geben würde, einige Truppen im Nordosten in der Nähe der Ölfelder zu halten — dies um zu vermeiden, dass der IS und „andere“, sprich die legitime Regierung des Landes, Nutzen daraus ziehen können. Deutlicher kann nicht gezeigt werden, gegen wen Krieg geführt wurde und wird.

Und wie von mir erwartet, brachte das Treffen des türkischen und des russischen Staatschefs in Sotschi folgendes Ergebnis:

  1. Alle Beteiligten des Konfliktes respektieren die syrische territoriale Integrität und respektieren aber andererseits auch die türkischen Sicherheitsbedenken.
  2. Alle Beteiligten erklärten, den Kampf gegen den Terrorismus in Syrien weiter zu führen. Dabei wird man aber davon ausgehen können, dass die Türkei andere Schwerpunkte setzen wird als die syrische Regierung.
  3. Die Kräfte der SDF/YPG ziehen sich aus einer Zone zurück, die innerhalb eines Gebietes von 32 Kilometer vor der Grenze zur Türkei liegt.
  4. Alle Beteiligten respektieren die Vereinbarung von Adana aus dem Jahr 1998, nach der der Türkei erlaubt wird, bis zu fünf Kilometer innerhalb Syriens Anti-PKK-Operationen durchzuführen.
  5. Kräfte der syrischen Armee und der russischen Militärpolizei werden syrisches Territorium südlich der Grenze zur Türkei besetzen und sicherstellen, dass die kurdischen Kämpfer sich innerhalb von 150 Stunden ab dem 23. Oktober aus dem Gebiet zurückziehen.
  6. Alle kurdischen Einheiten und ihre Waffen werden aus Manbij und Tal Rifat abgezogen.
  7. Innerhalb von zehn Kilometern südlich der Grenze zur Türkei werden gemeinsame syrisch-türkische Patrouillen durchgeführt werden. In deutschen Medien ist abweichend davon in Radionachrichten von russisch-türkischen Kräften die Rede.
  8. Alle Beteiligten erklärten, die Rückkehr von Flüchtlingen zu fördern.
  9. Ein Mechanismus zur Beobachtung und Realisierung dieser Vereinbarung wird eingerichtet.
  10. Alle Beteiligten erklärten sich einer politischen Lösung der Krise in Syrien verpflichtet. (Quelle: russische Nachrichten und Twitter)

Damit bricht nun die gesamte Aufregung westlicher Politiker über den „Angriffskrieg“ und den „Völkerrechtsbruch“ der Türkei in sich zusammen, denn die Vereinbarung wird, wie von mir erwartet, als eine Erweiterung der Adana-Vereinbarung die Aktivitäten der Türkei — natürlich außer der zu verfolgenden Kriegsverbrechen — legalisieren.

Die Reaktionen deutscher Politik

Beleidigt darüber, dass Deutschland bei der Lösung der Krise keine Rolle spielen durfte, werden innenpolitisch Rufe nach einem „Sicherheitsrat“ laut.

„Mit Blick auf den Vorstoß der Bundesverteidigungsministerin zur Einrichtung einer westlichen Besatzungszone in Nordsyrien werden neue Forderungen nach dem Aufbau eines deutschen Nationalen Sicherheitsrats laut. Zwar gebe es ,vor dem Hintergrund eines möglichen Bruchs der Großen Koalition zum Jahresende, gegenwärtig ,wenig Raum für große konzeptionelle Würfe‘, heißt es in einem aktuellen Beitrag in einer führenden deutschen Tageszeitung. Trotzdem brauche Deutschland dringend eine Institution, die ,Analyse, Strategische Vorausschau und Strategiebildung‘ gewährleisten könne. Nur mit ihrer Hilfe lasse sich deutsche Weltpolitik erfolgreicher vorantreiben als bisher“ (4).

Außenpolitisch machte sich die Bundesregierung lächerlich, indem sie eine durch internationale Kräfte geschützte „Sicherheitszone“ vorschlug, die prompt von der NATO abgelehnt wurde. Ebenso wurde, was viel wichtiger war, kopfschüttelnd oder kichernd, der Vorstoß unserer Verteidigungsministerin AKK von Russland zurückgewiesen. Und als ob das nicht peinlich genug gewesen wäre, fliegt unser Außenminister Maas völlig überflüssigerweise in die Türkei, um den Außenminister des Landes darauf hinzuweisen, er möge doch dringend den Waffenstillstand beachten, der mit Russlands Vermittlung zwischen Ankara und den Kurden vereinbart worden war.

Und obwohl die Vereinbarungen zwischen der Türkei und Syrien die Präsenz türkischer Truppen in Syrien legalisieren — was zu erwarten gewesen war, wenn man den Adana-Vertrag kannte —, kolportieren deutsche Politiker und Medien immer noch die Behauptung, die „Invasion“ der Türkei wäre illegal. Ich kann nicht glauben, dass die gesammelte außenpolitische Kompetenz Deutschlands nicht in der Lage war, die Situation in Syrien zutreffend einzuschätzen, und gehe davon aus, dass es ein Theaterstück für die deutschen Wähler war, welches aufgeführt und von den Medien wohlwollend rezensiert wurde.


Quellen und Anmerkungen:

1) Übersetzung: https://www.theblogcat.de/uebersetzungen/jeder-gewinnt-16-10-2019/
2) http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/068/1806866.pdf („(…)Beginnend im September 2014 haben mehrere mit Deutschland verbündete oder partnerschaftlich verbundene Staaten (USA, Australien, Vereinigtes Königreich, Frankreich) die durch den IS von syrischem Staatsgebiet ausgehenden Angriffe auf Irak zum Anlass genommen, Irak — auf dessen Ersuchen hin — in Ausübung des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung im Sinne von Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen militärischen Beistand zu leisten. In diesem Zusammenhang werden auch militärische Maßnahmen auf syrischem Gebiet durchgeführt, da die syrische Regierung nicht in der Lage und/oder nicht willens ist, die von ihrem Territorium ausgehenden Angriffe durch den IS zu unterbinden (…)) Dem steht entgehen: Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages: https://neu-alexander.de/2018/06/gutachten-militaerschlag-in-syrien-war-voelkerrechtswidrig/ und https://neu-alexander.de/2018/07/6970/
3) „Die Essenz von Neo-Revisionismus ist nicht der Versuch, neue Regeln zu schaffen, oder die Vision einer alternativen internationalen Ordnung zu verfolgen, sondern der Versuch, die Anwendung universaler Normen durchzusetzen.“ (Sakwa Seite 31, aus https://www.amazon.de/Schattenkriege-Imperiums-Das-Ukraine-Narrativ/dp/3966070146 )
4) https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8085/


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