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Die Pseudo-Demokratie

Die Pseudo-Demokratie

„Volksherrschaft“, die diesen Namen auch verdient, braucht neue Formen der Bürgerbeteiligung. Teil 1/2.

Mit dieser Haltung wird der historische Hintergrund der Demokratie aber nicht angemessen gewürdigt. Enthält er doch sowohl aufklärerische als auch antiaufklärerische Motive. Analysen, die sich nur auf das Schreckliche beziehen und sich nicht um positive Handlungsansätze bemühen, sind in ihrem aufklärenden Wert eben beschränkt. Mindestes gilt es zu unterscheiden zwischen institutionellen Strukturen und deren gegebenenfalls missbräuchlicher Nutzung.

Die folgenden zwei Themenfelder eröffnen Möglichkeiten zur Verbesserung des aktuellen Systems in Richtung direkterer Demokratie. Dass Bürger diese auch nutzen müssen, wenn von lebendiger Demokratie die Rede sein soll, versteht sich von selbst.

Volksabstimmungen — Die Realität

In Deutschland als „direkte Demokratie“ gibt es die Möglichkeit für Volksabstimmungen, und zwar auf der Gemeindeebene, in fast allen Landkreisen (außer bisher in Baden-Württemberg und Hessen) und in allen Bundesländern. Dabei kann die Bürgerschaft direkt Gesetzesentwürfe in die Landtage einbringen. Volksabstimmungen gibt es nicht auf der Bundesebene, obwohl das Grundgesetz bestimmt, dass die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird (Art. 20).

Um auf der Bundesebene Volksabstimmungen zu ermöglichen, müsste Artikel 76 GG geändert werden, weil dieser bestimmt, wer Gesetzesinitiativen in die Legislative einbringen kann — der Souverän als direkter Akteur wurde dabei leider „vergessen“. In den Länderverfassungen ist das anders, eben direkter, geregelt. Im Bundestag gab es immer wieder — fast schon erfolgreiche — Initiativen in diese Richtung. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2018 ist erstmalig eine entsprechende Absichtserklärung (Ziffer XIII 1.) enthalten. Doch das hat bisher nicht mehr als eine folgenlose Debatte im März 2019 bewirkt.

Auf der Landesebene gelten unterschiedlich hohe Quoren für das Initiieren von Abstimmungen und unterschiedlich hohe Quoren für die erforderliche Zustimmung im Fall der Durchführung. Die Beteiligungsquoren zur Zulassung einer Initiative schwanken zwischen 5 und 16 Prozent, die notwendigen Zustimmungsquoren für einen Erfolg liegen zwischen 0 und 33 Prozent. Nur in Bayern, Hessen, Hamburg, Sachsen existiert kein Zustimmungsquorum, wenn eine Initiative einmal zugelassen wurde. Dort genügt die einfache Mehrheit der Teilnehmer. Einheitlich auf allen Ebenen ist die Bestimmung, dass unmittelbar finanzielle Themen nicht Gegenstand einer Volksabstimmung sein können.

Die vorhandenen Abstimmungsmöglichkeiten wurden und werden von der Bürgerschaft genutzt, in den Ländern unterschiedlich intensiv — entsprechend den unterschiedlich hohen Hürden. Aber über die Jahrzehnte hat es in Deutschland auf Landes- und Gemeindeebene Tausende von Abstimmungen gegeben.

Auf Landesebene waren 17 Prozent aller Volksbegehren erfolgreich (2). Bekanntere Beispiele sind die kürzlich in Bayern erfolgreiche Initiative zum Naturschutz oder eine frühere Abstimmung zum Nichtraucherschutz; vor einigen Jahren fand in Baden-Württemberg trotz hoher Hürden die Abstimmung zu Stuttgart 21 statt, in Hamburg vor Jahren eine wichtige Abstimmung zur Bildungspolitik — und vieles mehr. Allerdings nehmen viele Menschen, die nicht unmittelbar betroffen sind, diese Abstimmungen oft gar nicht zur Kenntnis.

Es sind übrigens auch Abstimmungen auf Bundesebene möglich: über die Gliederung der Bundesländer. Auch diese Möglichkeit wurde ab den 1950er bis in die 1990er Jahre wahrgenommen und hat zum Teil zu neuen Bundesländern geführt, so Saarland, Baden-Württemberg, zum Teil auch zur Ablehnung von Neuordnungen in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Berlin und Brandenburg.

Nicht wenige politische Entscheidungen wurden übrigens schon im Sinn eines vermeintlichen Bürgerwillens getroffen, um „drohende“ Abstimmungen zu vermeiden.

Beispiele aus jüngerer Zeit: der Kölner Stadtrat entschied sich vor einigen Jahren gegen den Neubau eines Schauspielhauses; die 2018 neu gewählte NRW-Landesregierung für die Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums, jeweils bevor die gesammelten Unterschriften überhaupt eingereicht wurden. Für demokratisches Verhalten der Mandatsträger ist das kein Ruhmesblatt, denn abgestimmt hat der Souverän damit gerade nicht.

Ausbaufähige Tradition

Direkte Demokratie hat also auch in Deutschland Tradition, ist aber ausbaufähig. Auf Landes- und Gemeindeebene sollten die Quoren gesenkt werden. Ein Zulassungsquorum von circa 5 Prozent der stimmberechtigten Bürger mag sinnvoll sein und erfordert bereits eine breite Diskussion der Initiatoren mit ihren Mitbürgern über das Sachthema. Sobald eine Initiative jedoch zugelassen ist, sollte keine Mindestanzahl der Ja-Stimmen mehr gefordert werden. Stattdessen sollte das demokratisch legitimierte Anliegen neutral und amtlicherseits unterstützt werden, damit es bekannt wird. Es ist dann die Freiheit eines Jeden, sich zu beteiligen oder nicht.

Die direkte Abstimmungsmöglichkeit muss auf Bundesebene durch eine einfache Grundgesetzänderung und ein darauf basierendes Durchführungsgesetz geschaffen werden. Dann könnten die Bürger auch über die Gegenstände abstimmen, für die der Bund gemäß Art. 73 GG zuständig ist, also zum Beispiel zur Außenpolitik und zum Außenhandel, damit auch: zu Kriegseinsätzen und Waffenhandel! Vorschläge für eine einfache Grundgesetzänderung liegen schon lange vor (3), müssen aber weiterentwickelt werden.

Auch der seit vielen Jahren mit konkreten Vorschlägen für Abstimmungen auf Bundesebene arbeitende Verein „Mehr Demokratie“ setzt sich nicht dafür ein, dass die Bürger zum Beispiel über unmittelbar finanzielle Fragen abstimmen dürfen. Da stellt sich die Frage: Warum sollen die Bürger nicht auf allen Ebenen über alle die Vorgänge abstimmen dürfen, über die auch ihre Abgeordneten entscheiden? Dazu fehle dem Bürger die Kompetenz? Ein Blick in die Schweiz, wo dies möglich ist, beweist das Gegenteil (4). Sogar ein Blick auf das Abstimmungsverhalten „unserer“ Abgeordneten würde ausreichen, um hinsichtlich ihrer Sachkompetenz Zweifel aufkommen zu lassen.

Ebenso wichtig ist die in der öffentlichen Debatte oft fehlende Perspektive, dass Abstimmungen die legislative Parlamentsarbeit nicht ersetzen können.

Abstimmungen sind immer Ja-Nein-Entscheidungen für ein mehr oder weniger eng begrenztes Thema, das oft andere Themen beeinflusst, die nicht Gegenstand der jeweiligen Abstimmung sind. Und es ist ja keineswegs so, dass die stimmberechtigten Bürger nur eine Meinung zu einem Thema haben, die sie unmissverständlich zum Ausdruck bringen, wenn sie gefragt werden. Die Geschichte der Landwirtschaftsgesetzgebung in der Schweiz ist dafür ein schönes Beispiel (5), das zeigt, wie Abstimmungsinitiativen von Kleinbauern, Großbauern, Umweltschützern, Tierschützern et cetera keineswegs gleichgerichtet auf denselben Gegenstand eingewirkt haben, sondern ihre Positionen während Jahren und Jahrzehnten der Vermittlung bedurften.

Solche Vermittlungen müssen die Parlamentarier in Kooperation mit den Initiatoren der Abstimmung leisten. In der politischen Kultur der Schweiz sind dafür alle Seiten (noch) viel aufgeschlossener, als das bei uns (bisher) der Fall ist. Hier muss unsere oft streitverliebte politische Kultur noch viel lernen. Solche Debatten sind ein wichtiges Element der Volksbildung.

Das Ziel solcher Abstimmungen ist nicht der Sieg einer Mehrheit über eine Minderheit oder gar einer aktiven Minderheit über eine schweigende Mehrheit. Es geht nicht einmal darum, ob „der Wille des Volkes“ umgesetzt oder unterdrückt wird. Das Ziel sind Regeln und Institutionen, mit denen gerechte Vermittlungen und schließlich Entscheidungen gefunden werden können — trotz nach wie vor bestehender verschiedener Meinungen und Interessen.

Diese Möglichkeiten finden wir bereits als ein historisches Erbe vor, doch wir müssen sie nutzen und, wo sinnvoll und möglich, verbessern. Das ist unsere Aufgabe als Bürger und Souverän. Freiwillig Verantwortung für die Gestaltung des Gemeinwesens im Sinne des Gemeinwohls zu übernehmen, ist eine intellektuelle Leistung, die vor allem historische Bildung voraussetzt. Und es ist eine empathische Leistung, die Gemeinschaftsgefühl voraussetzt. Unsere Verfassungspraxis hat leider “Volksvertreter“ begünstigt, die eher andere Motive verfolgen. Deswegen zu behaupten, „unsere Demokratie“ existiere nicht mehr, ist zwar eine bequeme „Erklärung“, nicht mehr am „System“ teilzunehmen, aber dennoch grundfalsch. Das Ende ist erst dann erreicht, wenn wir das, was wir haben und weiterentwickeln können, nicht nutzen.

Die Realität von Wahlen und Parteienherrschaft

In jeder Demokratie gibt es ein direkt gewähltes Parlament als Legislative, in föderalen Systemen sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene. Hier bestimmen die Abgeordneten der Bürgerschaft die Gesetzgebung. Auch wenn dazu direkte Abstimmungsmöglichkeiten der Bürgerschaft möglich sind: eine eigenständige Legislative ist immer notwendig, auch in der Schweiz.

Wünschenswert wäre, wenn von diesem direkt gewählten Parlament aus auch die Exekutive gewählt werden würde und diese dem Parlament verantwortlich wäre — das ist in Deutschland, anders als in anderen Demokratien, der Fall. In Frankreich und USA ist der Präsident zwar abhängig vom Parlament, wird aber nicht von ihm gewählt. Im United Kingdom bleiben die Minister (Exekutive) zugleich Parlamentarier (Legislative). Andere Länder, andere Sitten. Ebenso wünschenswert wäre es, wenn vom direkt gewählten Parlament aus auch die Judikative bestimmt werden würde — das ist in Deutschland nicht der Fall, jedoch in vielen anderen Demokratien, zum Beispiel in Spanien und Italien. Bei uns unterstehen die Richter der Dienstaufsicht der Minister (Exekutive) und werden auch von diesen ernannt.

Jeder Wähler hat in Deutschland auf Bundesebene und den meisten Landesebenen zwei Stimmen: Mit der ersten wählt er eine Person, die gemäß Mehrheitswahlrecht gewählt wird, mit der zweiten eine Partei, mit der ein Proporz auch als Minderheitenschutz hergestellt wird. Bei reinem Mehrheitswahlrecht bleiben große Teile der unterlegenen stimmberechtigten Bürger, die sogar eine Mehrheit bilden können, politisch nicht vertreten. Ein reines Parteienproporzsystem gibt dagegen den Parteien eine Macht, die ihnen nicht zusteht, so sollte die Idee der Erststimme ein gutes Korrektiv zu einer Parteienoligarchie bilden.

Leider hat man den Parteien im Lauf der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dennoch das Recht zugestanden, den Bürgerwillen fast ausschließlich zu repräsentieren.

Maßgeblich daran beteiligt war Gerhard Leibholz, ein Schüler Carl Schmitts, der 20 Jahre lang am Bundesverfassungsgericht durch seine Urteile die deutsche Demokratie von einer Bürger-Souveränität in Richtung eines Parteien-Repräsentationssystems gelenkt hat (6). Den Begriff „Repräsentation“ kennt das Grundgesetz übrigens an keiner Stelle.

Die Erststimmenkandidaten sind heute fast immer Parteikandidaten, abgesichert auf ihren Landeslisten. Sie kommen auf jeden Fall ins Parlament, wenn die Partei ins Parlament kommt. Wie sich der Bundestag und viele Landtage zusammensetzen, ergibt sich aus dem Proporzverhältnissen der Zweitstimme. Bei „überhängenden“ Erststimmen-Abgeordneten erhalten andere Parteien zusätzliche Ausgleichsmandate. Damit ist die Persönlichkeitswahl faktisch ausgehebelt; auch die Aufstellung und Auswahl der Kandidaten erfolgt ja durch die Parteien. Zurzeit sitzen durch diese „Glättung“ im Bundestag nicht 598 Abgeordnete sondern 709. Diese Regelungen entstammen nicht dem Grundgesetz, sondern späteren Entscheidungen zum Wahlrecht.

Manche Initiativen setzen sich dafür ein, parteiunabhängige Bürgerkandidaten aufzustellen (7). Unser Wahlgesetz lässt das sogar ziemlich einfach zu: ein Kandidat muss dafür 200 Unterschriften aus seinem Wahlkreis sammeln, erhält aber im Unterschied zu den Parteien keine öffentliche Unterstützung. Die Parteien hingegen werden massiv unterstützt durch öffentliche Finanzierung, sie erhalten Privilegien in den Parlamenten durch einen Fraktionsstatus, werden bei der Besetzung wichtiger öffentlicher Ämter bevorzugt et cetera.

Parteiunabhängige Direktkandidaten hat es zwar immer wieder gegeben; in das Bundesparlament gewählt wurde seit 1950 aber niemand. Bei der Bundestagswahl 2017 hat der erfolgreichste parteiunabhängige Direktkandidat — immerhin — 9 Prozent der Stimmen seines Wahlkreises bekommen. Andere blieben unter 1 Prozent (7).

Die Parteien finanzieren sich nicht nur durch Mitgliederbeiträge und Spenden. Sie bekommen für jeden Euro Beitrag oder Spende zusätzlich 0,38 Euro vom Staat. Sofern sie bei Wahlen mindestens 0,5 Prozent der Stimmen erreichen, erhalten sie pro Stimme noch zusätzlich 0,70 Euro vom Staat (8). Die Parteien müssen ihre Einnahmen offen legen, was auch geschieht; schließlich erhalten sie ja Geld aus Steuermitteln!

Mit einiger Mühe kann jeder Bürger sogar nachverfolgen, wie sich die Parteien finanzieren. Ab einer Mindestmenge von drei Abgeordneten können die Parteien in den Parlamenten Fraktionen bilden. Dadurch genießen sie besseren Zugang zu Informationen und Entscheidungsgremien. Das alles sind Privilegien, von denen das Grundgesetz nichts weiß. Von einem „Fraktionszwang“ weiß es schon gar nichts; diesen gibt es nicht (Art. 38 GG), auch wenn die meisten Abgeordneten sich aus Karrieregründen so verhalten, als gäbe es ihn.

Einige Perspektiven zur gegenwärtigen Situation

Aus diesen kurzen Beschreibungen ergeben sich Ansatzpunkte, wie parteiunabhängige Kandidaten unterstützt werden können und die Parteienmacht auf das vom Grundgesetz Gewollte beschränkt werden kann: „Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ (Art. 21). Das ist alles. Kein Gedanke daran, dass die Parteien sämtliche Staatsfunktionen an sich reißen, wie wir es in Deutschland erleben.

Zweifellos haben Parteien eine Existenzberechtigung, denn sie können verschiedene Interessengruppen bündeln und vertreten. Über Mandatsverteilung nach Parteiproporzen ist auch ein Minderheitenschutz möglich, den es bei reinen Mehrheitsentscheidungen kaum geben kann. Unabhängig davon kann nicht das gesamte politische Geschehen ausschließlich in Parteihänden liegen, was praktisch ja bedeutet: in die Hände von einigen Parteiführern. Das ist einer souveränen Bürgerschaft unwürdig und vom Grundgesetz so nicht gewollt. Was also tun?

Wozu müssen Parteien noch Steuergelder erhalten? Sie erhalten doch die Mitgliedsbeiträge und Spenden, die unbedingt transparent bleiben müssen!

Ja, ohne die Steuergelder wären die Parteien ärmer. Vielleicht hätten sie dann bei Wahlkämpfen kein Geld mehr für quadratkilometerweise nichtssagende Plakate und ebensolche Werbespots in Fernsehen und Rundfunk. Die Welt wäre damit nicht ärmer. Warum soll man solche Verschwendung nicht finanziell austrocknen oder verbieten? Tabakreklame konnte ja auch verboten werden.

Mit dem gesparten Geld könnte der Staat das unterstützen, was unser Wahlrecht eigentlich will: eine gleichrangige Persönlichkeitswahl neben der Parteienwahl. Man könnte in jedem Wahlkreis zumindest zeitweise ein Büro einrichten, in dem vor allem parteiunabhängige oder generell Erststimmen-Kandidaten mit einer Mindestunterstützerzahl sich persönlich vorstellen, Mitbürgern und Wählern Rede und Antwort stehen. Man könnte eine offizielle bundesweite Plattform einrichten, auf der diese Kandidaten sich und ihre politischen Vorstellungen für jedermann sichtbar darstellen können.

Vor allem sollte verboten werden, dass Erststimmenkandidaten auf einer Parteiliste abgesichert sind; für den Parteierfolg gibt es ja die Zweitstimme. Die Persönlichkeit soll überzeugen, nicht die Zelle eines Parteikörpers. Es könnten immer noch Parteikandidaten mit der Erststimme gewählt werden und damit das Gewicht der größeren Parteien stärken, wenn zugleich -logischerweise- die Ausgleichsmandate abgeschafft werden. Man könnte übrigens auch negative Ausgleichsmandate schaffen und die Parteistimmen in dem Maß reduzieren, wie parteigebundene Erststimmenkandidaten gewählt wurden! Warum nicht? Diese Überlegungen beziehen sich ebenso auf den Bundestag wie auf ähnlich strukturierte Landesparlamente. Das wäre doch ein Anliegen für eine Volksabstimmung.

Würde der Staat Erststimmenkandidaten unterstützen und die Steuermittel für die Parteien verringern, bestünde die Chance, dass mehr engagierte, sachorientierte Bürger gewählt werden. Diese müssten dann nicht die Ochsentour durch eine Partei auf sich nehmen. Denn nur zu oft bleibt dabei ihre einstige Sachorientierung auf der Strecke oder wird parteipolitisch „gerade gebogen“.

Weitere Vorschläge: In den Parlamenten darf es keine Fraktionsprivilegierung geben. Jeder einzelne Abgeordnete muss gleichen Zugang zu allen Informationen und Entscheidungsebenen haben. Und die willkürliche 5 Prozent Klausel sollte gesenkt werden. Damit gehen Millionen Stimmen für kleinere Parteien verloren. Ein Erststimmenkandidat vertritt circa 200.000 Bürger seines Wahlkreises. Nimmt man diese Zahl als Maßstab, wäre eine 0,5 Prozent Klausel eher demokratisch gerecht.

Das Parlament muss wieder ein Ort für Debatten über die Gesetzgebung im Interesse des Gemeinwohls werden. Dagegen steht sicher nicht das Grundgesetz, sondern zum Beispiel die Selbstentmachtung der Bundestagsabgeordneten zugunsten der EU-Exekutive durch den nach der Wiedervereinigung geänderten Artikel 23 GG (9). Auch ein grundsätzlicher Parteienkonsens steht dagegen, der oft nur noch hoch gepuschte Scheindebatten über Details zulässt. Dagegen steht nicht zuletzt auch die in den 1990er Jahren eingeführte Praxis eines Koalitionsvertrages, in dem die Koalitionsparteien ihr Regierungshandeln — auch bezüglich der Gesetzgebung — für vier Jahre festlegen. Parlamentsdebatten werden damit dank den regierungstreuen Fraktionsmehrheiten zur Nebensache.

Trotz allem: Das Parlament muss der demokratisch gewählte Ort der Auseinandersetzung über die souveräne Gesetzgebung sein. Diese darf nicht den Parteiführern und schließlich den Exekutiven überlassen werden. Ergänzt werden muss dies dadurch, dass Volksabstimmungen erleichtert werden und zwar zu allen Themen, die der Souverän beziehungsweise ein nennenswerter Teil von ihm zur legislativen Abstimmung stellen möchte.

Ein typischer Einwand gegen diese Idee lautet: Wer soll das beschließen? Die Beschlussgremien sind doch fest in Hand der Parteien. Richtig. Aber was für eine Alternative haben wir? Sollen wir hinterm Ofen sitzen bleiben? Ohne Ideen bleibt leider alles beim Alten. Wollen wir das?

Die hier angedeuteten Vorschläge sind als Diskussionsbasis zu verstehen, aber eben: als Aufforderung, sich über konstruktive Perspektiven überhaupt Gedanken zu machen.

Zu diesem Thema folgt ein zweiter Teil, der den Föderalismus und die Gemeinde näher beleuchtet.


Quellen und Anmerkungen:

(1) z. B.: Rainer Mausfeld: Phänomene eines „Tiefen Staates“ als Erscheinungsbild des autoritären Kapitalismus, in: Mies, Wernicke (Hrsg.): Fassadendemokratie und tiefer Staat, Wien 2017 sowie
https://www.heise.de/tp/features/Wir-leben-in-einer-Zeit-der-Gegenaufklaerung-4178715.html?seite=all und https://seniora.org/wunsch-nach-frieden/der-wunsch-nach-frieden/rainer-mausfeld-zu-den-gelbwesten-neoliberalismus-migration-und-elitendemokratie und
http://www.free21.org/das-modell-elitendemokratie-ist-historisch-verheerend-gescheitert/
(2) Wolfgang Rudzio: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2019, Seite 295
(3) https://www.mehr-demokratie.de/gesetzentwurf/
(4) Werner Wüthrich: http://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2017/nr-2728-7-november-2017/steuern-und-finanzen-in-der-schweiz-vom-volk-bestimmt.html
(5) Werner Wüthrich: http://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2017/2223-12-september-2017/landwirtschaft-und-direkte-demokratie-teil-4.html
(6) Karl Albrecht Schachtschneider: Die nationale Option, Rottenburg 2017, S. 72 f
(7) http://buergerkandidaten.de/ und http://buergerkandidaten.de/bewerbungen/472
(8) Wolfgang Rudzio: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2019, Seite 142 ff
(9) Christian Fischer: https://zeitgeist-online.de/exklusivonline/nachdenkliches-und-schoengeistiges/1040-demokratie-braucht-nation.html


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